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Vierzehntes Kapitel.
Purzelchen wird eine heimliche Hausfrau

Drei Treppen, vier Treppen – man konnte ruhig sagen: fünf Treppen hoch.

Dort, wo sonst eine Lattenpforte zum Hängeboden zu führen pflegt, war ein richtiges Türgerüst aufgebaut, mit weißer Ölfarbe gestrichen, mitten in kalkweißer Wand – und darauf unter dem Klingelknopf eine Visitenkarte:

 

Fritz von Nadolny
Landwirt.

 

So voll von Entschlußkraft steckte Purzelchen, daß sie beim Läuten nicht einmal ein Herzklopfen spürte. Hier war ihre Heimat. Hier gehörte sie her.

Von weither kamen lauter werdende Schritte.

Da stand er und griff nach ihren klammernden Händen.

Und dann ging's durch einen endlosen Korridor zu einer neuen Tür. Dahinter lag ein Raum, der augenscheinlich als Küche gedacht war. Denn auf einem an die Wand gelehnten Klapptisch stand ein Gaskocher mit etlichen Töpfen. Rechts daneben, durch einen Vorhang getrennt, ein anderer Raum, mit Badewanne, Waschfaß und Watercloset.

Hinter dem Vorraum abermals eine Tür. –

Da lag nun endlich das Wohngemach. Bunt genug sah es drin aus. Wieder ein Klapptisch, beladen mit Büchern und Schriften. Ein Sofa davor, goldene Greife als Seitenlehnen, und eine Reisedecke darübergebreitet, die zu verbergen hatte, daß von dem Seidenbezug nur wenig noch übrig war. Zwei Schränke – rechtwinklig aneinander gelehnt – füllten die Wände: der eine geschweift und mit eingelegten Blumen bedeckt von oben bis unten, der andere mit alabasternen Säulen versehen und einem Spiegel dazwischen, der aber zu trübe war, um noch zu spiegeln.

Links eine Türöffnung und daneben das Fenster – so breit wie sonst ihrer dreie, in ein schräges Mansardendach eingefügt und mit langgestreckten Kästen besetzt, in denen hohe Getreidehalme mit richtigen Ähren der Reife entgegengilbten.

Und ein Schreibtisch war auch da, schwerfällig und bieder, mit gebuckeltem Aufsatz und bogigen Beinen. Darauf standen hinter Schreibzeug und Mappe allerhand hölzerne Schalen mit schwärzlicher Erde gefüllt.

Und überall auf dem Boden Stapel von Büchern.

Wie erstarrt blieb Purzelchen stehen. So fremd war das alles.

»Nun mußt du auch noch das übrige sehen,« sagte Fritz und führte sie in den Nebenraum, der hinter einer Art Engpaß sich unverhofft zu einem geräumigen Schlafzimmer weitete. Wenigstens ließ das eiserne Feldbett diese Bestimmung vermuten. Denn was sich sonst darin vorfand, ähnelte mehr der Werkstatt eines goldmachenden Zauberers. Auf zwei, drei Tischen gläserne Kugeln und Röhren mit Spirituslampen darunter. In Schalen und Krügen neue Proben von Erde und Sand. Tüten mit Mehl und mit Körnern dazwischen. An den Wänden auf rohen Bretterkonsolen zwei kleine Maschinen mit Kurbeln und Rädern. Die eine von ihnen drehte sich schnurrend, aus der anderen tropfte Wasser in ein irdenes Gefäß.

Und überall dazwischen, über Stühle und Bettrand geworfen, Wäschestücke und Kleider. Genau so, wie es bei Herbert vormittags aussah, ehe Lina ihre Ordnungsliebe entfaltete.

Purzelchen fühlte sich wachsen. »Hier fehlt natürlich eine weibliche Hand,« sagte sie.

»Morgens kommt eine Aufwärterin«, erwiderte er, »und kocht mir Kaffee und macht das Bett. Nur viel aufräumen darf sie nicht, damit sie mir nichts kaputt schlägt.«

»Aber ich werd' dürfen,« erwiderte Purzelchen strahlend, »sobald ich gelernt hab', was alle die Schalen und Gläser bedeuten.«

»Ja, willst du denn das?« fragte er.

»Wozu bin ich denn da?« erwiderte sie und wußte sich vor Stolz nicht zu lassen.

Dabei sah sie sich nach einem Kleiderschrank um, aber es war keiner da. Die beiden Prunkstücke des Wohnzimmers schienen für so gemeine Bestimmung wenig geschaffen, und als sie den einen zur Prüfung öffnete, fand sie die Fächer gefüllt mit bemalten Tassen und kristallenen Flaschen, dazwischen dunkelsilbrige Urnen, Becher und Schreine von edler Form, doch fleckig von Rost und mit schwärzlicher Kruste.

»Dies Neusilber muß man doch putzen,« sagte Purzelchen, der Sonnabende gedenkend, an denen zu Hause die Alpakaschätze ihre Reinigung erlebten.

»Warum Neusilber?« fragte er.

»Na?« fragte sie zurück.

»Weil das die Erbstücke sind, die auf mich fielen. Die sollen mir ja ein Notgroschen sein, wenn alles andere schief geht.«

»Und die sind von wirklichem Silber?« fragte sie ganz atemlos. Sie hätte es nie für möglich gehalten, daß man arm sein und solche Herrlichkeiten besitzen könne.

»Glaubst du, daß ich sie sonst hier dulden würde?« fragte er lachend zurück.

»Wovon sind sie denn aber so schwarz?«

»Vom Alter. Und das macht sie doppelt so wertvoll. Darum lass' ich sie auch, so wie sie sind.«

Purzelchen blieb von neuem ganz stumm, und ihre Hochachtung für den Freund wuchs bis ins Grenzenlose.

Sie hatte nur das eine Gefühl: um ihr Daseinsrecht zu erweisen, müsse sie ihm von Nutzen sein, soviel sie konnte, und darum sagte sie gleich: »So! Und dann werd' ich dir Abendbrot kochen!«

»Da ist nicht viel zu kochen,« lachte er. »Brot und Butter sind längst geholt, und der Schinken, den Mutter mir schickt, steckt im Ofenloch.«

Richtig, eine Mutter besaß er auch.

»Hast du kein Bild von ihr?«

Schweigend führte er sie vor den Schrank mit den Säulen. Dort standen vor dem erloschenen Spiegel allerhand Photographien aufgestellt, fünf oder sechs, die sie vorhin ganz übersehen hatte.

Und er wies auf die eine: Aus zartem, müdem, von grauen Strähnen umrahmtem Gesicht blickten zwei schöne, dunkle Augen sie traurig und liebevoll an.

Und sie dachte: ›Welch ein Glück muß das sein, die da Mutter zu nennen!‹

Auch zwei Mädchen waren da mit denselben Augen, nur blitzend und froh, und ein älterer Herr mit Adlernase und langausgezogenem Schnurrbart, wie man ihn in Berlin gar nicht mehr sah. Bis auf die Schultern reichte der Schnurrbart.

Und dann noch eine Dame. Von der konnte man wirklich nur »Dame« sagen. Und Purzelchens Herz zog sich zusammen; ob vor Eifersucht oder vor Furcht, sie hätte es nicht zu sagen gewußt.

Lichtblond und schmal und mit üppig herrischen Lippen. Bubikopf nach neuestem Schnitt, Nase ein wenig zu kurz, doch feingesattelt und witternd. Und dann die Augen: große, klare, abwehrend blickende Augen. Waren sie kühl? Waren sie leer? Augen jedenfalls, vor denen man sich gerne verkroch.

»Ist sie das?« fragte Purzelchen ganz beklommen.

»Ja, das ist sie,« sagte er durch die Zähne.

»Mit der kann ich nicht mit,« klagte Purzelchen mutlos.

»Ich auch nicht,« erwiderte er, »und muß doch

Und dann faßte er sie bei der Hand und führte sie nach dem Sofa.

»Komm in meinen Arm,« sagte er, »und sieh mich nicht an. Ich will dir erzählen.«

Sie konnte sich noch gar nicht beruhigen. »Mein Herr Gerberding ist auch nicht zum Glücklichmachen,« sagte sie, »aber ich glaub', ich bin besser mit ihm dran als du mit der.«

»Bevor du wiederkamst,« erwiderte er, »hatt' ich mich abgefunden mit meinem Schicksal. Ich dachte, es müßte so sein. Aber jetzt fühl' ich, daß ich in Knechtschaft lebe. Und wenn man freiheitsliebend war und stolz, dann tut das recht weh.«

Sie saß nun an seine Schulter geschmiegt und hätte ihn gerne gestreichelt, aber sie wagte nicht, die Hand bis zu seiner Wange zu heben.

»Ich bin jetzt fünfundzwanzig,« begann er, »und als unser Zusammenbruch kam, war ich neunzehn. Vom Kriege hab' ich gerade noch die letzten zwei Jahre mitmachen können, und trotz Hunger und Dreck hätt' ich gerne so weitergekämpft bis an mein Ende. Schrecknisse gab es nicht mehr für uns, so verwildert waren wir alle. Die Schrecknisse kamen erst mit dem Frieden. Not-Abitur hatt' ich, sonst nichts. Verdorben für alles. Aber das Gut war ja da, daran klammerte man sich. Erst als das flöten ging und die Kaufsumme auch, stand man vor dem richtigen Nichts. – Solche Inspektorchen wie ich liefen dutzendweise herum mit Leutnantsrang und Eisernem Kreuz erster Klasse, aber ohne ein Stück Brot in der Tasche. – Trotzdem schlug ich mich durch und lernte dies und das, bis das Glück mit der Vermittlung kam, von der ich dir ja erzählte. Nun konnt' ich auf die Hochschule gehen und was Richtiges werden. Aber der Jammer der Meinen lastete schwer auf mir, und der Gedanke setzte sich fest, das verlorene Gut noch einmal an mich zu bringen. Zu Liebesgeschichten nahm ich mir keine Zeit, und das mit deiner Schwester kam auch nur durch Zufall. Ein halbes Jahr nach unserm Begegnen las ich in der ›Deutschen Tageszeitung‹ eine Annonce: ›Rittergut aus adligem Besitz wird zu kaufen gesucht. Gewerbsmäßige Vermittler verbeten.‹ Nun hatt' ich zwar keins an der Hand, aber Übung hatt' ich von früher und wußte, daß, wenn ich die Fühler ausstreckte – –. Kurz, ich meldete mich. Und so lernt' ich sie kennen. In einem vornehmen Pensionat saß sie und tat eigentlich gar nichts. Auf Schicksale wartete sie. Das hatt' ich bald heraus, denn als ich ein paar Verkäufer gefunden hatte und mit ihr hinfuhr, war's ihr mehr um das gemeinsame Reisen zu tun und die guten Bekanntschaften als um den Kauf selber. – Na, und so kam's. Nach dem Näheren frage mich nicht. Kurzum: wir sind verlobt, und sobald ich mein Examen gemacht habe – darauf besteh' ich – soll's Ernst werden. Mein Sinn hängt natürlich vor allem an der verlorenen Heimat, auf der Herr Samuel junior jetzt Herr ist. Aber der Preis, den er verlangt, ist so hoch, daß ich meine Braut betrügen würde, wenn ich ihr raten wollte, ihn für mich auszugeben. – Und nun leb' ich mit ihr so herum. Meine Hauptsorge ist: Wo die Kosten der gemeinsamen Abende hernehmen, denn zahlen lass' ich sie nicht, weder für sich, noch viel weniger für mich, und obwohl sie weiß, daß ich arm bin, so kann sie sich doch nicht vorstellen, daß das, was man so verißt und vertrinkt, eine unerschwingliche Summe bedeutet.«

»Ist sie denn selber so reich?« fragte Purzelchen.

»Muß wohl!« erwiderte er. »An großen Fabriken ist sie beteiligt und an Gruben und an was weiß ich. Ich frage nicht gerne, denn das sieht so gierig aus, und sie spricht auch nicht viel davon. Ihr ist das alles ganz selbstverständlich. Arbeiten tun ja die andern.«

Purzelchen fühlte ein Frösteln durch ihre Glieder gehen. Sie malte sich aus, mit welchen Empfindungen er wohl neben ihr saß.

»Bist du auch heute abend mit ihr zusammen?« fragte sie.

Er verneinte. »Zumeist schütz' ich meine Arbeiten vor,« sagte er, »und ich hab' auch viel zu tun, wenn ich zum Winter fertig sein will. Aber für dich, Liebling, werd' ich immer Zeit haben – morgens und abends und –«

Er stockte.

O nein doch, nachts nicht. Dafür war sie viel zu unschuldig in seinen Augen.

Ach, wenn er ahnte!

Dann kam sie in ihren Gedanken auf die Notwendigkeit des Sparens zurück.

»Umso weniger wollen wir beide ausgeben,« sagte sie. »Höchstens für die Fahrkarten dritter zum Grunewald hin. Die Abende sind warm, und im Grase zu sitzen kostet rein gar nichts.«

Und dabei mußte sie sich der höhnischen Worte erinnern, mit denen Gudrun die »Miesniks« abgetan hatte, die nichts haben und immer gleich heiraten wollen.

So einen Miesnik hatte auch sie nun, und der wollte sogar eine andere heiraten und nicht einmal sie.

Wie dumm doch die Gudrun war mit all ihrer Weisheit!

Aber er wußte noch einen besseren Vorschlag. »Wozu sollen wir erst nach dem Grunewald hin?« fragte er. »Ist es nicht hübsch hier? Hier sind wir in unserer eigenen Wirtschaft, und du kannst die Hausfrau sein, auch wenn ich nicht da bin.«

»Au fein,« jubelte sie, ohne sich klarzumachen, wie das wohl möglich sein würde.

Er jedoch hatte schon alles bedacht.

»Ich werd' dir das zweite Schlüsselpaar geben,« sagte er, »das jetzt die Aufwärterin an sich nimmt, wenn sie einholen geht. Ich werd' mich schon einrichten mit ihr.«

»Werd' ich dann auf dich warten dürfen des Abends?« fragte sie, fühlend, wie sie bebte in freudiger Angst.

Er sah eine kurze Weile schweigend an ihr herauf und hernieder.

»Das wird nicht angehen,« sagte er dann mit großer Bestimmtheit, »denn oft wird es spät mit ihr. Und was sollten deine Eltern wohl glauben?«

Ja, richtig, das hatte sie gar nicht bedacht. Schon das heutige Ausbleiben würde sich schwerlich rechtfertigen lassen. Andernfalls hätte man Herrn Gerberding vorschützen können, doch der war ja verreist. Und eine Sehnsucht nach Herrn Gerberding erwachte in ihr, wie sie sie noch niemals verspürt hatte.

›Aber gewiß hat er auch noch einen andern Grund,‹ dachte sie weiter.

Denselben Grund, der seine Rede vorhin zum Stocken gebracht hatte.

Und sie seufzte tief auf. Es war nicht immer erfreulich, für eine Unschuld gehalten zu werden. Aber gerade, weil er das tat, darum liebte er sie. Und deshalb hieß es: zufrieden sein.

Inzwischen fing es an, dunkel zu werden, und Purzelchen, das seit der Mittagsstulle noch nichts gegessen hatte, hungerte sehr.

»Darf ich uns jetzt nicht Abendbrot zurechtmachen?« fragte sie. Mit wohligem Lächeln lehnte er sich in die Sofaecke zurück.

»Willst du das wirklich?« fragte er, ihren Handrücken streichelnd.

Statt der Antwort sprang sie auf und kniete vor dem Ofenloch nieder, das, wie er verraten hatte, dem mütterlichen Schinken als Zufluchtsort diente.

So einen herrlichen Landschinken sah man selten in dem dummen Berlin. Nur schneiden ließ er sich schwer, weil Fritzens Messer nichts taugten. Brot und Butter fanden sich auch, und zwei Flaschen Bier standen schon unter der Leitung.

Nie hatte es bei »Adlon« ein so köstliches Abendessen gegeben, selbst in dem Schiffsrestaurant nicht, obwohl die Seeluft bekanntlich Appetit macht.

Licht hatten sie nicht angezündet, denn die Dämmerung war von allem das Schönste.

Von den Straßenlaternen empor drang ein gelblicher Glanz, in dem die Halme vor dem Fenster standen wie ein schmächtiges Gitter. Die Ähren an ihrem Ende beugten sich nach rechts und nach links bunt durcheinander, und ihre Grannenhaare leuchteten wie kleine Heiligenscheine.

Es war, als ob man in der Sommernacht an einem Kornfeld entlangging, und der niedrige Mond schien quer durch, und alles atmete schon das nahende Ernten.

Purzelchen saß wieder an seine Schulter geschmiegt, während sein Arm sie leise umschlungen hielt.

Und sie dachte: ›Ach, wär' das schön, so eine kleine Inspektorsfrau sein!‹


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