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Erstes Kapitel.
Der sechzehnte Geburtstag

Jawohl, Purzelchen hatte Geburtstag.

Den sechzehnten, wie die Überschrift zeigt. Das heißt: eigentlich den siebzehnten, wenn man den Tag der Geburt, den wirklichen, mitrechnet. Aber das tut man gewöhnlich nicht. Und darum sagen wir besser: den sechzehnten.

Purzelchen war ein süßer, kleiner Käfer. Das behaupteten alle.

Etwas zu pummlig zwar. Die Beinchen zu kurz und um die Waden herum zu sehr in die Breite gegangen, aber die Fesseln, Gott sei Dank, recht schlank und von Gudruns langen Klavierfingern glatt zu umspannen. Und der Busen, wenn auch im geheimen ein Stolz und vor dem Schlafengehen immer von neuem bewundert, im Sinne der heutigen Vorschrift ein wenig zu üppig und nicht leicht zu verstecken.

»Aber das wird sich verlieren,« sagte Mama so sicher, als ob der ihrige, der des Guten wirklich zuviel tat, sich jemals verloren hätte.

Der Hals geschwungen wie die alabasterne Vase, die auf dem Spiegeltisch stand und Herbert oftmals als Aschbecher diente, und vorne am Kehlkopf mit einer sanften Schwellung versehen, in der kleine, schmachtende Gluckstöne ihre Entstehung erlebten.

Das Gesicht freilich!

Konnte man so etwas überhaupt Gesicht nennen?

Gudrun, ja die hatte ein Gesicht. Darauf mußte man schon Angesicht sagen. Feingegossene Nase, lange, gewölbte Wimpern, himmlisch leuchtende Augen von jenem schimmernden Goldbraun, aus dem die Leidenschaften nur so herausspritzen usw. usw.

Aber man selber! Man brauchte nur in den Spiegel zu gucken, und man verstand die Welt nicht mehr, daß sie an so was den mindesten Spaß finden konnte.

Blond – nun ja! Blond war ja beliebt, besonders in jüdischen Kreisen. Aber das Blond der Haut, das man hatte, das war ein unverschämtes, ein viel zu rosanes, ein höchst uninteressantes Blond. Man konnte Essig trinken, soviel man nur wollte, die Bleichsucht bekam man ja doch nicht.

Höchstens Magenschmerzen bekam man.

Und die Backen flammten hinterher nur noch ärger.

Zu Gudruns Backen mußte man unwillkürlich »Wangen« sagen, denn sie hatten ein zartes Oval und jenen Pfirsichflaum, von dem in den Romanen immer geschrieben steht. Für die eigenen hätte man ein besonderes Schimpfwort erfinden müssen wegen ihrer kindlichen Apfelform und der immer gleichbleibenden Feuersbrunst.

Die Augen blau – nun ja.

Es gibt wohl eine Bläue, die direkt vom Frühlingshimmel gefallen ist. Asta Richter, die hatte sie und kokettierte nicht schlecht damit. Aber diese Couleur, nach Grau oder Grün hinspielend – man wußte selbst nicht recht –, die konnte keinen Verehrer hinter dem Ofen hervorlocken.

Allerhand Zotteln hatte man auch. Die hingen als Kranz um die Stirn herum. Ganz krauses, wuschliges Zeug.

Und man hätte doch so gerne Wellen gehabt! Die herrlichen Klytiawellen, die sich Gudrun alle vier Wochen beim Damentrost brennen ließ, wenn ihr Bubikopf nach neuem Schneiden verlangte.

Überhaupt Bubikopf! Noch im Grabe würde Mama es bereuen, daß sie so grausam gewesen war, ihn ihr zu verweigern, wo sie doch selbst einen hatte.

Wegen der Wellen war sie sogar einmal zu einer Winkelfriseuse gegangen – denn in ein größeres Geschäft traute sie sich gar nicht hinein –, aber die hatte sie geradeswegs ausgelacht.

»Sie sind wohl verrückt, kleines Fräulein?« hatte sie gesagt. »Alle andern würden dem lieben Gott auf den Knien danken, wenn sie einen Lockenwuchs hätten wie Sie. Und den wollen Sie sich wegbrennen lassen? Wenn mir selbst ein Verdienst entgeht – nee, nich zu machen.«

Und so war auch dieser Aufstieg zur Schönheit gescheitert. – – – Aber das alles nur nebenbei.

Also noch einmal: Purzelchen hatte Geburtstag. –

Wenn der liebe Gott einen gegen Ende des schäbigen November hin in die Welt gesetzt hat, kann man von solch einem Fest nicht viel Gutes verlangen.

Oder doch. Gerade. Denn die Menschen müssen gutmachen, was der Himmel versäumt hat.

Und das hatten die Eltern wohl auch gedacht, obwohl im Geschäft die Sorgen sich häuften. Um die sechzehn Kerzen herum und das Lebenslicht in der Mitte lagen Geschenke, mehr, als man jemals erhofft hatte.

Von Mama ein Tanzkleidchen, lichtblau mit Silber, ein Traum als Vorschmack stolzerer Träume, von Papa ein Ring mit rötlichem Stein, einem Rubin, wie es schien, wenn er vielleicht auch nicht ganz echt war, denn Papa liebte die Imitationen, schon vom Geschäft her, und dazu ein Zwanzigmarkschein als erste Rate für den längst bewilligten Tanzstundenzirkel. Von Herbert Strumpfhalter in rosa und violetter Seide, passend zu den Kombineeschens, die noch nicht da waren, wenn auch unpassend als Geschenk eines jungen Herrn, mochte er zehnmal der Stiefbruder sein – aber man kannte ja Herbert … Und schließlich von Gudrun ein Elfenbeinkästchen – es konnte auch Zelluloid sein – mit einer Puderquaste darin und einem Lippenstift, der für den Augenblick den Inbegriff aller Wunscherfüllung bedeutete.

Von den Konfitüren brauchen wir gar nicht zu reden. Die verstanden sich im Hause von Gottfried Lüdicke ganz von selber, und niemand beachtete sie: sie waren auch nur für die Besuchenden da.

Und sodann gab es Blumen in Fülle. Die Freunde hatten sich wirklich nicht lumpen lassen. Der Lilienstrauß kam von Willi. Lilien – im Monat November – ich bitte! Kurt hatte Nelken geschickt, vier mächtige gefüllte Nelken, nicht etwa die unansehnlichen, kleinen, die dreißig Pfennige kosten das Stück. Und Hans Joachim war mit Rosen vertreten, drei langstengligen, halbaufgeblühten, von denen jede eine Königin zu werden versprach. Die Herbstastern, die Mama gewiß auf dem Markte billig erstanden hatte, gar nicht gerechnet. Einen wirksamen Hintergrund bildeten sie immerhin. Man hätte sie sich nicht wegwünschen mögen.

Da stand Purzelchen nun und wußte vor Freude nicht aus und nicht ein. Fiel bald Papa um den Hals und bald Mama. Pflanzte Gudrun drei Küsse hinter die Ohren und empfing die leutselige Zärtlichkeit Herberts, der um dieser kleinen Feierlichkeit willen gar nicht erst schlafen gegangen schien, denn vor vier Uhr früh kam er selten nach Hause.

Überhaupt war das nächtliche Nichtschlafengehen eine Gewohnheit – eine »süße« Gewohnheit, konnte man ohne Übertreibung sagen – in Purzelchens Elternhause.

Woher das kam, das werdet ihr bald ersehen haben. Fürs erste beschäftigt uns Purzelchens Wiegenfest.

»Tja, so ist das,« meinte Herbert und gähnte, »aus Kindern werden kleine Mädchen – sweet little girls, wie man jetzt sagt, denen es am gesündesten ist, wenn sie bald unter die Haube kommen. Ich glaube, sehr lange wird's mit dir auch nicht dauern, mein Kleines. Die Uhr ist jetzt drei Viertel auf neune. Ich hab' es so in den Gliedern: übers Jahr um diese Stunde wird die Flurglocke gehen, und dann wird der Freiersmann dasein.«

»Pfui, Herbert,« sagte die schöne Mama, und der Tadel zog ihre gepuderten Mundwinkel bis hinunter in das rundbogige Doppelkinn, »setz dem Kinde doch keine Raupen in den Kopf. Damit hat es noch lange, lange Zeit, auch wenn man nicht eine Künstlerin wird wie Gudrun. Obgleich ich es lieber sähe, wenn –« und sie seufzte, wie altmodische Mütter wohl seufzen, die ihre Töchter nicht rasch genug an den Mann bringen können.

Gudrun, die sechs Jahre älter war und die vor ihrer Mädchenfreiheit Wache hielt wie der Cherub vorm Paradiese, sagte natürlich gar nichts und lächelte nur züngelnd in sich hinein. Die hatte gut lächeln! Die wußte, warum.

»Aber etwas anderes macht mir Sorge,« fuhr Mama fort. »Du bist jetzt sechzehn, und wenn im Augenblick auch noch ein Baby, so wirst du doch bald eine junge Dame sein. Ich glaube nicht, daß dein Name noch für dich paßt.«

»Warum nicht?« fragte Purzelchen ganz erschrocken. Ihr war zumute, als wische eine raubsüchtige Hand über den Gabentisch und nehme alles mit, was ihr das Schicksal beschert hatte.

»Du heißt doch eigentlich Annemarie,« fuhr Mama fort. »Oder auch Annemie, was viel niedlicher klingt. ›Purzelchen‹ ist ja ein Hundename und hat jedenfalls einen komischen Beigeschmack, der dir bei den jungen Männern sehr schädlich sein kann. Die jungen Männer wollen etwas, was sie hochhalten, wozu sie emporschauen können. Zu einem Mädchen, das Purzelchen heißt, schaut niemand empor. Sag doch, Gottfried, hab' ich nicht recht?«

Der gute Papa, der wieder einmal vor sich hinträumte, zupfte an seiner Künstlerkrawatte – wahrscheinlich formte sich gerade eine neue, noch nie dagewesene Komposition in seinem Hirne – und sagte zerstreut und hingegeben: »Ganz wie du meinst, liebe Laura!«

Aber Purzelchen hatte durchaus nicht die Absicht, vor der elterlichen Autorität die Waffen zu strecken.

»Ich weiß gar nicht, was ihr da wollt,« sagte sie. »Willi und Kurt und Hans Joachim haben mich immer hochgehalten. Und wenn mich wer von ihnen mal abküssen wollte, dann hab' ich ihm eine gelangt. Das ist wirksamer als alle hochtrabenden Namen.«

Wie sie das vom »abküssen« sagte, da hob Mama mitleidig die schönen Schultern, und Gudrun gar lächelte so gönnerhaft über ihre grasgrüne Unschuld, daß sie vor Scham in die Erde gesunken wäre, wenn sie nicht ihr Geheimnis gehabt hätte, das sie seit vorigem Frühling mit sich herumtrug.

Und dies Bewußtsein gab ihr den Mut, die Schwester schlichtweg um Hilfe zu bitten: »Nun rede du doch auch mal 'nen Ton, Gudrun!«

Aber Gudrun lächelte weiterhin vor sich nieder. Das tat sie immer, wenn zwischen Mama und Papa oder zwischen den Eltern und einem der beiden Geschwister ein Zwiespalt entstanden war. Sie sah dann aus wie eine, die sich Theater vorspielen läßt, und erst wenn Mama oder Papa sich um Rat an sie wandte, dann traf sie mit kurzen und ulkigen Worten eine Entscheidung, die auch meistens befolgt wurde.

Nun blickte gleichfalls Mama nach ihr hin, und zwar so hochachtungsvoll und ergebenst, wie es sich einer Persönlichkeit gegenüber geziemt, der die Wirtschaftskasse anvertraut ist, obwohl sie doch als werdende Sängerin nur in den höheren Sphären zu Hause sein müßte.

Sie machte ihr süßestes Lausbubengesicht und sagte: »Ach Gott, Kinder, die Sache ist ja noch lange nicht aktuell. Willi und Kurt und Hans Joachim sind dumme Jungens und zählen noch gar nicht mit … Erst muß unser Kindchen doch flügge werden. Die neuen Tänze muß es gelernt haben und sich in dem modernen Liebesbetrieb zurechtfinden können. Ich glaub', sie weiß noch gar nicht mal, wie man 'nen Cocktail trinkt.«

Das wußte Purzelchen in der Tat nicht, und darum schwieg sie beschämt.

»Hast du denn überhaupt schon mal seidene Strümpfe getragen?« drang Gudrun jetzt auf sie ein.

»Jawohl, zur Einsegnung,« erwiderte sie, empört darüber, daß die ältere Schwester diesen wichtigen Umstand vergessen hatte.

»Das waren bloß schwarze,« erwiderte Gudrun mitleidig, und einen suchenden Blick nach dem Geburtstagstisch sendend, wandte sie sich vorwurfsvoll an Mama: »Ich glaube, das ist das Dringendste, was dort noch fehlt.«

»Ach Gott,« seufzte sie, »wie soll man bloß mit dem allen geraten!«

»Ich weiß eine billige Quelle,« tröstete Gudrun und strich mit den Blicken an den resedaglänzenden Waden hinunter. »Aber um auf unser Thema zurückzukommen! Ich glaube, das wird sich alles von selber regeln, sobald das Kind ins Leben getreten ist. Unter uns kann sie ja immer noch bleiben, was sie so lange war. Aber wenn sie erst eine Stellung hat oder fremde junge Männer dabei sind – wenn du sie, Herbert, zum Beispiel mit deinen Freunden zusammenbringst –«

Herbert, der scheinbar unbeteiligt seine vom Zigarettensaft goldbraun gewordenen Fingernägel angestarrt hatte, fuhr aus seinem Halb- oder Viertelschlaf in die Höhe.

»Ich werde mich hüten,« erwiderte er mit kühler Bestimmtheit.

»Warum?« fragte Purzelchen, das für sein Leben gern mit ein paar netten Herren bekannt geworden wäre, denn die Schwester hatte recht gehabt: Willi und die andern Jugendgespielen waren wirklich noch dumme Jungens.

Und »Warum?« fragte desgleichen Mama.

Aber Gudrun zog bereits ihren Vorschlag zurück. »Ich hab' mich verrannt,« sagte sie. »Ich kenne Herberts Freundschaften nicht, aber ich bin überzeugt, da hat unser Purzelchen wenig zu suchen. Da muß man schon so gewitzt sein wie ich.«

Und sie dehnte sich, die Lippen spitz machend, in dem Wohlgefühl einer erprobten Lebenserfahrung.

Papa, der derweilen still vor sich hingesponnen hatte, sah nach der Wanduhr hin und warf dann Mama einen bedeutsamen Blick zu.

Die Neunuhrstunde nahte heran. Es wurde Zeit, daß sie beide sich auf den Weg machten.

Und Mama erhob sich in ihrer ganzen pompösen Herrlichkeit. Breitausladend in den sich wiegenden Fleischmassen, gebieterisch lächelnd und doch voll frauenhafter Süße – so süß wie die Welt, in der sie tagsüber waltete.


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