Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel.
Die Liebeslehre der Alten und die Liebeslehre der Jungen

Eines Spätwinterabends saßen Mama und Purzelchen allein miteinander und hörten Radio.

Gudrun war aus, und Papa rührte unten im Keller den Teig an. Man hatte also Ruhe genug, den Melodien zu lauschen, deren Weg als das große Mysterium der Zeit aus rätselhafter Ferne zur Ohrmuschel führte.

Slawische Lieder wurden gespielt voll von schmachtender Sehnsucht und trübseligem Herzweh.

Mama hatte die Augen gen Himmel geschlagen, ihr Busen wogte gegen die Korsettstangen, und ab und zu stieß sie einen Seufzer aus, den Purzelchen zwar nicht vernehmen konnte, da sie den Kopfhörer umgeschnallt hatte, der aber durch die sich öffnenden Lippen und das begleitende Handaufsherzlegen deutlich erkennbar war.

Dann, als eine Pause angesagt wurde, legte sie den Kopfhörer weg und bedeutete Purzelchen, das gleiche zu tun.

»Ich habe mit dir zu reden, mein Kind,« sagte sie, und das verstärkte Doppelkinn gab den Worten eine Feierlichkeit, die durch den starrenden Blick doppelt feierlich wirkte.

»Du kommst nun bald in die Jahre,« fuhr sie fort, »in denen du die Liebe kennenlernen wirst.«

Purzelchen horchte hoch auf.

»Ja, ja, mein Kind, wehre dich nicht. Noch weißt du zwar nichts von ihr. Noch lebt Kinderunschuld in deinem Herzchen – –«

›O Gott, o Gott,‹ dachte Purzelchen.

»Aber die Liebe kommt, und sie ist da. Eines Tages ist sie da. Da kann man nichts machen. Wie man überhaupt gegen die Liebe nichts machen kann.«

Dabei blickte sie mit neuem Erstarren des Auges vor sich nieder, und Purzelchen dachte: ›Hat sie dies an Papa erfahren oder an sonst wem?‹

»Aber, mein liebes Kind, unvorbereitet sollst du nicht den Ozean des Lebens betreten. Du sollst vielmehr durch die Erfahrung deiner Mutter so weit gestählt werden, daß du nicht blinden Auges in dein Verderben rennst. Zuerst mußt du dir den Mann genau ansehen, in den du dich verliebst.«

»Wenn man gegen die Liebe doch nichts machen kann,« fragte Purzelchen, »was hilft da das Ansehen?«

Mama schien ein wenig verwirrt. »Trotzdem,« sagte sie, »trotzdem muß man ihn sich immer erst ansehen. Ob er die Liebe auch wirklich verdient. Ob er reelle Absichten hat. Welches seine Aussichten sind. Vor allem, ob er einen moralisch gefestigten Lebenswandel führt. Und so.«

»Wie kann man das wissen?« fragte Purzelchen. »Man kann doch nicht immer dabeisein.«

Mama schien schon wieder verwirrt. »Du machst so seltsame Bemerkungen,« sagte sie. »Das errät man schon daraus, wie er einen ansieht, einen anfaßt –«

»Ich denke, er faßt einen überhaupt nicht an,« sagte Purzelchen.

»Nein, nein, natürlich nicht,« erwiderte Mama. »Aber manchmal doch. Beim Tanzen zum Beispiel.«

»Da umarmt er einen doch sogar,« meinte Purzelchen.

»Du mußt mich nicht unterbrechen,« sagte Mama ein wenig ungehalten. »Die Gefahren, denen ein junges Mädchen ausgesetzt ist, sind so groß, daß es dankbar sein muß für jeden Fingerzeig, besonders wenn er von einer Mutter kommt, die selber so vieles hat leiden müssen.«

»Was hast du denn so vieles leiden müssen?« fragte Purzelchen, in Neugier aufflammend.

Aber die Mutter schien nicht willens, Rede zu stehen. Sie seufzte nur umso tiefer und wiederholte: »Vieles hat leiden müssen! Vieles hat leiden müssen! Aber was ich dir ans Herz legen wollte: Besonders vor dem ersten Kusse muß man sehr auf der Hut sein. So ein Kuß ist der Anfang zu allem Bösen. Denn wer ihn gekriegt hat, der fühlt sich dann auch zu mehr berechtigt.«

»Wozu zum Beispiel?« fragte Purzelchen, das seiner Unschuld Zucker gab.

Auch hierüber wollte Mama nicht rechte Auskunft erteilen.

»Nun, nun,« sagte sie, »das bringt die Liebe so mit sich. Das wirst du schon alles erfahren.«

»Ja, werd' ich?« fragte Purzelchen, verklärt in hoffender Unwissenheit.

»Vielmehr, ich nehme an,« verbesserte sich eilends Mama, »du wirst es nicht erfahren. Oder mindestens erst dann erfahren, wenn du in Ehren verlobt bist.«

»Dürfen Verlobte denn das?« fragte Purzelchen, die in dem Netzwerk mütterlicher Moral ein Loch zum Durchschlüpfen sah.

»Ach nein, sie dürfen das auch nicht,« sagte Mama, ohne dem rätselvollen und undefinierbaren »das« ihre weitere Aufmerksamkeit zuzuwenden. »Nur ist es dann etwas weniger gefährlich. Nun, davon zu reden ist ja dann später noch Zeit.«

Und sie wischte sich über die Stirn, wie um die unsichtbaren Schweißtropfen wegzuwischen, die das Verhör des ahnungslosen Kindes darauf hervorgerufen hatte.

Und als fühlte sie, daß ihr Kopf nicht findig genug sein würde, um diesem Frage- und Antwortspiel erfolgreich standzuhalten, glitt sie in die Dunkelheiten des Gefühlslebens zurück, aus denen, durch slawische Gesänge entzündet, ihr Aufklärungstrieb emporgeglüht war.

Und vielleicht war er auch mehr dem Bedürfnis entsprungen, für das, was sich sonst nur in schweigenden Seufzern ausleben konnte, mitteilende Worte zu finden.

Denn sie fuhr trauervoll fort: »O mein Kind. Eines laß dir gesagt sein: Des Weibes Los ist die Sehnsucht. Die Sehnsucht, die niemals schweigt.«

»Auch wenn man verheiratet ist?« fragte Purzelchen, eines jungen Landwirts gedenkend, der geeignet war, jede Sehnsucht zum Schweigen zu bringen.

Mama schien von neuem verwirrt. »Ja, das ist schwer zu sagen, mein Kind,« erwiderte sie. »Man ist ja nicht immer nach seinem Wunsche verheiratet. Und wenn auch, das Leben ist schwer. Das wirst du noch alles erfahren. Ja, ja, – die Sehnsucht! Die Sehnsucht!«

Und wie einen rettenden Anker in Seenot sah sie vor sich den Kopfhörer liegen, den sie eilends ergriff.

Doch Purzelchen schien nicht willens, das interessante Gespräch so rasch und resultatlos fallen zu lassen.

»Ich denke, du wolltest mir alle möglichen Ratschläge geben,« mahnte sie. »Die Pause ist sicherlich noch gar nicht zu Ende. Und wenn selbst, Herr Braun wird auch ohne uns auskommen können. Bitte, sag mir doch noch was. Bitte, bitte!«

»Was soll ich dir sagen, mein geliebtes Kind?« fragte Mama, die offenbar in ihrer Hilflosigkeit Zeit zu gewinnen trachtete.

»Zum Beispiel,« fuhr Purzelchen fort, »ich sehe gar nicht ein, warum man sich als Weib immer sehnen muß. Manchmal ist der Gegenstand weg« – und nun war sie es, die seufzte – »dann ist das alles natürlich! Aber wenn der Gegenstand da ist, gibt's doch nichts Einfacheres, als daß man sich seine Sehnsucht erfüllt.«

Mama machte große, strafende Augen. Wie ein zürnendes Götzenbild saß sie da in ihrer rötlich umrahmten, gepuderten Schönheit und in ihrem breitausladenden Leibesgewoge.

»Und die Treue?« fragte sie vorwurfsvoll.

»Was für eine Treue?« fragte Purzelchen schleunig zurück, und diesmal wußte sie wirklich nicht, was Mama eigentlich meinte. Erst allmählich ging es ihr auf, daß der gute Papa an diesem seelischen Zwiespalt nicht unbeteiligt war, und ohne zu zaudern stellte sie sich in ihrem Innern auf seine Seite.

Mama mochte einsehen, daß über dies Thema nicht weiter zu reden war, denn sie nahm den Kopfhörer von neuem zur Hand.

»Du bist wirklich noch zu jung und zu unerfahren,« sagte sie, »um diese Dinge recht zu verstehen. Lebe nur weiter in deinen unschuldigen Träumen und versprich mir, daß, wenn dein Herzchen zum erstenmal Liebe fühlt, daß du dann zu deiner Mutter kommen wirst, um dich ihr anzuvertrauen. Versprichst du mir das?«

Purzelchen nickte, von einer kleinen Rührung ergriffen, die wenig zu den Tatsachen stimmte, und während die slawischen Gesänge ihren Fortgang nahmen, dachte sie immer bloß: ›O Gott! O Gott! In was für anderen Welten leben die Alten doch!‹ – – –

Ein paar Tage später nahm die Schwester sie ins Gebet. Und hierbei ging es schon schärfer her.

»Hör mal, Purzelchen,« sagte Gudrun kurz vor dem Schlafengehen – dies war die übliche Zeit für geschwisterliches Vertrautsein – »wenn du glaubst, man sieht nicht, daß mit dir irgendwas vorgeht, dann irrst du dich mächtig.«

»Was soll mit mir vorgehen?« fragte Purzelchen, die Blutwelle fühlend, die heiß in ihr hochschoß.

»Das ist es, was ich eben von dir erfahren möchte,« erwiderte die Schwester. »In deinen Blick ist so was Wissendes gekommen – was Überlegenes fast – wie die Spitzbuben und die Pfaffen es haben.«

» Du hast den Blick,« entgegnete Purzelchen prompt, »aber nicht ich.«

»Meinetwegen – ich auch,« sagte Gudrun. »Das kommt daher, daß wir Geheimnisse haben, die jeder wittert und keiner erraten darf. Nun rück mal 'raus mit deinem, damit wir endlich au pair miteinander verkehren können.«

Das war nun eine harte Versuchung. Keine hätte so gut wie die Schwester verstanden und gewürdigt, was ihr begegnet war. Doch halbes Vertrauen war gar kein Vertrauen. Dann hätte sie zugleich auch jenes Andere, Große preisgeben müssen, das nun ein ganzes Jahr schon in ihrem Kopfe herumging und womit sie die Schwester einstmals betrogen hatte.

Das aber mußte ihr eigen bleiben für immer. Und darum war's besser, auch von dem Neuesten nichts verlauten zu lasten, zumal es beschämend gewesen wäre, von einer, die es nicht miterlebt hatte, als Opfer, als wehrloses Opfer betrachtet zu werden. Und das war man doch – weiß Gott – nicht gewesen.

So also preßte sie die Lippen zusammen, entschlossen, nicht den leisesten Laut von sich zu geben.

»Also du willst nicht,« sagte gleichmütig die Schwester. »Na, denn nicht. Aber ein Unrecht begehst du. An mir und vor allem natürlich an dir. Denn brauchen tust du mich wirklich. Weißt du denn überhaupt, wie du dich zu verhalten hast, wenn dir was Liebes begegnet? Jeder von ihnen kann ein Schuft sein, und wenn er's nicht ist, dann wird er es werden, sobald er in dir nichts wie ein Anhängsel sieht. – Sieh mal, wir Mädels haben uns seit dem Kriege so billig gemacht, wir sind so leicht zu kriegen, daß viele uns ganz als Spielzeug betrachten und sehr verwundert sind, wenn sie bemerken, daß mit jedem Frauenleibe auch ein Menschenglück in ihre Hände gerät. Da muß man natürlich sehr auf der Hut sein. Wenn zum Beispiel einer, der nichts ist und nichts hat, gleich mit seinen ehrlichen Absichten kommt.«

»Meinst du, das ist dann ein Heiratsschwindler?« unterbrach sie Purzelchen.

»Ach, wo doch! Wer dich ansieht, der weiß, da ist nichts zu erschwindeln. Aber ein Miesnik kann er sein, der Moral hat und schmuddlige Wäsche. Der sitzt mit dir im Wald auf dem Rasen herum, weil es kein Geld kostet, und geht er mal mit dir in ein Gasthaus, um dir ein Glas Bier zu spendieren, dann trägt er einen knalligen Schlips und graugelbe Wollstrümpfe, so daß du dich seinethalben genierst. Den schleppst du dann jahrelang mit dir herum, und schließlich wird's doch nischt … Ebenso mußt du dich aber vor denen hüten, die Moneten haben und dich mit großen Geschenken bewerfen.«

»Warum denn?« fragte Purzelchen. »An den Geschenken erkennt man doch, daß man wirklich geliebt wird.«

»Im Gegenteil,« sagte die Schwester. »Die wollen sich damit zumeist von der Verantwortung loskaufen. Die denken, sie haben dich für deine Liebe bezahlt, und sehen in dir nicht mehr als eine Kokotte. Mit so was muß bald Schluß gemacht werden. Ebenso mit denen, die geheimnisvoll tun und ihren Namen nicht angeben wollen. Die sind entweder verheiratet oder noch schlimmer. Wenn die erreicht haben, was sie wollen, dann sind sie eines Tages verschwunden, und du siehst sie nie mehr. Nun will ich nicht gerade behaupten, daß das Verheiratetsein ein Verbrechen ist. Im Gegenteil. In manchem ist man bei ihnen besser aufgehoben als irgendwo anders. Aber für den, der was haben will von der Welt, sind sie nicht sehr zu gebrauchen. Sie können mit einem in kein Theater gehen und in die Tanzbar schon gar nicht. Zum Abendessen verkriechen sie sich mit dir in die dunkelsten Winkel, und wo man gute Gesellschaft trifft, da gucken sie sich ewig um, als wäre ein Spion in der Nähe. Da laß lieber die Hände weg. Es ist kein Segen dabei.«

»Und wie ist's überhaupt mit den älteren Herren?« fragte Purzelchen. Sie dachte natürlich an ihren Chef, der seine Vierzig sicherlich auf dem Buckel hatte.

Gudrun überlegte so scharf, daß die Unterlippe unter den langen Mausezähnen beinahe verschwand.

»Auf diesem Gebiete bin ich wenig bewandert,« sagte sie dann. »Denn ich hab' immer gemeint: Jugend gehört zu Jugend. Aber ich will nicht leugnen, daß silberne Schläfen sehr interessant sind. Manche werden sogar von einem mystischen Schauer ergriffen, wenn ihnen so einer bloß nahe kommt.«

Purzelchen dachte: – ›Genau so ging es auch mir,‹ und der Augenblick, da der dämonische Zahnarzt in ihr lachendes Leben getreten war, stand leibhaftig vor ihren Sinnen.

Aber da war noch ein anderer, auf den das alles nicht zutraf. Nach dessen Art und Wesen zu fragen, wäre Entweihung gewesen. Mit seinen »ehrlichen Absichten« freilich war auch er ihr gekommen, aber zu dem Geschlechte der »Miesniks« hatte er darum durchaus nicht gehört. Und weil er die ehrlichen Absichten nicht haben durfte, war er ja eben von hinnen gegangen.

»Und du meinst,« fragte sie, »daß sie alle dasselbe von einem wollen?«

Gudrun überlegte von neuem.

»Es mag ja schon vorkommen,« sagte sie, »daß einer oder der andere ein Feinschmecker ist, der an unserer Erscheinung Gefallen findet und nichts weiter möchte, als wissen, was wohl an Seele dahintersteckt, im großen ganzen aber wollen sie alle dasselbe. Und wenn wir ehrlich sind: auch wir wollen dasselbe. – Da gibt es die schöne Vokabel ›Verführung‹, die die Alten ewig im Munde haben. Verführung, Verführung. Man hört ordentlich den Kalk rauschen in ihren Arterien. Als ob wir nicht selber verführt sein wollten! Ja, wir verführen sogar ganz fleißig mit, wenn wir uns wehren und öte tun. Aufs Feuerunterlegen versteht sich jede von uns, während wir uns vorreden, wir wollten es löschen.«

Ich habe kein Feuer untergelegt,‹ dachte Purzelchen, indem sie sich aufrichtig prüfte. Und nun war es doch so gekommen.

»Aber leider sind die Partien nicht gleich,« fuhr die Schwester fort, »denn bei uns steht unendlich viel mehr auf dem Spiele. Und wenn man's recht überlegt, benehmen wir uns wie die Wahnsinnigen, denn hinter allem lauert die ungeheure Gefahr mit dem Baby. – Wenn das unterwegs ist, dann bricht das ganze Kartenhaus unserer neuerrungenen Freiheit zusammen.«

Purzelchen fühlte einen heftigen Herzstich. An so etwas hatte sie noch niemals gedacht.

»Nun sind ja, Gott sei Dank, die weisen Frauen da, und man weiß auch, wo man sie findet, aber gefährlich bleibt die Sache trotzdem. Schon manche hat ihr junges Leben dabei gelassen. Und manche ist auch zu dumm und zu feige, den Weg zu gehen, der sie ans Messer führt. Die versucht's lieber mit dem Geständnis. ›Hab Erbarmen mit mir, Mamachen!‹ Na, und dann ist der Klumpatsch da. Genau so wie im vorigen Jahrhundert. Familienschande, Prügel, Verzweiflung, ›aus dem Hause mit dir!‹ und so weiter. Als hätt' es ein Recht der Persönlichkeit noch niemals gegeben. Also, Purzelchen, nimm dich in acht! Ein Spaß ist die Chose nicht. Das kannst du mir glauben.«

Damit war die Unterredung zu Ende. Und Gudrun kroch in ihr Bett, wo sie bald in so friedlichem Schlafe lag, wie nur ein unbeschwertes Gewissen ihn schenken kann.

Purzelchen aber blieb, von Zweifeln und Sorgen gequält, bis Mitternacht wach und fragte sich wieder und wieder, wie lange sie in ihrer jetzigen Stellung noch aushalten könne. – –

Wenige Tage später – am nächsten Sonntagvormittag, der einzigen Zeit, in der sie mit ihm zusammentraf – fing auch Herbert, der sie bisher nur als eine Art von billigem Spielzeug behandelt hatte, ernsthaft, wenn auch noch immer höhnisch genug, mit ihr zu reden an.

Die Eltern machten Kassensturz, und Gudrun übte, so daß sie beide miteinander allein waren.

»Ich möchte eine Flasche Röderer gegen einen Flip wetten,« sagte er, »du, Kleines, machst noch einmal Karriere. Wie das die Beinchen wirft und mit der geehrten Rückseite schaukelt, keine Parkettänzerin könnte es besser.«

»Was ist das: Parkettänzerin?« fragte Purzelchen, während bei dem Worte »Tänzerin« ein unbestimmter Neid in ihr aufkochte.

»Das ist auch eine Art, Karriere zu machen,« erwiderte er. »Schon manches dumme Portiergirl und manche arme Offizierstochter haben auf diese Weise eine große Partie gefingert.«

»Was nennst du: große Partie?« fragte Purzelchen immer noch neidischer.

»Ja, sieh mal,« erwiderte er und schnippte mit dem goldgelben Fingernagel die Asche von seiner langstengligen Zigarette. »In unserer armgewordenen Welt gibt es noch immer ein paar Schwerreiche, die auf unsere Kosten noch reicher geworden sind. Und die haben Söhne oder auch Töchter. Die Söhne bummeln, und die Töchter studieren. Das heißt: eigentlich bummeln sie auch, es hat bloß eine andere Fassade. Wenn nun unsereins die richtige Nase hat und legt sich eine oder einen zu, so daß was Reelles daraus entsteht, mit Standesamt und Hochzeitsklimbim in Schwiegerväterchens Prunkschloß, das ist dann eine wirklich große Partie, und die ganze Schinderei hat ein Ende.«

»Wie kommt man aber dazu?« fragte Purzelchen, von Ehrfurcht ergriffen vor so weltumspannenden Plänen.

Herbert warf die ausgerauchte Hülse fort und stieß, vor sich niederblickend, die Haut von den Monden der Fingernägel zurück, eine Bewegung, ohne die man sich ihn gar nicht vorstellen konnte, dann sagte er: »Von mir ist hier nicht die Rede. Aber was dich betrifft, so würde ich dir raten, noch eine Weile bei unserem zähnereißenden Herrn und Meister zu bleiben. Dabei lernst du von den Weibern die Benehmität mit Zurückhaltung und Vornehmtun. Und lernst die Männer verrückt machen mit Blickeschmeißen und Röckchenzupfen. Das ist sehr wichtig, und die meisten verstehen die Kunst aus dem Effeff.«

Purzelchen hatte nicht übel Lust, beleidigt zu sein – für sich und alle anderen Mädels –, aber auf Herbert hätte das wenig Eindruck gemacht, und außerdem mochte er für manche wohl recht haben.

»Also nutze die Zeit,« fuhr er fort, »denn es kann sich ereignen, daß sich schon hier etwas bietet, was für deine Zukunft in Frage kommt. Obgleich – so ein Schwesternkostüm – man muß schon sehr kokett darin sein, damit es einen nicht zu lämmerhaft macht. Geradezu Angstempfindungen kann unsereins kriegen dabei. – Und fühlst du eines Tags, daß es da nichts mehr zu lernen und zu erleben gibt, dann sei nicht sentimental, sondern kündige ihm fix und vertrau dich deinem dich liebenden Bruder an. Der wird schon für dein Fortkommen sorgen.«

»Von deiner Chauffeurstellung aus?« fragte Purzelchen ungläubig und in dem Wunsche, sicher zu gehen.

»Red nicht so naseweis!« sagte der Bruder. »Hab' ich nicht schon einmal für dich gesorgt? Und im übrigen: glaubst du, kleines Schaf, etwa, daß es die einzige Stellung ist, die ich bekleide?«

Purzelchen horchte auf. Hier saß schon wieder ein Geheimnis, von dem niemand was ahnte.

Herbert knipste sie unter die Nase und sagte: »Reinen Mund halten, verstehst du? Gudrun verplempert sich, aber für dich oder für mich wird die große Partie schon noch kommen. Ich weiß ziemlich genau: Ich mach' schließlich das Rennen. Aber wer zuerst Glück hat, der hilft dem andern aus dem Schlamassel.«

Damit ging er von dannen und ließ Purzelchen in neuem Zweifeln und Hoffen zurück.

Wie dumm war sie gewesen, jemals zu glauben, daß der Bruder bis in die Morgenfrühe mit dem Doktor herumfuhr! Hätte der jemals um neun ausgeruht auf dem Plan sein können, wenn eine durchspielte oder durchzechte Nacht hinter ihm lag? Mindestens wären seine Hände zittrig gewesen, die aber taten ihr Werk mit der Sicherheit einer Maschine.

Also führte Herbert ein Doppelleben, dessen zweiter Teil sich in Nacht und Schweigen verlor.

Geehrt und begnadet fühlte sie sich durch dieses Vertrauen. Das menschliche Leben schillerte von Tag zu Tag in immer bunteren Kreisen, in deren Mittelpunkt sonnenartig geschrieben stand: die große Partie.

Und wenn sie nachmittags an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche vorüberging, wo gerade ein weißseidengepolstertes Brautauto hielt, dem lichtwolkenhaft ein langhinwallender Schleier enteilte, dann, in der staunenden Menge versteckt, preßte sie die Hände aufs Herz und dachte beklommen: ›Auch die macht eine große Partie.‹


 << zurück weiter >>