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An den Wasserfall hatte gewiß niemand gedacht, wenn von dem Grab des weißen Königs die Rede war.
Aber nun war er auf einmal ungemein wichtig geworden, und was ich auch sagen mochte, sie wollten den Hinweis wenigstens nicht ununtersucht lassen.
Der Fall kam in einem Sprung von etwa zehn Meter über die Felswand herab, in einem schönen Bogen, der in einem Becken von Stein endigte, und stürzte dann in breitem Strom noch zwei Meter tiefer, und da war es, wo ihn die Technik einfing.
Richard kroch vor allem die Umgebung ab. Nach zwei Stunden kehrte er zurück und brachte eine neue Vermutung mit. »Der Wasserfall ist nicht immer hier heruntergekommen«, sagte er, »der Bach ist früher dort drüben durch die kleine Schlucht geflossen.«
»Nun und –?« fragte ich.
»Man hat ihn abgeleitet, selbstverständlich!« entgegnete er mit unsäglicher Verachtung meiner geistigen Minderwertigkeit. »Abgeleitet ... einen neuen Weg gewiesen. Hast du das erfaßt?«
Paul stand vor dem Sturz und überlegte. »Ich glaube«, sagte er, »man kann zwischen dem Felsen und dem Fall hindurch.«
Ehe ihn jemand hindern konnte, watete er schon durch das Becken und tauchte hinter dem dicken, tosenden Wasservorhang unter. Er kam auf der andern Seite zum Vorschein, tropfnaß wie ein Triton, aber der Beweis war erbracht, daß man wirklich hinter dem Wasserfall durchgehen konnte.
»Hast du was gesehen?« fragte Thea.
»Nicht möglich. Man kann die Augen nicht aufmachen.«
»Die Frage bleibt offen –«, kam Richard auf seine Entdeckung zurück, »warum sie den Fall abgeleitet haben?«
»Es ist keine Frage«, erwiderte Paul mit voller Bestimmtheit.
Dann gingen sie den Wasserfall an, bemächtigten sich seiner, zogen oben aus der Felswand Gräben und Dämme, und nach fünf Tagen floß der Bach wieder durch die kleine Schlucht im Osten, und wir hatten kein elektrisches Licht und keine elektrische Kraft mehr.
Wir standen vor einer glatten Felswand, und Paul stocherte und hämmerte daran herum. Sie war aus einem graugrünen Stein aufgebaut, scheinbar demselben wie der des Kügelchens, das den Weg hierher gewiesen hatte. Unregelmäßige Einsprünge eines anderen Gesteins, das aussah wie Quarz, überzog ihn mit einem Netz von Adern, das sich an einzelnen Stellen zu unregelmäßigen Zeichnungen verschlang, die eine starke Phantasie als Gesichter, Blumen und Vögel auslegen konnte.
Paul war mit seiner Weisheit wieder am Ende.
Er stand vor der Felswand und glotzte sie an, verbissen, hartnäckig, mit mühsam verhaltenem Zorn, aufkeimender Raserei.
»Machen Sie endlich Ihren Einfluß geltend«, sagte ich zu Thea, »er ist imstande, sich an dieser Wand den Schädel einzurennen.«
»Ich glaube fast selber«, sagte Thea mutlos, »daß es Zeit wird, ihn wegzubringen. Drei Tage will ich noch warten.«
Es war, als wüßte Paul, daß eine Verschwörung im Gange war, die ihm nur mehr wenig Zeit ließ. Er stand, überlegte, hämmerte, klopfte, kletterte an dem Felsen herum, ließ sich an Seilen von oben herunter und brütete dann wieder in stumpfer Verzweiflung vor der unerschließbaren Wand.
»Morgen wollen wir sie sprengen«, sagte er am zweiten von Theas drei Wartetagen.
»Er ist irrsinnig geworden«, stellte Richard fest, »sollen wir die Tobsucht zum Ausbruch kommen lassen? Es ist um Theas willen –«
»Was willst du tun?« Er wußte nicht, was er tun wollte. Aber ich wußte, was er gern getan hätte. Seine Verstörtheit, die kaum mehr bezwungene Leidenschaft, die alles in ihm unterwühlt hatte, ließen bei ihm das Schlimmste befürchten, nicht anders als bei Paul. Er hätte wohl Thea anfallen mögen wie ein Raubtier, sie in das Dunkel der Urwälder verschleppen oder in eine Felsenwildnis, um sie dort mit seiner Liebe zu zerfleischen, und die Hemmungen, die diesem verlangen entgegenstanden, waren so schwach und dünn geworden, daß sie jeden Augenblick bersten konnten. Es war wirklich höchste Zeit, Schluß zu machen, hier, wo alles aus rätselhafte Weise so über das Vernünftige hinaus auf die Spitze getrieben wurde, wie die Natur in Grausamkeit, Üppigkeit, Wildheit und Wollust alles auf die Spitze trieb.
Aber dann kam Theas dritter Tag, und mein Tagebuch verzeichnet ihn als den siebenten Juli, an dem sich folgendes zutrug.
Paul stand vor der Felswand, und ich saß mit Enrico und meinem schon fast wieder zur regelrechten Hundlichkeit entfetteten Tlaloc unweit von ihm auf einem Stein. Wir hatten ausgemacht, daß wir Paul nicht mehr aus den Augen lassen wollten, und ich hatte eben die Wache.
Nachdem Paul wohl eine Stunde unbeweglich dagestanden hatte, begann er auf einmal einen seltsamen Tanz. Er sprang nach links und rechts, bog den Kopf auf die Schultern, machte die absonderlichsten Verrenkungen, und dann geschah das Merkwürdigste. Paul kehrte der Felswand den Rücken und steckte den Kopf zwischen die Beine.
»Nun ist er endgültig verrückt geworden«, dachte ich und stand auf.
Aber Paul fuhr in die Höhe, krebsrot im Gesicht, stieß ein gurgelndes Geheul aus und lief mit einem schweren Hammer, den er vom Boden aufraffte, auf den Felsen zu.
Ich war schon bei ihm und packte ihn: »Was hast du?«
»Auslassen!« brüllte er und gab mir einen Stoß, um den ihn ein Preisboxer hätte beneiden können, »das da, das ist die Hieroglyphe Quetzalcoatl, dieselbe wie auf dem Bauch des Jaguars ... verkehrt natürlich ... verstehst du?«
Er schwang den Hammer und schlug gegen eine Stelle los, an der das weiße Adernetz zu einer der verworrenen Zeichnungen verschlungen war. Ich halte es für keine Schande, zu gestehen, daß ich trotz der in meinen Artikeln dargetanen Sachkenntnisse in der mexikanischen Archäologie aus diesem Knäuel von Linien weder die Hieroglyphe Quetzalcoatl noch ihre Beziehungen zum Bauch des Jaguars festzustellen vermocht hätte. War doch auch Paul genötigt gewesen, zuvor den Kopf zwischen die Beine zu stecken. Und ich habe in meinem Tagebuch dazu die Anmerkung gemacht, daß sich auch sonst manche Rätsel vielleicht leichter lösen lassen, wenn man sie verkehrt betrachtet.
Paul hatte inzwischen drei wackere Streiche geführt, und nach dem dritten gab es einen Krach, und die Hieroglyphe Quetzalcoatl brach auseinander, Trümmer fielen herab, und in der Wand entstand ein Loch von der Größe eines Kinderkopfes. Und kaum war dies geschehen, so gab es ein feines Klingen wie von zerspringendem Glas, und das Klingen lies durch den ganzen Felsen, das Netz der Adern entlang, und da und dort bröckelten Splitter heraus und fielen uns zu Füßen.
»O ich Rindvieh!« sagte Paul, indem er den Hammer sinken ließ.
Und damit schien ihm bis auf weiteres die Vernunft wiedergekehrt zu sein.
Ich habe mir später erklären lassen, die Adern, die wir für Quarz gehalten hatten, seien nichts anderes gewesen als ein geschmolzener Stein, Obsidian oder etwas dergleichen, eine Art Glas, das in flüssigem Zustand zwischen die Fugen der Felsblöcke gegossen worden war und sich mit ihnen fest verbunden hatte. Und die alten Mayas oder Zapoteken, oder wer schon immer, hatten es so kunstvoll einzurichten verstanden, daß es nur eine einzige Stelle gab, die man herausfinden mußte, um das ganze Gefüge zum Zersplittern zu bringen. Etwa so wie bei manchen italienischen Kunstgläsern, die in Staub zerfallen, wenn man ihnen die Spitze abbricht. Die Hieroglyphe war diese Spitze.
Jedenfalls konnte man jetzt die Glassplitter mit den Fingern aus den Fugen nehmen, und es zeigte sich, daß die Felswand aus aufeinandergetürmten Blöcken bestand. Paul machte selbstverständlich sogleich mit meiner Hilfe den Versuch, einzudringen, aber die Blöcke waren so groß und schwer, daß hier für zwei Leute allein nichts zu unternehmen war. Ich übernahm es für Paul und trug die frohe Botschaft zu den Unseren. Thea sprang von der Schreibmaschine auf und lief schon, und hinter ihr setzte sich Richard in Bewegung. Als sie bei Paul ankam, war das erste, was sie tun wollte, ihm um den Hals zu fallen. Aber mitten im Schwung hielt sie inne, wie von einer leichten Verlegenheit beirrt, und ließ es bei einem kräftigen Händedruck sein Bewenden haben.
»Paul! Paul!« sagte sie atemlos, »also doch!«
Es war mir längst aufgefallen, daß sie die frühere harmlos-heitere Betonung ihrer Zärtlichkeit für Paul vor uns aufgegeben hatte. Es war ganz gewiß kein Kälterwerden ihres Gefühls, sondern vielmehr eine leise Scheu, die es in tiefere Seelenschichten bannte. Daß sie aber auch in diesem Augenblick der Erfüllung Selbstbeherrschung übte, bewies mir, wie richtig meine Beobachtung war: sie mochte wohl etwas von dem erraten haben, was in Richard vorging, und es wäre auch geradezu ein Wunder gewesen, wenn sie als Frau die Flammen in seinen Augen nicht verstanden hätte.
Paul aber, der auch unter anderen Umständen von all diesen Vorgängen nichts gemerkt hätte, war in dieser Stunde noch unfähiger dazu als sonst. Er war gewiß derzeit der glücklichste aller Menschen, und nichts konnte seinen Triumph erschüttern, nicht einmal der Zweifel, den Richard aussprach.
Merkwürdig genug, daß Richard, der bisher so eifrig im Suchen gewesen war, mit einemmal, jetzt an der Schwelle des Erfolges, mißgünstig abzuschwenken schien.
»Damit ist noch immer nicht gesagt«, bemerkte er säuerlich, »daß dahinter auch wirklich das Grab deines Quetzalcoatl ist.«
»Diesmal haben wir ihn«, posaunte Paul strahlend, »es ist eine Hieroglyphe, die beiläufig bedeutet: Die grüne Federschlange ruhend im Stein. Umgekehrt! Verstehst du! Weil er nicht in den Himmel aufgefahren ist, um nicht mehr wiederzukehren, sondern in die Unterwelt gegangen, um dereinst wieder aufzutauchen. Es ist so deutlich, wie man es nur wünschen kann.«
»Wir werden sehen«, murmelte Richard, »wir werden sehen.«
Wir verloren keine Zelt und holten die Arbeiter. Sie standen betroffen und sichtlich unangenehm berührt vor Pauls Entdeckung, und es bedurfte eines eindringlichen Befehls von Thea, um sie zu bewegen, daß sie Hand anlegten.
An diesem Tage kamen wir nicht weit. Ehe auch nur einer der Blöcke aus einer Lage gehoben war, brach die Nacht ein, und nicht einmal Thea konnte es durchsetzen, daß unsere Leute bei Fackelschein weiterarbeiteten. Sie nahmen die Haltung gekränkter Hidalgos an, machten kavaliermäßige Verbeugungen, aber Murillo blieb als ihr Wortführer bei der Weigerung.
Wenn wir noch die Beleuchtung hätten – vielleicht. Aber bei dieser Finsternis –! Sie hatten offenbar Angst vor der Dunkelheit.
An diesem Abend sah übrigens Richard zum erstenmal die Indianerin.
Wir gingen miteinander heim, und als wir in genügender Entfernung von den anderen waren, legte ich Richard die Hand auf die Schulter.
»Ich bitte dich«, sagte ich, »nimm dich zusammen.«
»Was willst du?« knurrte er.
»Du weißt, was ich meine. Es ist doch eine hoffnungslose Sache. Das mußt du einsehen. Sie ist Pauls Braut, und er ist dein Freund.«
Er warf unwillig meine Hand von feiner Schulter. »Ich habe in meinem Leben immer Schiffbruch gelitten ... ach was, ich weiß, was du sagen willst ... meine Millionen! Als ob es darauf ankäme! Da drinnen bin ich arm und nackt wie ein Bettler. Aber vor meinem Ende will ich noch einmal wissen ...«
Er verstummte plötzlich, drängte mich keuchend auf die andere Seite des Weges und schien angestrengt in die Nacht zu starren: »Siehst du sie?« fragte er erregt.
»Wen denn?«
»Die Frau dort drüben ... die Indianerin?«
Ich konnte keine Frau entdecken, sah nichts als die zusammengeballten Schattenklumpen der Wildnis, die sich an den Weg herandrängten. Ich versuchte die Finsternis mit meinem Blick zu durchdringen, in dem Bestreben, das unheimliche Gefühl abzutun, mit dem mich Richard offenbar angesteckt hatte.
»Nichts!« sagte ich.
»Sie ist fort!« flüsterte Richard. Er zog mich hastig weiter, aber er schaute sich noch einige Male um, als besorge er, es könnte uns jemand nachschleichen. Es kam auch wirklich jemand, aber das war Señor Enrico, der vorhin zurückgeblieben war, und dann wedelte mir etwas vor den Füßen und sprang gegen mein Knie, mein Hund Tlaloc, und ich war ganz froh über die Zutraulichkeit dieses kleinen, mir geweihten Lebens.