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Mit staunenden Augen und klopfendem Herzen war Purzelchen diesen Darlegungen gefolgt.
Gern hätte sie gewußt, was es war, womit die Schwester um ihretwillen zurückhielt, aber schon das, was sie aussprach, erschien ihr wie eine Offenbarung. Nur daß diese Offenbarung für sie selbst keine Geltung hatte. Sie war ja noch viel zu grün und würde wohl immer zu dumm bleiben, um der Herrlichen jemals nachleben zu können.
Für sie war nichts als der Alltag da mit Handelsschule und Schreibmaschinenbetrieb und einer späteren Stenotypistinstellung, in der man gerade so viel verdiente, um den Eltern eine kleine Pension zahlen zu können.
Vorläufig hing auch das in den Wolken, denn »perfekt« war sie noch lange nicht, und die Geheimnisse der doppelten Buchführung hatten sich ihr noch wenig entschleiert.
Von dem Amte einer Privatsekretärin träumte sie, bei einem Generaldirektor, der sie zur Vertrauten seiner weltumspannenden Pläne machte, oder bei einem berühmten Schriftsteller gar, der seine dichterischen Stoffe mit ihr durchsprach und bei dem sie nach Beendigung der Arbeitsstunden als Freundin und Beraterin sitzen bleiben durfte bis in die Nacht hinein.
Ein älterer Herr mußte es sein mit buschigem Silbergelock und blauen, schwärmerischen Augen, der sie wie eine Tochter liebte und dem sie mit segnender Hand die Denkfalten von arbeitsmüder Stirne vertrieb.
Bis dahin aber hieß es sehr fleißig sein und die Allgemeinbildung pflegen, um sich den höchsten Ansprüchen gewachsen zu zeigen. Und darum holte sie sich aus der Volksbibliothek allerhand Kunstgeschichtsbücher mit Bildern von Gemälden und Architekturen. Auch Dichterwerke las sie, von denen in der Literaturstunde die Rede gewesen war. Selbst an die Geschichte der Philosophie wagte sie sich heran, aber hierin kam sie über den düstern Empedokles nicht hinaus, der sich aus lauter Wissensdurst in den glühenden Schlund des Ätna gestürzt hatte.
So etwas würde sie niemals tun, darüber war sie sich klar. Selbst aus unglücklicher Liebe nicht. Hierfür gab es weniger schreckliche Todesarten. Man hatte nur nötig, die Gasheizung im Badezimmer zu öffnen oder sich Veronal verschreiben zu lassen, dann ging man schmerzlos hinüber. –
Aber auch dieses brauchte man vorläufig nicht in Betracht zu ziehen, denn unglückliche Liebe war ihr seit vorigem Winter nicht mehr begegnet.
Damals hatte sie für den Violinvirtuosen auf der anderen Seite des Hofes eine tiefe Leidenschaft gefaßt. Wenn er bei offenem Fenster übte, stand sie mit gefalteten Händen hinter dem Store und sog jeden der herüberhallenden Töne in sich hinein. Da er bereits eine Frau hatte, war an eine künftige Vereinigung gar nicht zu denken. Nichts weiter vermochte sie zu tun, als ab und zu ein Veilchensträußchen in das Schlüsselloch seiner Flurtür zu stecken und sich schweigend in Sehnsucht nach ihm zu verzehren.
Zu jener Zeit war der Gedanke an den Gashahn des Badezimmers ihr sehr vertraut gewesen, bis er von dem großen Erlebnis, das auch heute noch in ihr rumorte, von Grund aus vernichtet wurde.
Eigentlich war es ja, wie schon erwähnt, gar nicht ihre, sondern Gudruns Liebe gewesen.
Und die Geschichte kam so:
Eines Tages sagte die Schwester zu ihr: »Du, Purzelchen, ich hab' heut ein Rendezvous mit einem Herrn, dessen Adresse ich nicht weiß. Ich kann aber nicht hingehen, denn ich hab' noch ein anderes, älteres Rendezvous, das ich bei der Verabredung total vergessen hatte. Nun ist der Herr aber sehr nett, und ich möchte ihn nicht gerne versetzen. Geh doch mal hin, und wenn du ihn siehst,« – nun beschrieb sie ihn ziemlich genau – »dann mach ihm einen Knicks und sage: die junge Dame, die er erwarte, könne nicht kommen, und er möchte morgen vormittag unter unserer Nummer – die nennst du ihm – bei ihr anläuten.«
An sich war der Auftrag gar nicht so schwer, aber Purzelchen hatte doch einen furchtbaren Bammel. Und als sie den Herrn in der frühen Märzendämmerung auf dem Savignyplatz hin und her gehen sah, wäre sie am liebsten gleich wieder umgekehrt. Schlank und vornehm sah er aus, wenn auch nicht überaus elegant, hielt drei Rosen zwischen den Fingern und setzte die Füße ein wenig einwärts, wie die zünftigen Reiter es manchmal machen. Sie stand an der Haltestelle der Elektrischen und tat, als warte sie auf einen der Wagen. Und so verstrich eine geraume Zeit.
Da geschah etwas Wunderbares.
Er, der schon viele Male an ihr vorbeigegangen war, blieb plötzlich vor ihr stehen, lüftete höflich den Hut und sagte: »Mein liebes junges Fräulein, ich warte auf jemand, und Sie warten auch auf jemand, denn sonst würden Sie nicht alle Wagen vorüberfahren lassen, ohne einzusteigen. Wie wär's, wenn wir gemeinsame Sache machten, sonst langweilen wir uns beide zu Tode?«
Nun konnte sie doch nicht sagen: »Ich warte auf keinen anderen als Sie«, er hätte sich ja bucklig gelacht, und darum antwortete sie in ihrer Verwirrung: »Ganz wie Sie meinen, mein Herr.«
»Dann schlage ich vor, wir verlassen diese Stätte unserer beiderseitigen Niederlage und gehen in den Tiergarten, wo wir uns nach Herzenslust ausplaudern können.«
Damit legte er vertraulich ihren Arm in den seinen, und fünf Minuten später gingen sie wie alte Freunde an der Kunstakademie vorbei in die dunkelnden Gründe des Tiergartens hinein, in denen es schon vollkommen Nacht war.
Sie zitterte in dem Bewußtsein ihres Betruges – und noch aus anderen Gründen zitterte sie –, aber die drei Rosen, die er ihr gleich zu Beginn geschenkt hatte, hielt sie fest in der Hand. Um nichts in der Welt hätte sie sie wieder hergegeben, denn es war ja das erste Liebesabenteuer, das sie erlebte.
»Sie sind gewiß noch sehr jung,« sagte der Herr, »ich schätze Sie für noch nicht einmal siebzehn.«
»Noch nicht einmal sechzehn,« erwiderte sie.
Da wurde er ganz nachdenklich und sagte: »Da dürfte ich von Rechts wegen gar nicht mit Ihnen hier gehen, aber Sie können ganz ruhig sein. Es wird Ihnen nichts Böses geschehen.«
»Das fürchte ich auch gar nicht,« erwiderte sie, aber zittern tat sie noch immer.
Und dann fragte er nach Eltern und Geschwistern, und wie sie ihr junges Leben bisher geführt habe. Sie log natürlich, so gut sie konnte, denn das Geheimnis dieses Begegnens mußte vor allem gewahrt bleiben; nur als er nach dem Herrn fragte, den sie erwartet habe, vermochte sie nicht, ihm irgend ein Märchen zum besten zu geben.
»Ach Gott,« sagte sie, »das ist eine so dumme Geschichte, daß es sich gar nicht lohnt, darüber zu reden. Eine wirkliche Liebschaft habe ich noch niemals gehabt, denn was so an Herren um mich herum ist, das rechne ich nicht.«
Und dann erzählte sie von Willi und Kurt und Hans Joachim und dem Backfischgeplänkel, das zwischen ihr und den Gespielen im Schwange war.
Mit großer Aufmerksamkeit hörte er zu, er unterbrach sie auch gar nicht, nur manchmal, wenn sie etwas besonders Ulkiges zu berichten hatte, streichelte er leis ihre Hand.
Als sie mit ihren Erlebnissen zu Ende war, sagte er: »Das ist alles sehr lieb und sehr rührend, und ganze Ströme von Unschuld quellen daraus hervor. Aber sehen Sie mal ordentlich nach. Ihr Herzchen schlägt viel zu lebendig, als daß ihm nicht doch schon eine richtige Empfindung begegnet sein sollte.«
»Wie meinen Sie das?« fragte sie und freute sich, daß er im Dunkel ihr Rotwerden nicht bemerken konnte.
»Sie wissen ganz gut, wie ich das meine,« erwiderte er. »Also beichten Sie mal frisch darauflos von der ersten glühenden Liebe.«
Da konnte sie nicht anders, sie mußte ihm auch die Geschichte mit dem Geiger zum besten geben, und was sie an Qualen alles gelitten hatte, weil er von ihrer Sehnsucht nichts wußte und weil er ja doch verheiratet war.
Er redete auch jetzt nicht ein einziges Wort, und als sie geendet hatte, gingen sie noch eine Weile schweigend durch die finsteren Gänge. Dann wies er auf eine leere Bank, die schattenhaft am Rande stand, und sagte: »Der Abend ist schon warm. Wir wollen uns ein wenig setzen, Kindchen. Dann haben wir mehr voneinander.«
Ohne Zögern folgte sie ihm. Von Angst fühlte sie nicht ein Spürchen mehr, ja selbst dann nicht, als er den Arm um ihre Schultern legte und sie behutsam an sich zog.
Gerne hätte sie etwas von seinem Gesichte gesehen, aber es war so finster, daß sie gerade nur die Umrisse erkennen konnte: unter dem flotten Hütchen ein geradliniges Nasendreieck und ein scharfgezeichnetes Lippenpaar, das auf einer kräftigen Kinnwölbung ruhte.
»Nun weiß ich schon eine Menge von Ihnen,« hörte sie seine Stimme – es war eine weichschwingende, eine Waldhornstimme sozusagen – »und Sie wissen von mir noch rein gar nichts.«
»Ach ja, bitte!« rief sie. Nichts auf der Welt gab es, das ihr in diesem Augenblicke interessanter gewesen wäre.
»Ich bin Landwirtschaftler«, begann er, »und studier' auf der Hochschule. Darum hab' ich auch eigentlich zu Liebesgeschichten gar keine Zeit. Aber gestern hatte ich gerade die Semestralprüfung bestanden und fühlte mich so beglückt, daß ich in der Elektrischen der jungen Dame, die mir gegenübersaß, gerad ins Gesicht lachte. Sie lachte wieder, und da wurden wir dann bekannt.«
›Aha, so macht sie's,‹ dachte Purzelchen und fühlte zugleich, daß sie für all das viel zu talentlos war.
»Daß sie mich sitzen gelassen hat,« fuhr er fort, »ärgert mich gar nicht mehr, obwohl sie sehr hübsch war, denn ich habe ja Sie! Aber nun müssen auch Sie mir endlich sagen, auf wen Sie gewartet haben.«
Die Scham übermannte sie so, daß sie am liebsten aufgesprungen und davongelaufen wäre.
»Ich kann nicht! Ich kann nicht!« flüsterte sie und barg unwillkürlich ihr Gesicht an seiner Achsel. Er schloß den Arm enger um sie, und so lag sie denn gegen seine Brust gedrückt, ganz warm, ganz heimelig, und wünschte in ihrem Innersten, dies möchte niemals ein Ende nehmen.
»Gut!« hörte sie ihn dicht über sich sprechen. »Wenn das so schwer ist, will ich nicht eher wieder fragen, als bis Sie es mir selber sagen. Denn sagen werden Sie's mir künftig einmal, darauf können Sie Gift nehmen.«
»Künftig einmal?« fragte sie, indem sie sich ganz erschrocken von ihm löste. »Wollen wir uns denn wiedersehen?«
»Natürlich wollen wir das,« erwiderte er. »Wenn man so was Liebes gefunden hat wie Sie, dann läßt man es nicht wieder los. Sagen Sie mir Ihre Telephonnummer, damit ich anläuten kann.«
Ein neuer Schreck rieselte heiß in ihr nieder. Wenn Gudrun früher als sie ans Telephon kam und wenn sie seine Stimme erkannte – was dann?
»Nein, das geht nicht,« stammelte sie, »dafür bin ich viel zu bewacht. Wir müssen jetzt gleich etwas verabreden.«
»Morgen um dieselbe Stunde,« schlug er vor. »Und an demselben Orte.«
»Das geht auch nicht,« rief sie in aufsteigender Angst. Gudrun hatte ihr erzählt, unter Liebenden sei es Sitte, daß sie, wenn sie sich aus irgend einem Grunde verfehlen und einander keine Nachricht zusenden können, am nächsten Tage den gleichen Rendezvousplatz aufsuchen, um womöglich des anderen Teiles noch habhaft zu werden.
Wenn auch Gudrun hiernach handelte, dann konnte ein schöner Reinfall daraus werden.
So wurde also die Unterführung am Bahnhof Tiergarten bestimmt, wo man beim Warten vor etwaigen Regenfällen immer geschützt war. Und bald danach trennten sie sich.
Nun kam eine wunderwunderschöne Nacht. Gudrun war aus, und darum konnte sie ungestört vor sich hinträumen.
Eigentliche Vorwürfe machte sie sich nicht mehr, denn die Schwester hatte ja so viele! Die brauchte nur ihre zehn Finger auszustrecken, und sofort hingen zehn Verehrer daran. Sie aber hatte noch nie einen gehabt. Einen richtigen noch nie, denn, wie gesagt, Willi und Kurt und Hans Joachim zählten nicht mit.
Aber vor der Lügerei war ihr doch mächtig bange. Sie wußte noch nicht einmal recht, was sie der Schwester sagen würde. Darum hielt sie es fürs beste, sich bei deren Heimkunft schlafend zu stellen. Aber diese Vorsicht erwies sich als unnütz, denn als Gudrun endlich kam, schlief sie schon wirklich.
Am nächsten Morgen vollzog sich der Schwindel glatter, als sie gedacht hatte. Gudrun machte bei der Nachricht, der Erwartete sei nicht erschienen, ein finsteres Gesicht, aber im übrigen gab sie sich rasch wieder zufrieden. Solche Nieten gehörten nun einmal zum großen Lotteriespiel der Liebe.
Purzelchen lief den ganzen Tag über daher wie eine Verzauberte. Ein Liebhaber, ein richtiggehender Liebhaber! Und sie war doch noch nicht einmal sechzehn.
Um die Sechsuhrdämmerung herum stand sie an dem verabredeten Platze, unschuldsvoll gegen den Pfahl der Haltestelle gelehnt, aber die Augen fest auf die Normaluhr gerichtet.
Und dann plötzlich fuhr sie hoch auf, denn neben ihr hatte die Waldhornstimme gesagt: »Guten Abend, mein kleines Fräulein.«
O Gott, da war er! Da war er wirklich. Bis zum letzten Augenblick hatte sie noch immer gefürchtet, daß er ausbleiben würde. Kaum wagte sie, zu ihm emporzublicken, und als sie's wirklich tat, da bemerkte sie, daß er sehr ernst aussah, viel ernster, als sie ihn sich vorgestellt hatte.
Und er nahm auch nicht ihren Arm, sondern ging, eine kleine Entfernung lassend, wie ein Fremder neben ihr her.
Vom Wetter sprach er – wie schön warm die Vorfrühlingstage seien – und wieviel Freude es mache, an ihnen spazieren zu gehen. Ganz wie ein Fremder.
Und in ihr schrie es: ›Hat er was gegen mich? Ich bin ihm gewiß nicht gut genug.‹
Aber als es ringsum dunkler und dunkler wurde, da taute er wieder ein wenig auf, fragte sie nach den inzwischen verflossenen Stunden, und ob es ihr auch nicht schwer gefallen sei, der Aufsicht der Ihrigen zu entwischen.
Sie gab kurze, verworrene Antworten und dachte nur immer das eine: ›Warum legt er nicht wie gestern meinen Arm in den seinen?‹
Und plötzlich hielt er den Schritt an und sagte: »Wissen Sie, wo wir sind?«
Sie schaute um sich. Nein, sie wußte von gar nichts.
»Aber das ist ja unsere Bank.«
Ja richtig, da stand sie.
Und » unsere Bank« hatte er gesagt. Wenn er »unsere« sagte, dann konnte er ihr doch nicht so fremd sein, wie sie geargwöhnt hatte.
Zugleich faßte er sie bei der Hand und zog sie auf den Sitz hernieder. Aber als er neben ihr Platz nahm, da ließ er wieder eine gewisse Entfernung zwischen sich und ihr, als wenn sie noch niemals im Leben an seiner Brust gelegen hätte.
Das Herz schlug ihr bis zum Halse empor, und immerzu fragte sie sich: ›Was wird jetzt kommen?‹
Und da begann er: »Mein liebes Kindchen! Ich habe gestern eine große Unvorsichtigkeit begangen, indem ich Sie anredete und zum Mitkommen einlud. Mancher würde sogar sagen, es sei ein Verbrechen gewesen. Auf alle Fälle aber muß ein Verbrechen daraus werden, wenn ich das Begonnene nun weiterspinne. Sie sind das Reinste, das Holdeste, das Unschuldigste, was man sich denken kann. Ganz abgesehen davon, daß Sie ja eigentlich noch in den Kinderschuhen stecken. Und selbst wenn ich noch so sehr Ihre Unschuld achte und ehre – daß ich das tun würde, das versteht sich von selbst –, ich würde schweres Leid über Sie bringen. Sie würden sich an mich gewöhnen, würden mich vielleicht sogar liebgewinnen –«
›Er macht so, als ob ich das überhaupt noch brauche,‹ dachte Purzelchen.
»– würden mir Ihre schönsten Jungmädchenjahre opfern, und das Ende vom Liede würde sein, daß ich Sie sitzen ließe.«
»Glauben Sie etwa, ich denk' schon ans Heiraten?« fragte Purzelchen, all ihren Stolz zusammennehmend.
»Nein, nein, das nicht. Gewiß nicht. Aber wenn ich mir ein so liebes, junges Menschenkind zu eigen mache, dann muß ich daran denken … Ich habe die ganze Nacht über wachgelegen und mir zurechtgelegt, was mit uns werden könnte. Nichts kann mit uns werden. Rein gar nichts. Denn Sie sind arm und ich auch. Und ich habe Pflichten zu erfüllen, große, unabweisbare Pflichten gegen eine ganze Familie, gegen einen Besitz, der uns verlorenging, und dafür muß ich Geld schaffen, ein ganzes Vermögen muß ich schaffen, gleichviel, woher. Da darf ich mir so was wie Liebe nicht gönnen. Sie aber hab' ich schon lieb. Das hab' ich, weiß Gott, und würde Sie tagtäglich immer noch lieber haben.«
Wie Purzelchen das hörte, da fing sie vor lauter Glück und Unglück hell zu weinen an.
Und nun mußte er sie doch in den Arm nehmen. Genau so wie gestern. Ja, lieber und inniger noch als gestern.
An seiner Brust lag sie und schluchzte. Und jetzt war es nur Glück. Ja, eitel Glück war's, daß sie da liegen und weinen konnte, wo sie gestern gelegen hatte.
Er aber hob die Hand zu ihrer Backe empor und streichelte leise darüber hin – um den Rand des Topfhuts herum, längs des Ohres hinunter und an Mund und Nase vorbei wieder herauf.
Noch nie im Leben hatte sie eine so schöne Empfindung gehabt. Wie wenn ein Engelsfittich sie streifte, so war es.
Und als sie sich ein wenig beruhigt hatte, da fuhr er fort: »Sehen Sie, mein liebes Kindchen, – bei Gott, ich kenne Ihren Vornamen noch nicht einmal – wie ich so dalag und an Sie dachte, da wurde es mir ganz klar, daß wir uns – nie mehr – wiedersehen dürfen.«
Purzelchen fuhr steil in die Höhe. »Nie mehr?« fragte sie in erschrockener Bitte.
»Nie mehr,« erwiderte er. Und jetzt war seine Stimme nicht weich wie ein Waldhorn. Sie war wie ein Hammer, der auf einen Felsen schlägt.
Dagegen gab es keinen Widerspruch und kein Betteln. Und darum schlang sie auch nur die Arme um seinen Nacken, wie sie es sonst bei Papa gemacht hatte, und drückte die Backe an seinen Hals, um ihm rasch noch ein wenig näher zu sein.
Und dann geschah es von selber, daß sie sich küßten. Wer von ihnen den Mund des anderen zuerst gesucht hatte, würde wohl keiner zu sagen gewußt haben.
Und Purzelchen trank diesen Kuß, als hätte sie den Quell ihres Daseins gefunden. Ein Selbstverständliches war's und ein Wunder zugleich. Sie hatte nur das eine Gefühl: ›So schön wird das Leben nie wieder.‹
Und so trank sie und trank, bis er sie leise von sich schob und aufstehend sagte: »Wir müssen gehen.«
Da hatte die Welt plötzlich ein Ende, und vor ihr lag ein schwarzes, greuliches Nichts.
In dieses Nichts schritt sie tapfer hinein, eng an seine Seite geschmiegt, denn von der gewissen Entfernung war nun nicht mehr die Rede. Und immer noch hoffte sie, er werde seinen Entschluß irgendwie mildern und sie für dann und wann wieder an seine Seite rufen.
Aber nichts dergleichen geschah. Als sie die beiden Brücken überschritten hatten, die in trotzigem Bogen über den schäumenden Gischt der Wehre geworfen sind, und die Lichter des Zoo drohend zwischen dem noch kahlen Geäste hervortauchten, hielt er plötzlich an und sagte: »Wir werden jetzt Abschied nehmen, Kind! Nachher unter den Menschen gehen wir dann auseinander wie Fremde. Ich weiß deinen, du weißt meinen Namen nicht, und gesehen haben wir uns nur im Dunkeln, so daß wir uns kaum wiedererkennen würden, wenn wir uns später einmal durch Zufall begegnen.«
›Ich werde ihn noch im Himmel wiedererkennen,‹ dachte sie, aber sagen tat sie nichts.
»Außerdem werde ich, wenn meine Studienzeit vorüber ist, von Berlin weggehen und so gut wie nie mehr zurückkommen. Als Landwirt hab' ich hier nichts mehr zu suchen, besonders wenn ich ein armer Inspektor bin oder desgleichen. Auf ein Wiedersehen in diesem Leben ist also kaum mehr zu rechnen.«
›Mag er nur reden,‹ dachte sie. ›Ich lauf' ihm nach und erfahre so, wo er wohnt? Aber davon ließ sie natürlich nichts merken.
Und als er sie jetzt zum Abschied noch einmal in seine Arme schloß, fühlte sie sich nicht im mindesten bewegt, so ganz hielt ihr verzweifelter Plan sie im Banne.
Dann schritten sie von dem abseitigen Pfade wieder der Menschenmenge zu, die zu allen Zeiten dort hin und her wogt.
Bevor die große Helle kam, hielt er noch einmal an.
»Eins nur möcht' ich dich fragen,« sagte er, »damit es mir leichter wird. Nämlich: wie du mit Vornamen heißt. Ich muß doch wissen, an wen ich hernach immer zu denken hab'.«
Nun hatte sie ja sagen können »Annemarie« oder meinetwegen »Annemie«, aber das wäre ein halber Betrug gewesen, denn wer sie liebhatte, nannte sie »Purzelchen«.
Und wie dieser Name ihr über die Lippen rann, war sie ganz froh, denn von nun an gehörte er in die Gemeinschaft der Ihrigen.
»Purzelchen,« wiederholte er leise. Er hatte ihr Zutrauen wohl verstanden, denn seine Stimme bebte in lächelnder Rührung. Und weiter fragte er nicht.
Gleich darauf waren sie mitten im Menschenstrom.
Noch ein paar Schritte gingen sie nebeneinander, dann sagte er plötzlich: »Leb wohl!«
Und ohne ihr die Hand zu reichen, rannte er ihr voraus wie gehetzt. Und mit einmal war er verschwunden.
Sie wollte rufen oder besser noch laufen, wie ihr Plan es verlangte, aber Stimme und Glieder erschienen ihr wie gelähmt.
Und damit war ihre erste – wirkliche – Liebe zu Ende.
Doch nein. Zu Ende war sie noch lange nicht. Wochen und Wochen über dachte sie nur an ihn. Nachts träumte sie von ihm, beim Einschlafen betete sie für ihn und beim Aufwachen wieder. Sie wußte selbst nicht, warum sie auf einmal so fromm war.
Wenn sie in Stunden ging oder aus Stunden zurückkam, ertappte sie sich immer von neuem, wie sie auf den Savignyplatz lossteuerte, obwohl es ein Umweg war, in der heimlichen Hoffnung, ihm dort zu begegnen.
Selbst nach der Landwirtschaftlichen Hochschule fuhr sie etliche Male und lauerte dort vor dem Tore. Viele kamen und gingen, aber er war niemals darunter. Auch als das neue Semester begann, zeigte sich keine Spur von ihm.
Da gab sie ihn endlich verloren, und als der Sommer herankam, glitt sie allmählich in das alte Seelengeleise zurück.
Nur das Glücksgefühl hielt an, etwas sehr Großes und Schönes erlebt zu haben, das ihr bleiben würde bis an den Tod.
Wie gerne hätte sie es der Schwester anvertraut, doch das ging, wie die Dinge lagen, nicht an. Außerdem war es etwas so Heiliges, daß man darüber zu niemandem reden konnte.
Aber das alles hinderte nicht, daß sie in Gudruns Weltanschauung Ziel und Vorbild erblickte. Viel zu stark wirkte deren selbstgewisse Sicherheit auf sie ein, als daß sie sich ein anderes Ideal der Lebensführung hätte vorstellen können, mochte sie auch weit davon entfernt sein, ein klarumrissenes Bild damit zu verbinden.
Und darum galt ihr das, was Gudrun an jenem Morgen den Eltern vorhielt, als eine Offenbarung, der man nachzuleben hatte, wenn etwas wie Liebe an einen herantrat. – – –
Fürs erste freilich war an Liebe nicht viel zu denken.
Auch für die Schwester nicht.
Denn die Weihnachtszeit nahte, die die Kraft eines jeden Familienmitglieds in Anspruch nahm.
Von morgens um neun Uhr an mußten die beiden Mädchen am Ladentisch stehen, um den Eltern und den zwei Angestellten Hilfe zu leisten.
Das war Gesetz seit etlichen Jahren.
Für das Weihnachtsgeschäft bekam alles ein anderes Gesicht. Ein Fremder hätte den Laden gar nicht wiedererkannt.
Die verschiedenen Sortimente, die sonst die Auslagen füllten, waren verschwunden, statt ihrer stapelte in kunstvollen Bauten der Stoff für die »bunten Teller« sich auf.
Da waren Pfefferkuchen von mannigfaltigster Herkunft. Die Thorner Katharinchen, die Aachener Printen, die Baseler Leckerli, die Liegnitzer Bomben und viele andere, zumeist von Papa in nächtlicher Arbeit selber erzeugt. Ebenso wie die marzipanenen Herzen, Räder und Sterne, deren Ursprung nach Königsberg wies, mit knusprigen Rändern und klebrigem Früchtebelag, während alles, was des Zuckergusses entbehrte und als Ersatz dafür kunstvoll gefärbte Stilleben bot, der Einfachheit halber wirklich und wahrhaftig aus Lübeck bezogen wurde. –
Auch Baumbehang war da von funkelnder Pracht. Äpfel, Birnen, Blumen, Champagnerflaschen, Notizbücher, Zigarren, Puderdosen, Bleistifte, Schmetterlinge – von außen durch Flitter und Schaumgold zu Traumgebilden verflüchtigt, von innen aber aus kräftigster Schokolade und beim Plündern des Baumes um die Neujahrszeit zu nochmaligem Magenverderben höchst passend.
Sodann gab es Tierzeug, wie es eigentlich in einen Spielzeugladen gehörte, doch durch seinen pralinengefüllten Leib zum Hiersein vollauf berechtigt. Störche, Hunde, brummende Bären, bähende Lämmer, eine ganze Arche Noah war da, in einer Sintflut von Süßem beinahe versunken.
Ein halbes Vermögen hatte Papa in Bonbonnieren angelegt, wie sie verschämte Liebhaber im Stadium der Vorbereitung – später kommt der Juwelier an die Reihe – ihren Erwählten zu Füßen legen. In jenem illegitimen Genist prunkten Meißner Porzellane, Barbediennebronzen und Chinoiserien von sinnberückender Anmut. Wer sie auch immer erwarb, der durfte künftigem Erhörtsein zuversichtlich entgegenharren.
Mama, die solche Kunden am scheuen Umblick und am echten Otterkragen schon beim Eintritt erkannte und mit Hintansetzung aller anderen für sich in Beschlag nahm, verstand es, ohne Deutlichkeit, doch mit umso schelmischerem Lächeln auf derartige Gewinnchancen hinzuweisen, und erntete nicht selten vollen Erfolg, so daß Papa wegen der hineingesteckten Summe nicht in Sorge zu sein brauchte.
Für so feine Leute war Purzelchen viel zu dumm. Selbst Gudrun ließ Mama nicht gerne an sie heran, doch aus einem ganz anderen Grunde: Sie fingen nämlich sofort an, ihr mit Todesverachtung den Hof zu machen und genierten sich dann, durch eine größere Ausgabe zu offenbaren, daß ihr Herz sich bereits in festen Händen befand.
Für Purzelchen waren noch nicht einmal die Hausfrauen da, die eine Bedienung von sicherer Rechenkunst und scheinbarer Sparsamkeit vor sich zu sehen liebten. Die so gern gehörte Formel: »Gnädige Frau kommen vorteilhafter dabei weg, wenn usw.«, die meist dazu diente, zu kostspieligerem Einkauf anzufeuern, wollte ihr durchaus nicht über die Lippen. Und darum wurden ihr fast nur Krethi und Plethi, Dienstmädchen und Kinder übergeben, deren unerhebliche Wünsche selbst in der Weihnachtszeit nach rücksichtsvoller Behandlung verlangten.
Und so wirkte sie unentwegt mit kalten Füßen und schnupfiger Nase, zwei bis drei Wochen lang, bis die zwiefach frohe Botschaft des Heiligen Abends sie von ihrer Fron erlöste.
Nur das Bewußtsein, in der einzig ersprießlichen Zeit des Jahres – denn das Osterhasengeschäft war nur ein matter Abklatsch hiervon – den Eltern beim Geldverdienen geholfen zu haben, bot Befriedigung und Trost.
Und dann zur Belohnung kam der Weihnachtsbaum und der Weihnachtsteller, auf dem sich aber um Gottes willen nichts Süßes vorfinden durfte.
Schlecht geworden wär' einem dabei.