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Wir suchten bis Mitternacht den Wald nach der Mumie des weißen Königs ab. Sie war nicht zu finden, und ich will gleich erwähnen, daß sie später nicht gefunden wurde, als wir nach den folgenden Ereignissen wieder daran denken konnten, unsere Nachforschungen aufzunehmen.
Was der Jaguar oder der Domingo mit ihr gemacht haben mag, blieb für alle Zeiten unaufgeklärt, vielleicht hat er sie in eine unzugängliche Schlucht verschleppt oder zerrissen und die Stücke vergraben, ich wage diese Frage nicht zu entscheiden, und es kommt auch auf diesen einen Punkt nicht weiter an, wo es so vieles gibt, das im Dunkeln bleiben muß.
Von Pauls Gebrochenheit auch nur eine annähernde Vorstellung zu geben, muß ich mir versagen. Das Elend Laokoons, Niobes, Ödipus', Antigones und noch eines halben Dutzends tragischer Jammergestalten der Weltliteratur aufeinandergetürmt, wäre hinter dem seinen zurückgeblieben, als er vor dem Sarkophag stand, in dem sich der Leichnam Quetzalcoatls befunden hatte. Der Sarg war leer, die Mumie fort, und der Jaguar hatte nicht versäumt, auch das Schwert und den Schild mitzunehmen, die gewiß für jede andere Art von Jaguar als eben diesen ohne weiteren Belang gewesen wären.
Die wissenschaftliche Hypothese Dr. Paul Rosters war einwandfrei nachgewiesen und durch genaue Beschreibungen und Bildaufnahmen bestätigt, aber das Beweisstück selbst war verloren, und man wird es verstehen, daß Paul bei dem geradezu persönlichen Verhältnis zwischen ihm und dieser Mumie sich vor Schmerz nicht zu fassen wußte.
Er war trostlos und taub für unsere Bemühungen, ihm diesen Verlust als eine Art Ausgleich für die glückliche Rettung Theas begreiflich zu machen, und Thea selbst war weit davon entfernt, es ihm übelzunehmen, daß er sich weigerte, diesen Zusammenhang anzuerkennen. Wir mußten schließlich beinahe Gewalt anwenden, um ihn aus dem Grab heraus- und wieder heimzubringen.
Da wir die meisten Räume unseren Gästen abgetreten hatten, schliefen Richard und ich in einer kleinen Kammer. Sie lag gerade unterhalb von Theas Zimmer, und wir hörten Paul noch stundenlang über uns herumgehen und in aufgeregtem Ton sein Schicksal beklagen. Diese Quetzalcoatls und Votans und Tezcatlipocas und Jaguare, die er da durcheinander brachte, wurden uns endlich doch zu bunt, und Richard sagte, nachdem er sich lange schlaflos herumgeworfen hatte: »Jetzt gebe ich ihm eine Viertelstunde Zeit, dann gehe ich hinauf und werde grob.«
»Wenn er uns nicht doch noch am Ende überschnappt«, wandte ich besorgt ein, »es ist wohl am besten, wir überlassen es Thea, ihn zu beruhigen.«
Das Schicksal hielt indessen ein noch weit wirksameres Mittel bereit als Richards Grobheit oder Theas liebevollen Zuspruch. Es war eine Roßkur, aber sie sollte helfen.
Die Viertelstunde verstrich, und Richard schien eben im Begriff, es trotz meines Einwandes doch mit der Grobheit zu versuchen, als plötzlich ein Schuß fiel. Ein zweiter folgte, und dann knatterte es auf allen Seiten los, eine Handvoll Erbsen nach der anderen, von Riesen gegen eine hölzerne Wand geworfen. Eine Trompete schrie auf und brach mit einem gellenden Mißton ab, im Haus begann es zu poltern, die dünnen Bretterböden knackten unter eiligen Tritten, Stimmen riefen einander zu, und dazwischen krachten die Schüsse in immer rascherer Folge.
Wir lagen im Fenster, sahen Leute mit Gewehren wirr und planlos im Morgengrauen herumlaufen, »Hallo, Antonio!« rief Richard, als er Madero zu Gesicht bekam, der eben vorbeirannte. »Was gibt's?«
»Ich weiß nicht«, schrie Antonio zurück, »der Feind –«
Wenn es der Feind war, dann schien es ihm ja gelungen zu sein, Quiroga und die Seinen recht unangenehm zu überraschen. Wir zogen uns eilig an und öffneten die Tür, der Generalstab lief an uns vorbei, die Stufen hinab, zum Haus hinaus, um auf der Straße sogleich von der allgemeinen Verwirrung und Kopflosigkeit mitgerissen zu werden. Reiter sausten vorbei, und eine der Haubitzen rasselte heran, aber gerade vor unserem Haus besann sich die Bemannung auf der Tapferkeit besseres Teil. Sie hieb die Stränge durch und ließ die vorsintflutliche Feuerspritze mitten im Gedränge stehen.
Und dann kam Quiroga selbst, aber keineswegs im Glanz seiner sonstigen Glorie, sondern höchst mangelhaft gekleidet, einen Arm hatte er in der Jacke, die schlotternden roten Hosen hielt er mit einer Hand fest, die goldenen Verschnürungen und etliches Riemenzeug schleiften in einem kläglichen Wirrsal nach, und die Unterwäsche, die sich bei all dem unseren Blicken darbot, war Grau in Grau getönt, wie der Anbruch dieses kriegerischen Tages. In dieser Hinsicht waren wohl alle politischen Parteien dieses Landes gleicher Farbe.
»Excelencia!« rief Richard, »was gibt's?«
Aber Quiroga nahm sich nicht die Zeit zu einer Antwort, er hatte es ungemein eilig, sprang vor das Haus und brüllte: »Mein Pferd! Mein Pferd!« Und da sich kein Pferdebursche mit dem diesbezüglichen Schlachtroß zeigen wollte, fiel Quiroga einen vorbeikommenden Reiter an, und es gelang ihm, den Mann nach einem wütenden Handgemenge aus dem Sattel zu werfen. Dann ließ er die widerspenstigen roten Hosen von den Beinen gleiten, sprang in den Sattel und stob davon, und das war das letzte, was wir von der Excelencia zu sehen bekamen.
Als wir in Theas Zimmer traten, machte sie ihre großen, verwunderten Augen.
»Es hat den Anschein«, beantwortete Richard die stumme Frage, »als ob da Krieg geführt würde. Ein Überfall wahrscheinlich. Es können die Regierungstruppen sein oder Tezozomoc, oder vielleicht hat inzwischen noch ein drittes Pronunciamiento stattgefunden. Auf jeden Fall handelt es sich um die Freiheit des Vaterlandes.«
Ich sah unschlüssig auf mein Gewehr herab, daß ich unwillkürlich an mich genommen hatte.
»Nein«, sagte Richard, »ich sehe gar keinen Anlaß, uns in diese Auseinandersetzung einzumischen. Wir sind desinteressiert und erklären uns neutral. Ich bin für völkerrechtliche Korrektheit.«
Die ganze Schießerei dauerte knapp eine Stunde, dann wurde es klar, daß der Überfall geglückt war. Zuerst sahen wir Flüchtlinge vorbeikommen, die nach allen Richtungen durcheinander liefen, dann zeigten sich Verwundete, und einer von ihnen, der ein durchschossenes Bein hatte, humpelte heran, setzte sich auf die Stufen vor unserer Veranda und begann eilig das grün-weiß-grüne Band von seinem Strohhut zu trennen.
»– Aha!« sagte Richard, »Quirogas Farben werden niedergeholt.«
Und dann dauerte es nicht lange bis zum Einzug der Sieger. Es kam ein Trupp von Leuten die Straße herab und machte gerade unserem Hause gegenüber halt. Sie sahen genau so schmierig und verwahrlost aus wie ihre Gegner, genau so barfüßig und zerlumpt, nur daß sie statt der grün-weiß-grünen Bänder und Rosetten rot-weiß-gelbe hatten.
»Ich glaube, es sind die Farben Tezozomocs«, erwog Richard, und dann packte er meinen Arm. »Dort kommt er! Es ist Tezozomoc.«
»Und Señor Herrera.«
»Und dieser Señor Hernandez, der damals bei dem Überfall auf den Zug dabei gewesen ist.«
»Und Mister Forst!« sagte ich, als dieser hinter den anderen Reitern zum Vorschein kam, gleichfalls hoch zu Roß, als gehöre er zu den Siegern.
»Es ist sogar eine Dame dabei!« ergänzte Richard.
Es fiel mir erst jetzt auf, daß Mister Forst, gleich nachdem wir den Tod Domingos festgestellt hatten, verschwunden war, und wenn ich die Umstände zusammenhielt, so lag die Vermutung nahe, daß er – aus vorläufig unerkennbaren Gründen – an dem gelungenen Handstreich nicht unbeteiligt gewesen sein mochte.
Was aber die Dame anlangte, so unterlag es wohl keinem Zweifel, wen wir in ihr vor uns hatten: die eifrige Parteigängerin Tezozomocs, die Siegesgöttin seiner Erhebung, den ausgehenden Stern am Kunsthimmel.
»Es ist Martha Mirar«, sagte ich mit aller Bestimmtheit, obwohl ihr Gesicht durch den breiten Rand des Strohhutes beschattet war. Niemand anderes als sie konnte so amazonenhaft stattlich im Sattel sitzen und ein Cowboykostüm mit so viel herausfordernder Anmut tragen.
»Ich denke«, sagte Richard heiter, »der Anstand gebietet es, daß wir den Sieger begeistert begrüßen. Bernhard und ich wollen ihm die Schlüssel der Stadt Mitla überbringen.«
Als wir das Haus verlassen wollten, nahmen einige Strolche, die inzwischen die Veranda besetzt hatten, ihre Gewehre gegen uns hoch.
Aber auf einen Kommandoruf Tezozomocs senkten sich die Läufe, und die Kerle gaben uns den Weg frei.
Tezozomoc zeigte uns ein unheilkündend wetterumwölktes, grimmig finsteres Gesicht.
»Wir kommen«, begann Richard mit unentwegter Unbefangenheit, »um Sie im Namen der Freiheit des Vaterlandes zu beglückwünschen und –«
»Ich verlange von Ihnen keine Redensarten«, unterbrach ihn Tezozomoc ingrimmig, »Sie haben sich als unsere Gefangenen zu betrachten.«
»Sie befinden sich im Irrtum«, erwiderte Richard unzerstörbar liebenswürdig, »Ihre Auffassung –« Er verstummte plötzlich, als drossele ihm eine unsichtbare Faust die Kehle zu. Martha Mirar war aus dem Sattel geglitten, und diese Bewegung war es wohl gewesen, die Richards Blick auf sie gelenkt hatte, da stand sie nun neben ihrem Pferd, hatte die Beine zierlich gekreuzt, stützte sich mit dem einen Ellenbogen unnachahmlich graziös gegen den Hals des Pferdes und ließ uns das holdseligste Lächeln sehen, als stehe der Mann mit dem Kurbelkasten in Bereitschaft. Die Morgensonne fiel voll auf ihr betörendes Antlitz, und da stand Richard ihr gegenüber und starrte sie an wie ein Meerwunder.
Das dauerte so eine geraume Weile, dann glaubte ich einen Laut von Richards Lippen zu hören und beugte mich vor.
»Heli!« flüsterte Richard.
Heli? Wieso Heli? Es war doch Martha Mirar, der aufgehende Stern, die rot-weiß-gelbe Siegesgöttin.
»Meine Frau!« flüsterte Richard noch einmal.
Martha Mirar löste die bestrickende Amazonenhaltung auf und trat zu Tezozomocs Pferd heran. »Ich bitte Sie, Excelencia«, sagte sie mit einem wonnesamen Augenaufschlag, »mir eine Unterredung mit diesem Señor zu gestatten.«
Es war ein Augenaufschlag, dem auch der verhärtetste Dschingis Khan nicht hätte widerstehen können, und Tezozomoc knurrte wie ein überwundener Bühnentyrann: »Ihr Wunsch ist mir Befehl.«
»Nein!« schrie Richard mit solcher Kraft, als sollten alle fünf Weltteile seine Weigerung hören.
»Sie können es mir nicht versagen«, lächelte Martha Mirar, »es handelt sich – auch – um ihre Freunde.«
Richard sah mich ratlos an, als wolle er meine Meinung einholen, und da ich es für angebracht hielt, die Fortsetzung der Begegnung der Öffentlichkeit zu entziehen, nickte ich ihm aufmunternd zu.
Er senkte ergeben den Kopf und folgte Martha Mirar, die auf unser Haus zuschritt.
»Aber bleib in der Nähe!« raunte er mir zu, als wir zwischen unserer Ehrenwache eintraten.
Ich blieb in der Nähe, in dem Arbeitszimmer neben dem großen Wohnraum, in dem sich Richard und das dem Meer seiner Vergangenheit so unerwartet entstiegene Wunder zur ehelichen Zwiesprache zurückgezogen. Ich weiß nicht, ob das Gespräch zuerst wirklich so leise geführt wurde, oder ob meine Gedanken so laut durcheinanderwogten, daß sie vorerst alles andere zurückdrängten. Martha Mirar war also Heli Brög, Richards verflossene Gattin! Und was bedeutete Tezozomocs Ingrimm gegen uns! Und wie stand Mister Forst zu alledem! Und was würde aus dieser ganzen heillosen Schlammastik von Politik und Ehedrama werden?
Trotzdem ich also von diesen Erwägungen sehr in Anspruch genommen war, entsann ich mich doch jetzt unserer Freunde: Theas, Pauls und Enricos, die da oben auf uns warteten. Es war meine Pflicht, sie nicht länger ohne Aufklärung zu lassen, als unbedingt nötig war, und ihnen wenigstens vorläufigen Bericht zu erstatten. Aber als ich zu ihnen hinaufgehen wollte und die Tür öffnete, da standen zwei grimmige Krieger Tezozomocs davor, packten mich und schoben mich ohne Umstände wieder ins Zimmer zurück. Ich hatte, ehe sie die Tür zuwarfen, gerade noch so viel Zeit, um festzustellen, daß auch oben vor Theas Kammer eine Wache stand.
Offenbar machte Tezozomoc Ernst damit, uns als Gefangene zu behandeln.
Eben als ich zu dieser Erkenntnis gelangt war, tat sich die Tür zum Wohnzimmer auf, und Richard steckte den Kopf heraus: »Ich bitte dich, Bernhard, komm ein bißchen zu uns«, sagte er mit einem einstweilen noch undeutbaren Augenzwinkern.
Die Lage hatte sich insoweit verändert, als Richard inzwischen seine Fassung zurückgewonnen zu haben schien.
Martha Mirar saß auf dem Fensterbrett, und sie war noch niemals in einer ihrer Rollen so reizend gewesen wie jetzt als Cowboy in dieser überaus geschmackvoll stilisierten wildwestlichen Aufmachung. Sie trug Lederhosen mit Fransen, eine offene, silbergestickte Jacke, die ein blendend weißes, die Echtheit etwas störendes Hemd sehen ließ, ein dreieckiges rotes Tuch um den Hals und natürlich eine rot-weiß-gelbe Bandschleife über dem Herzen. Den Hut hatte sie abgenommen, und ein keckes Morgenlüftchen umwarb durch das offene Fenster die wundervollen Dauerwellen ihres Bubenköpfchens. Sie war durchaus das, was man mit einem mir sonst nicht übermäßig wohlklingenden Fremdwort »kapriziös« nennt.
Ich glaube, du wirst bereits erraten haben«, sagte Richard mit einem verdächtigen Zucken der Mundwinkel, »daß diese Dame meine geschiedene Gattin ist.«
Ich verneigte mich, und Martha Mirar sagte: »Ich verstehe nicht, warum du es für nötig hältst, zu unserer Unterredung einen Zeugen beizuziehen.«
»Es ist gewiß eine schlechte Gewohnheit von mir«, meinte Richard mit heiterem Bedauern, »aber ich habe Bernhard in meine geheimsten Angelegenheiten eingeweiht und kann wichtige Dinge ohne ihn einfach nicht mehr entscheiden. Und dann bin ich in der letzten Zeit so furchtbar vergeßlich geworden, daß es mir lieb ist, jemanden dabei zu haben, der meinem wankenden Gedächtnis eine Stütze ist.«
Ich merkte, Richard hatte seinen ersten Schrecken bereits völlig überwunden und war im Vollbesitz seiner Geisteskräfte.
»Noch dazu einen Herrn«, fuhr Martha Mirar fort, ohne auf Richards Erklärung einzugehen, »der mir gegenüber eigentlich ein schlechtes Gewissen haben müßte.«
Sie sah mich drohend an, und Richard fragte verwundert: »Warum?«
»Wenn man einer Dame ein versprechen gibt, so hält man es auch.«
»Ich bekenne mich schuldig«, sagte ich zerknirscht, »Martha Mirar hat schon bei ihrem Aufenthalt in London gewünscht, daß ich sie mit dir bekannt machen möchte. Aber ich habe es nicht gewagt, ihn dieser Gefahr auszusetzen. Er hatte sich damals eben der Wissenschaft mit solchem Eifer zugewendet ...«
Martha Mirars Strenge löste sich in ein Lächeln des Wohlwollens. »Kleiner Schäker!« sagte sie und reichte mir ihre Hand zum Kuß. »Man kann Ihnen nicht böse sein.«
Ich unterließ es nicht, ihrer Aufforderung zu folgen, denn es war immerhin eine schöne, gepflegte Hand, die meinen Lippen geboten wurde.
»Du hast also schon damals deine Beziehungen zu mir wieder anzuknüpfen gesucht?« fragte Richard nachdenklich.
Über Martha Mirars Gesicht flog ein Wetterleuchten von Leidenschaft. »Habe ich je etwas anderes getan«, rief sie heftig, »seit ich zum Bewußtsein meines Unrechtes gekommen bin? Bist du blind für die Größe meines Bedauerns, meiner Reue? Wie konnte ich mich so weit vergessen? Wie konnte ich deinen Wert so verkennen? Aber sobald ich zur Besinnung gekommen war, sagte ich mir, nun ist es an dir, zu beweisen, daß auch in dir etwas steckt. Ich wollte nicht zu dir kommen, vom Leben zerbrochen und gedemütigt, klein und armselig, sondern frei, dem Dasein gewachsen, eine Ebenbürtige. Ich habe diesen Augenblick ersehnt, dir gestehen zu dürfen, ich war damals ein dummes Ding, unverantwortlich dumm, aber nun komme ich, nicht um mich aus irgendeiner gemeinen Not befreien zu lassen, sondern erkennend und mit dem Willen, es besser zu machen. Darum habe ich mich ehrlich bemüht, das Talent, das in mir verborgen war, zu entfalten und zu entwickeln, in redlichem Streben, unter unsäglichen Mühen, Enttäuschungen, Entbehrungen, im Kampf gegen alle Widerstände – Herr Schopp, da er nun schon einmal da ist, wird es mir bezeugen können –«
»Jawohl, im Kampf gegen alle Widerstände«, bestätigte ich eifrig und dachte an die Ohrfeigen, die mein unglücklicher Kollege bei diesem Kampf abbekommen hatte.
Martha Mirar war vom Fenster herabgesprungen und stand vor uns, steil lodernd. Ja, sie loderte steil und sagte: »Und nun bin ich soweit. Ich bin am Ziel, ganz Mexiko liegt mir zu Füßen, und ich bin die Freundin des großen Mannes, der die Freiheit seines Vaterlandes auf seine Fahne geschrieben hat. Aber immer habe ich nur dabei an dich gedacht, und nun begegnen wir uns sozusagen auf einer höheren Ebene des Daseins ...«
»Hm«, meinte Richard und machte einen Eindruck, als möchte er sich vor diesem steilen Lodern am liebsten in einen schattigen Winkel verkriechen, »sozusagen ... sozusagen.«
Martha Mirar loderte noch höher und schimmerte eine ganze Weile in allen Reizen sieghaften Weibtums. Dann neigte sie das dauergewellte Bubenköpfchen und flüsterte mit einem schelmisch schmachtenden Aufblick: »Und ich weiß doch, du liebst mich noch.«
»Ich fürchte, da bist du im Irrtum«, sagte Richard in schlichter Einfalt.
»Schau nur in dich hinein!« ermunterte sie ihn und reckte die Schultern.
»Ja, ich schaue in mich hinein«, erwiderte Richard völlig ungerührt von all diesen Lockungen aus Almidas und Klingsors vereinigten Zaubergärten, »ich schaue in mich hinein und in dich hinein und noch in andere hinein. Und ich will dir sagen, wie es sich mit all dem verhält. Irgend jemandes Rechnung stimmt nicht. Irgend jemand hat gemeint, wenn ich durch dich enttäuscht würde, so ganz bis in die Wurzeln meines Daseins durch diese Enttäuschung vergiftet würde, so müßte ihm das gewisse Vorteile bringen.«
»Vorteile?« fragte Martha Mirar mit einem Zusammenziehen der schon geschwungenen Augenbrauen.
»Nicht unbeträchtliche Vorteile«, nickte Richard, »wenn einmal unsere Ehe gelöst wäre, und wenn ich durch dich alle Weiber hassen und verachten gelernt hätte, so konnte jener Jemand in den Vordergrund der Anwartschaft auf mein Vermögen gerückt werden. Vielleicht hat er auch gemeint, ich würde gleich mit meinem Leben ein Ende machen. Aber dann kam das Loch in seine Rechnung. Er hat nicht bedacht, daß man einen Ersatz für die Liebe der Frau in der Liebe der Freunde finden kann. Und nun kam ihm der Einfall, das zu leimen, was er zuerst zerbrochen hat. Vielleicht, um durch dich wieder Einfluß auf mich zu gewinnen. Vielleicht, um dasselbe Spiel noch einmal zu versuchen mit der Aussicht auf besseren Erfolg. Darum hat er dir den Rat gegeben, wieder Brücken zwischen dir und mir zu schlagen.«
Martha Mirar schaute Richard unter düsteren Augenbrauenbogen mit einem stechenden Blick an, ihre Lippen waren ganz dünn zusammengekniffen, und sie sahen vorderhand gar nicht hübsch aus. »Du phantasierst!« sagte sie scharf.
»Du weißt sehr gut, daß ich nicht phantasiere. Und ich weiß auch, wer dir diesen Rat gegeben hat. Es war Breadsley, mein biederer Oheim.
Martha Mirar lachte klanglos auf: »Breadsley!«
»Ja, du bist eines der Eisen in seinem Feuer. Er hat noch ein anderes.«
»Vielleicht hast du die Güte, mir auch von diesem zweiten Eisen etwas zu erzählen.«
Aber Richard schüttelte den Kopf. »Es ist nicht nötig. Es würde die Sache nur verwirren.«
Ich bewunderte Richards Scharfsinn, der mit solcher Sicherheit Breadsleys Anteil aus der ganzen Sache herausgeschält hatte, und entsann mich des Mannes, der damals vor Martha Mirars Tür an mir vorbeigeschlüpft war. Nun wußte ich gewiß, daß es Breadsley gewesen war.
Indessen hatte Martha Mirar Zeit gehabt, in ihrem Angesicht die schwarzen Flore der Wehmut aufzuziehen: »Da komme ich, mein Herz in beiden offenen Händen ...«
»Halt, ich bitte dich!« unterbrach sie Richard mit wiedergewonnener guter Laune, »stürze dich nicht in solche Unkosten.«
»Jawohl, in beiden Händen ... Und du? Du reimst dir Räubergeschichten zusammen. Und stößt mich zurück ... ohne zu bedenken ...«
»Was denn?«
»Die Lage, in der ihr euch befindet, du und deine Freunde. Tezozomoc will euch vor ein Kriegsgericht stellen.«
»Da bin ich aber neugierig«, meinte Richard vergnügt.
»Das ist gar nicht zum Lachen. Und es wird schlimm für euch ausgehen, wenn ich nicht meinen Einfluß aufbiete –«
»Den du aber nur in dem Fall aufbieten würdest, wenn ...«
Er vollendete seinen Satz nicht, ebensowenig wie es Martha Mirar getan hatte, sie sahen einander an, und wenn es eine unsichtbare Körperhülle gibt, so rangen die beiderseitigen unsichtbaren Hüllen jetzt Brust an Brust, während die sichtbaren Wesensteile ihrer Persönlichkeiten einander unbeweglich gegenüberstanden. Aber eine zunehmende Heiterkeit verbreitete sich immer deutlicher über den grobsinnlichen Teil von Richards Ich. Es war ungemein erfreulich, zu sehen, wie gründlich Richard die Lebens- und Seelengefahr überwunden hatte, die einst Heli hieß und nun ein aufgehender Stern namens Martha Mirar war. Und je unzweifelhafter dies zutage trat, desto mehr schwand der Glanz der Zuversicht aus Martha Mirars Mienen.
Schließlich sagte Richard und hatte dabei ganz sein Jungengesicht: »Ich weiß nicht, wer bei diesem Geschäft gewinnen würde ... aber jedenfalls: ich mache solche Geschäfte nicht.«
Ein plötzlich losbrechender Samum wirbelte allen Wüstenstaub der Seele aus Martha Mirars Innerem herauf: »Ich will dir etwas sagen ... es ist dieses Frauenzimmer, das ihr bei euch habt ... du hast dich in sie vergafft ... und ihr habt wohl eine Aktiengesellschaft gegründet.«
Von Aktiengesellschaften hätte Martha Mirar nicht reden sollen, sie verscherzte sich damit allen Anspruch auf Schonung.
»Ja, ich liebe sie«, sagte Richard einfach, und auf einmal sehr ernst, »sie ist Paul Rosters Braut, aber es kann mich kein Mensch hindern, sie zu lieben.«
Ich weiß nicht, ob es von großer diplomatischer Klugheit zeugte, dies so aufrichtig zu bekennen, aber es verfehlte seine Wirkung nicht. Martha Mirars Holdseligkeit war plötzlich wie weggeblasen. Sie war nichts als eine ganz gewöhnliche wütende Komödiantin und schrie mit einer schrillen, überschnappenden Stimme: »Der Teufel soll euch alle miteinander holen. Ich mache euretwegen keinen Finger krumm.« Dann besann sie sich: »Jetzt lasse ich der Gerechtigkeit ihren Lauf.«
»Ich höre immer Gerechtigkeit«, entgegnete Richard wohlgelaunt.
Aber Martha Mirars großrädrige Cowboysporen klirrten schon zur Tür hinaus, und Richard sah mich lächelnd an. »Gott sei Dank«, sagte er tief ausatmend, »das war ein etwas anstrengendes Vergnügen.«
»Es war jedenfalls sehr aufschlußreich!« glaubte ich ergänzen zu dürfen.