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Zwölftes Kapitel.
Wen Purzelchen unter Herrn Samuels Gästen fand

Zu Anfang Juli ereignete es sich, daß Herr Gerberding für etliche Zeit Berlin verlassen mußte, da es ihm geboten schien, die Industriebezirke des Westens im Hinblick auf Vertretungen und Optionen sorgfältig zu durchmustern.

»Die Firmen haben ja fast alle ihre Berliner Büros,« sagte er, »aber man verkehrt am besten mit den Chefs selber. Die wissen gleich, wen sie vor sich haben, und daraus wird dann das Gentlemanabkommen, das am wenigsten bindet und einem die sichersten Vollmachten bringt.«

Purzelchen bewunderte das neue Zeugnis seiner Eroberernatur, begleitete ihn zum Bahnhof und war stolz darauf, von einem Manne Abschied nehmen zu dürfen, der – wie jeder sehen konnte – in einem Schlafcoupé erster Klasse durch die Welt fuhr.

Und nun war bis auf weiteres das abendliche Ausgehen zu Ende.

Die Speisesäle und die Tanzbars verwandelten sich in verlorene Paradiese, und der kalte Aufschnitt – das Viertel zu sechzig Pfennigen – waltete wieder über dem eng gewordenen Leben.

»Hör mal, Kleines,« sagte Gudrun eines Morgens, »du fängst mir an, zu solide zu werden. Es muß etwas für dich geschehen. Ich hab' einen neuen Freund, reicher Junge, wie's scheint, und für den Bummel sehr zu gebrauchen. Aber ich bin noch nicht weit mit ihm und weiß auch nicht, ob es was Richtiges werden wird. Darum will ich ihn allein in seiner Wohnung noch nicht besuchen und hab' darauf gedrungen, daß er einen kleinen Tee arrangiert. Drei Paare, mehr nicht. Mit nachherigem Ausflug ins Grüne. Die Herren schafft er, eins von den Mädeln auch. Du sollst die dritte sein. Von zwei Schwestern schützt eine immer die andere, so daß beim Sekt nichts Ungehöriges vorkommen kann. Küssen ist erlaubt, aber im übrigen – tabu.«

»Was heißt das?« fragte Purzelchen, noch ungewiß, ob sie annehmen sollte.

»Das heißt: ›Nu aber Schluß!‹ oder ›Ich muß sehr bitten, mein Herr!‹ Wie es sich eben für strenge Tugend geziemt.«

Die letztere Wendung gefiel Purzelchen wohl, und darum sagte sie zu.

Der Doktor war einigermaßen verwundert, als er beim Anlegen der Schwesterntracht Purzelchens üppig nackte Arme gewahrte, die sie sonst nicht zu zeigen pflegte. Gudrun wollte sie nämlich um fünf vor dem Hause erwarten, so daß zum Umziehen keine Zeit mehr geblieben wäre.

Als er sie nach dem Grunde fragte, redete sie sich mit der großen Hitze heraus, und er war's zufrieden, seine Lippen zwischen Handgelenk und Schultermuskel spazieren zu führen, was ihr wenig Leid, aber auch wenig Vergnügen bereitete, denn er wurde ihr gleichgültiger von einem Tage zum andern. – –

Glücklicherweise waren nachmittags nicht viel Patienten gekommen, so daß pünktlich um fünf Schluß gemacht werden konnte.

Unten stand die Schwester bereits, nahm der Eile wegen ein vorüberfahrendes Auto, aus dem sie gerade noch Herbert zunicken konnte, der in diesem Augenblick mit dem blitzenden Buickwagen vorfuhr. –

Purzelchen aber sah weg, denn sie schämte sich ihres Gefährtes. So vornehm war sie durch Herrn Gerberding geworden, der die schwarz-weißen Quadrate verabscheute.

Gudruns neuer Freund hieß Samuel, bewohnte die Villa seines unlängst gestorbenen Vaters und war mit dessen Tode nicht bloß Besitzer einer bekannten Spinnerei, sondern auch zweier Rittergüter geworden, die der geschäftstüchtige Mann in der Inflation für einen Pappenstiel an sich gebracht hatte.

Das alles erzählte ihr Gudrun, während sie beide nach dem Grunewald hinausfuhren.

Purzelchen, die noch nie auf einem Junggesellentee gewesen war, fühlte sich bange genug, aber der Name des Gastgebers beruhigte sie wieder. Denn besonders die jüdischen Herren mochten sie alle, das wußte sie von des Doktors Sprechzimmer her. –

Ach, war das Haus schön! In der Hubertusallee lag es, vornehm zurückgebaut und umgeben von einem Dickicht blühender Kletterrosen wie Dornröschens Märchenschloß.

Und als die Tür zur Halle sich auftat, stand vor ihnen ein marmorner Wandbrunnen, eingelassen in eine Nische von Goldmosaik, und darüber blau, lila und purpurn schillernde Scheiben, hinter denen Flammen versteckt sein mußten, denn alles leuchtete von innen heraus.

Und dann kam ein Saal, ein Betsaal gewiß, mit goldener Decke, goldenen Heiligenfiguren und goldenem Gegitter vor dunklen Altären. Betstühle standen ringsum und Taufbecken und Kirchenlaternen, so hochgestielt vom Boden her, daß man zu ihnen aufschauen mußte.

Obgleich es ja heller Tag war, drang von außen her nicht der leiseste Schimmer, denn purpurne Vorhänge hingen vor den geschlossenen Läden. Aber aus milchgläsernen Schalen tropfte ein bernsteinfarbenes Licht, und auch die Altarbilder waren erleuchtet, nur konnte man nicht erkennen, woher.

Purzelchen spürte ein so heftiges Herzklopfen, daß sie am liebsten gleich wieder umgekehrt wäre. Auch Gudrun, die sich nicht leicht verblüffen ließ, stand ganz benommen da. Doch die Verzauberung währte nicht lange.

Die Tür zum Nebenzimmer wurde aufgerissen und inmitten eines Rahmens von Sonnenlicht stand ein breitbrüstiger, flott umrissener junger Mann, anzuschauen wie die Schattenzeichnung aus einem Modejournal.

»Oh, wen haben wir da?« sagte er, geradeswegs auf Purzelchen lossteuernd.

Und als Gudrun ihm ihren Namen nannte, sah sie in seinen Augen auch schon die Rührung aufschimmern, die sie als Wirkung ihres ersten Erscheinens so oft beobachten konnte.

Ein hübscher junger jüdischer Mann mit zwei Achataugen im Kopf und blanker schwarzer Frisur, die, weit zurückgestrichen, die Wölbung einer offen lachenden Stirne bloßlegte. Und so gepflegt! Und elegant! Und duftend nach tausend Essenzen!

»Nun kommt aber, Kinder!« sagte er, nachdem er beiden die Hand gereicht hatte. »Es wartet schon alles auf euch.«

Damit legte er ohne viel Umstände jeder einen Arm um die Schulter und führte sie in das Nebengemach, das ganz von Licht überflutet war.

Zuerst sah Purzelchen gar nichts, außer ein paar dunkle Gestalten, die sich zur Begrüßung erhoben hatten.

»Fräulein Doktor Dora Keilholz, Herr Doktor Lavalle, Herr von Nadolny,« hörte sie die Stimme des Hausherrn.

Drei Hände streckten sich ihr entgegen, die sie ohne weiteres ergriff. Und dann durfte sie sich setzen und bekam eine Tasse Tee in die Hand, mit der sie sich eifrig beschäftigte.

»Wir sind hier alles Landwirtschaftsleute,« hörte sie den jungen Hausherrn weitersprechen.

»Bitte, bitte, ich ebenso wie Sie nur zum Teil,« erwiderte eine weiche, volltönende Frauenstimme. Purzelchen schaute auf und umfing mit dem Blicke ein schönes, elfenbeinernes Mädchengesicht, das aber von einem Paar dunkelumrandeter Augengläser entstellend durchquert wurde.

»Wir alle nur zum Teil,« sagte der Hausherr, »mit Ausnahme Nadolnys höchstens. Aber wenn Sie erst den Doppeldoktor hinter sich haben, werden auch Sie ganz dazu gehören. Sie ist nämlich ein furchtbar gelehrtes Haus« – damit wandte er sich erklärend an die zwei Schwestern. »Die Agrikulturchemie hat sie schon hinter sich, und nun kommt die Nationalökonomie an die Reihe.«

»Wozu eigentlich der ganze Zimt?« fragte eine zweite, etwas knarrige Männerstimme. Und Purzelchen, die die Augen weiterwandern ließ, sah einen gleichfalls sehr eleganten, gleichfalls brünetten, doch nicht mehr ganz jungen Herrn, dessen mit der Millimeterschere gekürztes Haar über den Ohren schon einen weißlichen Samtglanz zeigte. Das war der, den Herr Samuel vorhin Doktor Lavalle genannt hatte. Ein Monokel trug er im Auge und saß großartig und gelassen da, wie die berühmten Lebemänner, zu denen sich auch Herbert gerne gerechnet hätte.

»Ihr Mädels könnt ja studieren, soviel ihr wollt,« fuhr er fort, »aber darüber dürft ihr niemals vergessen, daß eure Bestimmung die Liebe ist.«

Die junge Doktorin schlug eine bescheidene, aber trotzdem sehr überlegene Lache auf.

»Sie irren, mein lieber Doktor Lavalle,« erwiderte sie. »Die Arbeitsteilung, die heute alle Welt regiert, erstreckt sich auch auf das Frauentum. Die Spezies Weibchen – Weib chen, – ich bitte, das ›chen‹ betonen zu dürfen, ohne einer der Anwesenden zu nahe treten zu wollen – mag für die Liebe dasein. Obgleich das allgemeine Arbeitsfieber auch sie schon ergriffen hat. Aber einer, die wirklich Wissenschaft treibt, bleibt dafür gar keine Zeit. – Und dann ›Bestimmung‹. Wenn ich von meiner Bestimmung reden darf, so heißt sie ›Bodenkultur‹. Und zwar nicht, wie bisher, von der agronomischen, sondern von der staatswissenschaftlichen Seite beleuchtet. Die Ergebnisse einer solchen Forschung müssen maßgebend werden für vollkommen neue gesetzgeberische Leistungen, die tief in die bisherigen Rechte des Eigentümers einschneiden. Eine ganz neue Epoche der Ertragsorganisation muß so hereinbrechen. Daran will ich arbeiten bis zu meinem letzten Atemzug, und da kommen Sie mir, mein lieber Doktor Lavalle, mit so was wie Liebe!«

Während sie sprach, sperrte Purzelchen Augen und Ohren auf.

So hatte sie noch nie ein weibliches Wesen reden hören. Ja, sie hätte niemals gedacht, daß ein weibliches Wesen so reden könne. Wie stolz sie die Liebe von sich hinwegschob, die Purzelchen stets für das Höchste auf Erden gehalten hatte! Und wie schön sie dabei war! Ein hauchzarter Schimmer wie das Rosa auf einem weißgelblichen Teerosenblatt hatte sich auf ihren Wangen eingefunden, und die schmalen Lippen schürzten sich zu schwellender Rundung. Wären nur die Brillengläser nicht gewesen, die die hehre Holdseligkeit dieses durchleuchteten Angesichts wieder zerstörten.

Doktor Lavalle nippte langsam an seiner Teetasse, als wolle er sich dadurch zu einer Erwiderung stärken.

»Ja, meine teure Doktorin,« sagte er dann mit einer Herablassung, die etwas gewollt schien. »Ihre Begeisterung entwaffnet natürlich jeden noch so erbitterten Gegner, und kommt noch das Weibtum hinzu, auf das Sie so wenig Gewicht legen, dann wird ein ebenso rabiater Anhänger daraus. Nur zu einem schüchternen Einwand hab' ich noch gerade die Kraft: Die neuen Verwaltungsmaßnahmen, die Sie mit Ihrer Wissenschaft erzielen wollen, mögen ja recht gut und recht schön sein, aber haben Sie nicht vielleicht selber schon geargwöhnt, daß die Resultate, auf die Sie hinarbeiten, durch die dumme Privatwirtschaft ohne jedes Hineinschnüffeln des Staates bereits längst erreicht sind? Glauben Sie mir: das ergibt sich alles nach bloßen Instinkten – genau wie die Liebe, der Sie so gram sind.«

Purzelchen wäre dem Redner am liebsten in die Haare gefahren, die er nicht hatte, so sehr ärgerte sie sich über das Freche in seiner Erwiderung, das sie gerade noch zu ahnen vermochte. Wie gerne wäre sie der Bedrohten zu Hilfe gekommen, aber die hatte sich nicht im mindesten beirren lassen, sondern antwortete mit lippenspitzendem Lächeln: »Selbst wenn Sie als Fachmann tausendmal recht hätten, mein lieber Doktor Lavalle, dann wäre es immer noch von Wert, die von Ihnen gerühmten Instinkte auf ihre Richtigkeit hin nachprüfen zu lassen. Aber Fachmann sind Sie ja gar nicht. Obwohl ihr Rittergüter besitzt, ihr beiden, so seid ihr doch nichts weiter als kaufmännische Dilettanten. Da wollen wir erst mal Herrn von Nadolny hören, der wirklich viel von diesen Dingen versteht.«

Damit wandte sie sich dem dritten der anwesenden Herren zu, den Purzelchen bisher nicht beachtet hatte und der im Schatten der Fensterwand, fast selbst nur ein Schatten, stillschweigend dasaß.

Und wie sie dem Blicke der Sprecherin folgte, sah sie plötzlich zwei Augen in starrendem Brennen so selbstvergessen auf sich gerichtet, daß ihr ein Schreck heiß zum Herzen emporstieg.

Die Augen kenn' ich doch!‹ schoß es ihr durch den Kopf.

Ein kleines Schweigen entstand, denn über dem Anstarren hatte der Herr die Frage ganz überhört, die an ihn gerichtet wurde.

Und dann lachten sie alle, da die Glut seines Blickes keinem entgangen war. Auch Gudrun lachte mit, legte aber sofort, wie um sie zu schützen, den Arm um die Schulter der Schwester.

» Coup de foudre.« » Love at first sight,« so ging wiederum das Ulken und Prusten.

Von Scham geduckt saß Purzelchen da, fürchtend, daß sie gleich losweinen würde.

Beim zweiten Hinsehen wußte sie schon, wer es war.

Der Herr vom Savignyplatz war's. Er, er! Kein anderer als er. Unter Tausenden hätte sie ihn wiedererkannt, genau so, wie sie sich's immer vorgestellt hatte.

›Um Gottes willen, nimm dich zusammen!‹ schrie es in ihr.

Und da wachte er auf, sah mit wirrem Blick in die Runde und strich sich über die Stirn.

»Verzeihung, – ich war etwas zerstreut,« sagte er.

Die Stimme! Die Waldhornstimme! Die liebe Waldhornstimme!

Immer und immer hatte sie ihr im Ohr geklungen.

»Nein, nein, wir wollen nicht stören,« sagte der Hausherr. »Setzen wir die beiden nur gleich zusammen, damit ihr Schicksal nicht zögert, sich zu erfüllen.«

Und alle lachten von neuem.

Purzelchen sah sich hilfeflehend nach Gudrun um, und die verstand sie sogleich.

»Laßt doch das Kind!« sagte sie. »Die weiß noch gar nichts vom Leben. Die nimmt das alles für Ernst.«

Damit zog sie sie an sich und küßte sie auf das Haar, so daß Purzelchen sich in ihrer Obhut wieder ein wenig freier fühlte.

›Wenn ich jetzt tapfer wäre,‹ dachte sie, ›dann sagte ich einfach zu ihm: Komm, wir wollen hier weg. Und dann würde er meine Hand nehmen, und im selben Augenblick wären wir draußen.‹

Aber da das nun einmal nicht anging, so gab sie sich drein und ließ alle noch folgenden Neckereien an sich herniederrinnen.

Und auch er fand so viel Selbstbesinnung, daß er sogar mitzulachen versuchte, und als man dabei blieb, die beiden müßten zusammensitzen, zögerte er nicht länger, seinen Stuhl dicht neben den ihren zu schieben, und auf ihrer Haut nesselte schmerzhaft das Glück seiner ersten Berührung.

Sie dachte: ›Nun bin ich von beiden Seiten beschützt,‹ und plötzlich war auch in ihr ein Lachen, wenngleich es noch etwas beklommen klang.

Da nun kein Grund zu weiterem Necken vorhanden war, glitt das Gespräch in andere Bahnen hinüber. Vom Frauenrecht war die Rede, und was das Mädchen von heute bei der neuen Gestaltung der Dinge gewänne.

Jetzt konnte auch Gudrun ihr Licht leuchten lassen.

»Ich bin ganz und gar ein modernes Weib,« sagte sie, »aber wenn ich mir vorstelle, wie früher zwei junge Menschen sich schlicht fürs Leben verbanden, ohne daß der eine von beiden je etwas anderes gewollt und gekannt hat als die Liebe des anderen, dann wird mir ganz weh zumute, als wäre die Menschheit noch einmal aus dem Paradiese vertrieben.«

»Braucht ja nicht!« sagte der Hausherr. »Keinem jungen Paar ist es verboten, zu machen, wie es unsere Altvorderen machten, und sich sein Privatparadies aufzubauen.«

›Ich hab' eins!‹ rief es jubelnd in Purzelchens Brust. ›Ich sitze darin! Dicke sitz' ich darin!‹

Für ihr Leben gern hätte sie liebkosend mit ihrem Ellenbogen nach ihres Nachbars Ellenbogen hinübergetastet, aber sie wagte es nicht.

Da nahm der Doktor Lavalle das Wort.

»Das ginge sicherlich ohne Mühe,« sagte er, »nur leider gehört dieses Paradiesvogelpaar wie die Dronte zu den ausgestorbenen Geschlechtern. Von dem körperlichen Jungferntum red' ich nicht – das wird, auf männlicher Seite wenigstens – auch früher recht selten zu haben gewesen sein –, auf die seelische Jungfräulichkeit aber kommt's an, und die ist heutzutage beiden Teilen verlorengegangen, ich möchte sagen, schon von der Mutterbrust an – Pardon für den Anachronismus! –, ich meinte vom Soxhletapparat an. Wenn sich heute zwei Menschenkinder zusammenfinden, dann hat auch der weibliche Teil seine Unberührtheit schon lange vertan. Sexuelle Aufklärung mit den entsprechenden Experimenten, Pensionsfreundschaften von bedenklicher Glut, Techtelmechteleien jeglicher Gattung, Fühlerausstrecken nach reichen Bewerbern – und dann vor allem: die Abenteuer der Straße und des Coupés, die jedem Mädel passieren.«

Purzelchen fühlte, wie eine eiskalte Faust nach ihrem Herzen griff. Herr Gerberding, nach dem sie so erfolgreich die Fühler ausgestreckt hatte, und dann vor allem: der Doktor, der dämonische Doktor, der ihr Bestes als Beute in seinen Klauen hielt!

Aber noch schlimmer kam's, noch tiefer vor Scham in die Erde zu sinken!

Plötzlich bemerkte sie, wie der Hausherr seinen Zeigefinger gegen sie ausstreckte. Und dabei sagte er: »Seht euch mal dies liebe Kind an! Soll das etwa nicht unberührt sein? Was soll dem schon viel passiert sein?«

Sie wand sich unter all den Blicken wie unter Rutenstreichen.

Da plötzlich erhob sich die junge Doktorin, deren Körper in dem fließenden, weißen Gewände schlank und geradlinig war wie ein Lilienstengel, trat auf sie zu, beugte sich zu ihr nieder und küßte sie auf die Stirn.

›Du Reine, du Hohe,‹ dachte Purzelchen. ›Das verdien' ich ja gar nicht!‹

Aber ein Gutes war doch dabei: als sie wieder zu sich kam, fühlte sie zu ihrem Entzücken, daß nun er seinen Ellenbogen dicht neben den ihren gelegt hatte, diesmal sicher absichtlich und um ihr näher zu sein.

Sie drückte ganz leise dagegen und dachte bei sich: ›Nie soll er's erfahren! Nie soll er es ahnen. Das schwör' ich mir zu.‹

Während das Gespräch weiterging, schielte sie vorsichtig nach seiner Seite hin. Da gewahrte sie an seiner auf der Stuhllehne ruhenden Hand einen dicken Verlobungsring.

Sie erschrak nicht, sie wunderte sich nicht einmal, nur ein wenig bange wurde es ihr um die Brust. Sie hatte es ja niemals anders erwartet. Eine schöne Baronesse mußte es sein, Erbin eines der benachbarten Güter, und da er selber von Adel war, wie sie nun wußte, schien das alles natürlich und vom Schicksal vorherbestimmt.

Übrigens war ja auch sie so gut wie verlobt. Gott sei Dank, daß sie es war! Sie brauchte sich also vor ihm nicht lumpen zu lassen. Und jetzt fühlte sie sich Herrn Gerberding wieder ganz dankbar.

Einen blauen Cheviotanzug trug er, der Sommerhitze entsprechend, obwohl das Blau aus der Mode gekommen war, wie sie von Herbert her wußte, und durch ein leichtes Schwarz mit seidener Borte meistens ersetzt wurde.

Da, wie sie den Blick an ihm herniederwandern ließ, an den Hüften vorbei, die übereinandergeschlagenen Beine entlang, gewahrte sie etwas Unglaubliches, etwas ganz Fürchterliches gewahrte sie: Unter dem hochgezogenen Hosenrand, der nicht einmal einen Umschlag hatte, war da ein Zugstiefel – ein Zugstiefel mit Gummieinsatz, wie es ihrer gar nicht mehr gab, und darüber als schmaler, frech blitzender Streif – ein dicker, graugelber Wollstrumpf.

Ein graugelber Wollstrumpf, wie ihn die Miesniks tragen im Juli und selbst im August. Die Miesniks, die nichts sind und nichts haben, außer den reellen Absichten, mit denen sie einem die besten Jahre verderben, ohne daß je was draus wird.

Dieser freilich hätte ihr nicht eine Minute verdorben. Achtzig, ja hundert Jahre würde sie ihm hingegeben haben mit Freuden, ohne daß je was draus wurde. Aber schade war es doch, daß er so scheußliche Strümpfe trug und Stiefel mit Gummizügen, so daß die anderen, die Patenten, Geschniegelten, ihn, wenn sie was davon merkten, vielleicht in Grund und Boden verachteten.

›Das muß sich ändern!‹ beschloß sie. ›Das werd' ich ihm sagen hernach. Als seine Freundin werd' ich's ihm sagen. Jawohl, als die Freundin, die ich ihm bleiben werde sein Leben lang.‹

Und diese Erkenntnis, diese Gewißheit, erfüllte sie mit einem weichen, wehmütigen Glück.

Die Unterhaltung war inzwischen weitergeschritten, ohne daß sie ihr irgendwelche Beachtung geschenkt hatte. Da schlug plötzlich ein Wort an ihr Ohr, das mit seinem Namen große Ähnlichkeit hatte.

»Wenn ich zum Beispiel an mein Nadolnien denke,« sagte der Hausherr und fügte einiges hinzu, das die Liebesweise der Knechte und Mägde behandelte, ehe sie aufs Standesamt gingen.

›Nadolnien? Mein Nadolnien,‹ hatte Herr Samuel gesagt. Und er hieß: Nadolny. Wie hing das zusammen?

Da plötzlich wurde ihr alles klar: Das war der verlorengegangene Besitz, um dessentwillen er Geld schaffen mußte, wie er gesagt hatte, ein ganzes Vermögen sogar, gleichviel woher. Und Herr Samuel war der Käufer gewesen – ob dieser selbst oder sein Vater, das blieb sich egal.

Wie aber konnte er dann dies Haus betreten? Wie konnte er neben ihm auf dem Stuhle sitzen und Tee trinken, ohne daß er daran erstickte? Er, der Armgewordene, im prunkenden Hause des Reichen, der von » seinem« Nadolnien sprach, ohne daß er, der rechtmäßige Herr, aufsprang und fortging.

So grübelte sie, von Zorn und Kummer ganz wirr; da – unverhofft – fand sich die Lösung des Rätsels: »Na, schön,« fuhr der Hausherr fort, zu ihrem Freunde sich wendend, »wenn es Ihnen wirklich ernst ist um den Rückkauf – ich bin sicher, wir werden noch einig werden –, dann können Sie ja versuchen, das alles zu ändern. Ich bin hier zu weit vom Schuß und habe auch zu viele Interessen, um mich um die Moral meiner Leute zu kümmern, während Sie ja von familienwegen das alte patriarchalische Verhältnis wieder in Schwung bringen können.«

Und dann nahm ihr Freund das Wort und redete ruhig und klug über die verwandelten Zeiten, über den erweiterten Horizont, den der Krieg auch dem Letzten gebracht habe, und wie das Betonen des alten Herrentums nur Widerstand stiften könne, während sich ohne Zutun alles von selber einrenken würde.

Sie lauschte und dachte nur immer: ›Die liebe Stimme! Die Waldhornstimme!‹

Dabei fiel ihr Blick von neuem auf seinen Verlobungsring. Und war ihr vorhin nur weh ums Herz geworden, so schrak sie jetzt hoch, wie von einer Nadel gestochen.

Dieser Ring war der Preis für den Rückkauf des Guts. Dieser Ring war der Preis für ein hingeopfertes Leben.

Am liebsten hätte sie aufgeschluchzt und sich an seinen Hals gehängt, um ihm ihr Mitleid zu zeigen. Doch dann sagte sie sich, daß jeder ihrer Gedanken ein Wahnsinn war. Ob die schöne Baroneß, mit der sie sich abgefunden hatte, oder wer anders, das blieb sich ganz gleich. Vielleicht war diese ebenso schön – oder noch schöner. Vielleicht liebte er sie genau so, wie er jene geliebt hätte. Vielleicht war es sogar die Baroneß selber.

Und all ihr Mitleid, all ihr Helfenwollen sank zu dumpfem Kummer zusammen.

Inzwischen war die Teestunde längst vorübergegangen. Ein Diener in schwarzem, gelbgerändertem Frack – ähnlich den Großwürdenträgern im »Adlon« – reichte Süßwein herum. Ein lieblicher Zigarettendampf wirbelte, von der Abendsonne durchleuchtet, in lichten Spiralen zum Himmel.

»Wenn wir ins Freie wollen,« sagte der Hausherr, »dann werd' ich jetzt den Wagen vorfahren lassen.«

»Aber wir sind ja im Freien!« rief die junge Doktorin und wies nach den geöffneten Glastüren hin, die auf einen dunkel üppigen, weithin sich breitenden Garten hinausführten. – Weiße Statuen standen daselbst gegen fremdartige Nadelholzgruppen gelehnt, und Rosengeranke umwob grünbogige Gitter.

›Da mit ihm 'rumgehen können,‹ dachte Purzelchen, ›ein größeres Glück wär' nicht denkbar.‹

Und als alle anderen sich in der Bitte vereinten, hierbleiben zu dürfen, stimmte sie inbrünstig ein.

»Dann will ich nur rasch noch Sorge tragen,« sagte der Hausherr, »daß ihr mir hier nicht verhungert.«

Er stand auf, und mit ihm erhoben sich alle. Während er nach den Innenräumen verschwand, traten die Gäste auf die Terrasse hinaus, von der aus Stufen auf einen Kiesplatz hinunterführten.

Purzelchen fühlte den Herzschlag im Halse, denn jetzt war der Augenblick da, in dem sie mit ihm allein bleiben konnte.

Doch während sie beide noch schweigend zum Garten hinausschritten, gesellte sich Gudrun zu ihnen.

»Ich frag' mich immer, Herr von Nadolny,« sagte sie, »wo wir uns schon einmal im Leben begegnet sind.«

›O Gott,‹ dachte Purzelchen, von neuem Schrecken ganz überwältigt. Wenn's jetzt herauskam, wie sie die Schwester betrogen hatte, war alles verloren.

›Was wird geschehen? Wird auch er sich erinnern?‹

Doch nein. Mit einem Seitenblicke Gudruns Gestalt ausmessend, erwiderte er so fremd als nur möglich: »Wo könnte das wohl gewesen sein, mein gnädiges Fräulein?«

»Das eben möchte ich wissen!« sagte lachend die Schwester. »Ohne Grund könnten Sie mir nicht so bekannt vorkommen. Es mag lange her sein, aber getroffen hab' ich Sie sicher.«

»Man sieht sich wohl hier oder dort,« erwiderte er, »in der Stadtbahn – im Kolleg – überall. – Ich weiß eine Menge Gesichter, die ich auf der Stelle wiedererkennen würde, obgleich sie mir eigentlich fremd sind.«

»Nein, nein,« beharrte die Schwester, »das muß anders zusammenhängen. Denken Sie nach, ich werde auch nachdenken, und wenn –«

In diesem Augenblick legte der Hausherr, der seine häuslichen Pflichten wahrscheinlich erledigt hatte, von hinten her seinen Arm in den ihren und führte sie ohne viel Umstände mit sich hinfort.

Und nun waren sie beide allein.

Was nun? Um Gottes willen, was nun?

Ewigkeiten des Schweigens. Dann endlich sagte er leis vor sich nieder: »Ist's gut gegangen so lange?«

»Und Ihnen?« fragte sie ebenso leise und ebenso eifrig den Boden absuchend.

»Purzelchen!«

Wie eine Liebkosung klang's, wie ein Schwur ungebrochener Treue.

Und trotzdem trug er am Finger den goldenen Reif.

»Haben Sie den Namen wirklich behalten?« fragte sie, indem sie zum erstenmal wagte, an ihm emporzusehen.

»Alles hab' ich behalten,« erwiderte er, »jedes Wort und jede –«

Er sprach es nicht aus, aber sie wußte wohl, was er meinte.

»Ich fürchte, es ist nicht gut,« sagte er dann, »daß wir uns wieder begegnet sind.«

»Warum nicht?« fragte sie.

»Da,« sagte er, und wies ihr den Finger, an dem der Verlobungsring blitzte.

Nun kam der Augenblick ihres Triumphs.

»Ach Gott,« sagte sie obenhin, »was das anbelangt, ich bin auch so gut wie verlobt.«

»Ach?« fragte er mit großen und so traurig lächelnden Augen, als hätte sie von einem schlimmen Kinderstreiche erzählt, »und sind noch nicht einmal siebzehn.«

»Ja, es hat sich so gemacht,« fing sie zu prahlen an. »Es ist ein Ausländer und ein sehr reicher Mann. Er wohnt im ›Adlon‹ – und hat zwei Autos – fragen Sie nur meine Schwester – und da meinten meine Eltern – und ich war übrigens auch ganz einverstanden, daß man einen solchen Glücksfall nicht von der Hand weisen dürfe. Seiner Riesengeschäfte wegen weilt er augenblicklich in den rheinischen Industriebezirken, und sobald er zurückkehrt, werden wir Karten herumschicken. Wenn er im Herbst wegreist, soll ich schon mitgehen … Werden Sie auch zu meiner Hochzeit kommen, Herr von Nadolny?«

»Purzelchen!« sagte er. Weiter nichts. Aber in diesem einen Worte lag so viel Kummer und so viel Vorwurf, daß sie ihm am liebsten abbittend um den Hals gefallen wäre.

Aber er trug ja am Finger den goldenen Reif.

»Und wie ist es mit Ihnen?« fragte sie. »Machen Sie wenigstens auch eine große Partie?«

Wie ihr der Ausdruck, den Herbert immer gebrauchte, in den Mund gekommen war, wußte sie selber nicht. Wie ein Schimpfwort klang er, nun sie ihn gebrauchte, aber schließlich paßte er nur zu gut. Ein besserer wäre schwerlich zu finden gewesen.

»Ich möchte bitten, daß Sie mich nicht danach fragen,« sagte er. »Wenigstens heute nicht, damit wir uns die Freude des Wiedersehens nicht verderben. Später werd' ich Ihnen alles erzählen.«

›Später – hat er gesagt,‹ jubelte es in ihr. ›Er hat später gesagt?‹

Oh, dann war alles gut, und der goldene Reif wurde beinahe so wertlos, als hätte ein kostbarer Brillant in ihm gesessen!

»Mit Ihrer Schwester«, begann er plötzlich, »ist das übrigens eine komische Sache. Ich besinne mich ganz genau auf sie. Sie war ja diejenige, die ich auf dem Savignyplatz erwartete, als auch Sie dort auf und ab gingen. Und da ich mir nicht vorstellen konnte, daß hier ein bloßer Zufall gewaltet hat, so leugnete ich vorhin alles ab. Aber nun erklären Sie mir, wie das gekommen ist.«

Purzelchen wurde sehr bange zumute. Wenn er sie für raffiniert oder mannsgierig hielt, dann hatte sie seine Achtung auf immer verloren.

Und sie erwiderte: »Am liebsten möcht' ich auch bitten: Fragen Sie mich nicht. Aber ich seh' wohl, das geht nicht an. Darum will ich alles beichten, und dann können Sie ja entscheiden, ob es sehr schlecht gehandelt war oder nicht.«

Und dann erzählte sie ihm, mit welcher Botschaft sie von der älteren Schwester an ihn abgesandt worden war und wie sie dann den Mut nicht gefunden hatte, ihn anzureden. Als aber er sie angeredet habe, da – und so weiter. Kurzum: alles erzählte sie ihm.

Und als sie fertig war und seinen Schuldspruch erwartete, da sagte er gar nichts, dafür aber tat er etwas, was sie in ihren verwegensten Hoffnungen sich nicht ausgemalt hätte: er legte den Arm um ihre Schulter und zog sie an sich – ganz leise, ganz zart.

Und das Herz schwoll ihr hoch von Dank und von Liebe.

So gingen sie eine Weile schweigend durch die dämmrigen Laubengänge, erst als entgegenkommende Schritte hörbar wurden, ließ er sie los und begann, von gleichgültigen Dingen zu sprechen.

Der Doktor und die Doktorin waren's, die, ihren ewigen Disputen zum Trotz, ganz friedsam gestimmt schienen, denn sie schritten Arm in Arm und redeten halblaut und heimlich.

Noch zwei- oder dreimal begegneten sie ihnen, ohne daß die beiden Paare einander große Beachtung geschenkt hätten, nur von Gudrun und dem jungen Hausherrn war nichts zu bemerken. Sie mußten sich wohl eine andere Gegend ausgewählt haben.

Und dann plötzlich erklang ein Gong so fürchterlich dröhnend, als drohe das Jüngste Gericht.

Es war aber nur das Abendbrot, zu dem sie gerufen wurden.

Ein neuer Saal tat sich auf, von dunklem Getäfel umrahmt, worüber in blauem und goldenem Geranke Ledertapeten sich spannten bis zur gewölbten Decke empor. Girlanden von verschleierten Lichtern zogen sich an den Wänden dahin, während die mächtige Krone, die über dem Eßtisch hing, in Dunkelheit dalag. Nur der bronzene Schimmer ihrer gewundenen Arme sank, als wolle er das Mahl gesegnen, auf die Tafel hernieder. –

Und die Tafel selbst – die war nun wahrhaftig ein Wunder.

Blumenlasten füllten die Mitte. Silber blinkte von Karaffen und Schalen. – Und jedes Gedeck war ein Kunstwerk für sich mit seinem buntgeäderten Porzellan, seiner kristallnen Mauer von hohen und niedrigen Gläsern und dem dreieckigen Turmbau der lockern Serviette.

Weit schöner als bei »Adlon« war's, weit schöner als alles, das Herr Gerberding ihr jemals gezeigt hatte.

Herr Gerberding! Mein Gott, wo war Herr Gerberding heute?

Alle drei Paare fanden sich ein. Der Hausherr warf waltende Blicke über die Runde hin, und Gudrun hatte sehr heiße Backen. Die hatte sie selber ja auch, wie der Taschendeckel ihr zeigte, aber bei ihr war das eine alte Gewohnheit.

Gleich zu Beginn gab es Sekt. Sekt in silbernen Bechern, so daß man nie wissen konnte, wieviel man getrunken hatte und wieviel von dem Reste noch da war. Und so geschah es, daß der Diener immer von neuem hinzugoß.

Das Gespräch war weit weniger gelehrt als nach dem Kommen beim Tee. Gudrun ulkte mit sämtlichen Herren, und die Doktorin fiel von einem Staunen ins andere. Hinter den Brillengläsern wurden die großen Blauaugen immer noch größer. Und dabei lachte sie immerfort. Es war ein so liebes, unschuldiges Lachen, daß Purzelchen sich ganz verderbt und zugleich ganz mütterlich vorkam.

›Wenn sie bloß nicht zuviel trinkt!‹ dachte sie, aber sie wußte nicht, wie sie sie warnen konnte.

›Ich werde sie auf den Fuß treten,‹ entschloß sie sich, aber ihre Beinchen waren ja viel zu kurz, so daß ihr Fuß nur bis zu Fritzens Fuß reichte, und da blieb er gleich ruhen.

Jawohl, Fritz hieß ihr Freund. Das hatte er ihr beim Herumgehen gesagt. Und viel von Eltern und Geschwistern berichtet hatte er. Mit dem Gute stimmte es nur zu genau. Während der Inflation war es in die Hände von Herrn Samuel senior geraten. Und Herr von Nadolny senior mußte noch glücklich sein, irgendwo auf fremdem Boden den Verwalter spielen zu dürfen. Die eine Schwester war Gutsschreiberin ohne Besoldung, die andere brachte gelegentlich Geflügelhöfe in Ordnung, und der kleinere Bruder hielt in der nächsten Stadt eine Reitschule, nur fehlten ihm leider die Schüler. Ein ganzes, hochgeborenes Elend hatte sich vor Purzelchen aufgerollt, und das Herz war ihr weit geworden vor Mitleid und Kummer.

Jetzt grollte sie ihm nicht im mindesten wegen des Reifs, den er am Finger trug. Mit oder ohne Brillant, das war ihr alles egal. Sie fühlte, hier hatte das Schicksal selber ein Urteil gesprochen.

Und dann erzählte er auch von sich. Wie er durch einen glücklichen Gutsverkauf und die ehrlich erworbenen Maklerprozente die Mittel erhalten hatte, die Hochschule zu besuchen und dadurch statt eines kleinen Inspektors ein Landwirt von hohen Graden zu werden, der Ansprüche machen durfte und jedem modernen Betriebe gewachsen war. Im kommenden Wintersemester würde die Schlußprüfung das Werk gekrönt haben und dann – ja dann – –

An dieser Stelle war er nicht weitergekommen; auch über die Rückkaufsgeschichte schwieg er sich hartnäckig aus. Und da die sicherlich mit dem Goldreif zusammenhing, so hatte sie nicht mehr gefragt.

Es gab ja ein »Später«. Gott sei gelobt! – –

Das Mahl ging zu Ende. Und es war gut, daß es so war. Denn die Scherze, die zwischen Gudrun und den beiden anderen Herren hin und her flogen, wurden immer gewagter. Fritz lachte zwar mit, aber von Zeit zu Zeit gewahrte Purzelchen, daß er einen ängstlichen Blick auf sie niederwarf. Nur die Doktorin verharrte bei ihrer staunenden Fröhlichkeit, und manchmal jauchzte sie so ausgelassen und kindlich, daß Purzelchen zu dem Glauben kam, sie habe nicht die Hälfte von allem verstanden.

Als der Käse und die Selleriestangen abgetan waren, stand der Hausherr auf und sagte: »Ehe ich die Tafel aufhebe, müssen die Paare untereinander Brüderschaft trinken. Für den ganzen Kreis verlang' ich es nicht, denn das würde eine falsche Anbiederung sein. Aber wer heute zusammengehört, soll ein Zeugnis davon in die Zukunft mit. nehmen.«

Zugleich umschlang er Gudruns Hüfte und drückte ihr einen Kuß auf die Lippen.

Der Doktor Lavalle wollte das gleiche mit seiner Doktorin tun, aber als er seinen Mund dem ihrigen näherte, legte sie ihm in lieblicher Abwehr die Hand auf die Lippen und sagte: »Brüderschaft gerne! Aber ich bin sehr dumm. Ich habe noch nie im Leben geküßt. Ich denke, das muß etwas Heiliges sein, das darf man sich nicht im Scherze verschandeln.«

Mit diesem Bescheide gab sich ihr Ritter lachend zufrieden und leerte das Glas zusammen mit ihr, ohne den Pakt zu besiegeln.

»Und nun ihr beide!« mahnte der Hausherr.

Purzelchen sah ihren Freund an. Der sah sie wieder an. Nur ein Augenblick zaudernder Frage war's: ›Sollen wir preisgeben, was uns verbindet?‹ Und die beiderseitige Antwort hieß: ›Wir geben gar nichts preis. Im Gegenteil. Wir verbergen's noch tiefer.‹

Und dann küßten sie sich – ganz kurz und ganz leise. Und ob es auch nur der andern wegen geschah, ein Glück war es doch und wiederkehrende Heimat. Und »Du« durften sie auch wieder sagen.

Was nun noch geschah, zerfloß in einem Taumel von Lindenduft und Amselgesang und rötlichem Sommernachtslicht.

Ein Tisch mit Mokka, Sorbett und Pfirsichbowle war auf den Kiesplatz hinuntergetragen. Korbgeflochtene Faulenzer standen ringsum. In ihnen konnte man schwatzen und rauchen. Aber niemand benutzte sie.

Gleich nachdem der Kaffee getrunken war, verloren die Pärchen sich im Dämmer der Laubengänge und sahen einander nicht mehr.

Fritz hatte eine Bank ausfindig gemacht, so einsam und so entlegen, daß niemand sie auffinden würde.

Purzelchen lag ihm im Arme und schaute empor nach seinem lieben Angesicht, das sich in feierlichem Erstarren zu ihr herniederneigte.

Küssen tat er sie nicht, wie oft sie auch die Lippen nach ihm hinschob, aber seine Augen waren voll von Traum und von Sehnsucht. Das sah sie ganz deutlich, denn so dunkel wie damals im Tiergarten war es durchaus nicht.

Und endlich hub er zu reden an: »Das ist alles so über mich gekommen, Geliebtes, daß ich's noch gar nicht fassen kann. Was nun aus uns werden wird, das wissen die Götter. Sich abermals trennen, das, glaub' ich, hielten wir beide nicht aus, aber zusammenbleiben geht auch nicht. Was soll werden mit dir und mit mir, da jeder von uns schon fürs Leben gebunden ist? – Darum muß ich Vernunft behalten für dich und für mich – heute und später auch, sonst stürz' ich dich in ein endloses Unglück.«

»Ach wo doch!« sagte sie. »Bloß manchmal zusammen sein, das ist Glück schon übergenug.«

»Für uns gibt es kein Manchmal,« erwiderte er, »du ziehst in eine andere Welt, und ich –«

Er schwieg, während ein Zittern gleich einem Schauder ihm durch die Glieder rann.

Da legte sie sich aufs Bitten: »Ein Vierteljahr lang bleib' ich sicher noch hier,« sagte sie, »denn bevor ich siebzehn bin, haben die Eltern gesagt, geben sie mich nicht fort. Und du bist ja auch noch nicht fertig. So lange wenigstens wollen wir glücklich sein. Bitte, bitte, ach, bitte!«

Er schüttelte traurig den Kopf: »Dann wird uns das Entbehren nur umso schwerer. Ich habe dich bloß zwei Tage gekannt und weiß, wie ich mich nach dir gebangt habe die ganze lange, lange Zeit über.«

Purzelchen fühlte eine heiße Scham in sich hochsteigen. Mochte sie ihn auch liebbehalten haben immer und immer, sehr gebangt hatte sie sich wohl nicht, denn sonst – –

Bloß nicht denken an dieses schreckliche »sonst«!

»Höre, Liebes!« sagte er dann. »Wir wollen uns drei Tage nicht sehen. In dieser Zeit will ich nachdenken und zu einem Entschlusse kommen. Und wenn wir uns dann wieder um sechs –«

»Um halb sieben,« warf sie ein. »Ich weiß nicht, ob ich um sechs bei – meinem – Zahnarzt – schon frei bin.«

Und da war das Schreckliche wieder, das ihr beinahe den Atem benahm.

»Gut! Um halb sieben,« stimmte er zu. »Am Bahnhof wie damals, dann werd' ich dir alles sagen, wie es in meinem Leben gekommen ist. Und du wirst dann selber entscheiden.«

»Was hab' ich zu entscheiden?« fragte sie, ihrer Hilflosigkeit gedenkend. »Ich will ja doch bloß, was du willst.«

Er zog sie noch enger an sich, aber dann plötzlich sprang er auf und sagte: »Komm! Wir wollen zurück. Vielleicht treffen wir dort auch die andern.«

Ob Purzelchen noch so enttäuscht war, sie wehrte sich nicht, denn im Innersten fühlte sie wohl, wie gut er es mit ihr meinte.

Und als sie die Laubengänge entlang an seinem Arme dahinschritt, sah sie auf einer Bank eine weiße Gestalt im Arm einer schwarzen, und sah zugleich, wie eben die Köpfe sich trennten.

Die schöne, junge Doktorin war's, die bis dahin noch nie im Leben geküßt hatte.

Sie lag nun, das weiße Antlitz zum Himmel gerichtet, in seliger Verzückung da und hörte nichts von den sich nähernden Schritten. Durch die Brillengläser hindurch starrte das weitgeöffnete Auge nach jenen Höhen empor, von denen das ewige Heil zur Erde herniedersteigt.

›Nun müßte er sie eigentlich aufwecken,‹ dachte Purzelchen, während ein Gefühl froher Genugtuung in ihr emporstieg. Wenn selbst diese Hohe und Reine der großen Gewalt der Liebe sich beugte ganz wider Vernunft und eigenen Willen – warum sollte sie selber, das arme, kleine, verliebte Purzelchen, sich ihr nicht hingeben dürfen?‹

Wie entsühnt und entsündigt kam sie sich vor, für alles, was schon geschehen war und noch jemals geschehen konnte. Und dieses Gefühl wurde so stark in ihr, daß sie nach der nächsten Biegung zu ihrem Freunde sagte: »Wart ein wenig,« die paar Schritte leise zurücklief und, sich bückend, einen raschen Kuß auf die hängende Hand der Daliegenden drückte.

Die fuhr mit einem kleinen Aufschrei empor, aber ehe sie um sich zu schauen vermochte, war Purzelchen längst schon wieder verschwunden.


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