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An der Grenze seines Landes nahm der Kurfürst Abschied von seiner Tochter. Er war sehr bewegt, was für seinen Charakter eine auffallende Erscheinung war, da er seiner Umgebung stets ein gleiches Antlitz zu zeigen pflegte.
Die Prinzessin an der Spitze ihres Gefolges hatte bereits den Fuß über die Grenze gesetzt, als sie von ihrem Vater zurückgerufen wurde. Er stand und erwartete sie. Indem er die Volksmenge, die den Platz umgab, zu vermeiden trachtete, führte er sein Kind in die Nähe einer kleinen Pächterwohnung, in deren untere Stube er mit ihr trat; hier, wo niemand zugegen war als der Prinzessin stete Begleiterin, die Frau von Rathmannshausen, ergriff der Kurfürst die Hand seiner Tochter und sagte zu ihr mit bewegter Stimme: »Liebes Kind, ich will dir jetzt einige Abschiedsworte sagen und zugleich ein paar väterliche Erinnerungen beifügen.«
Die Prinzessin schwankte, als sie diese Worte hörte, und sie, die während der ganzen Reise schon sehr bewegten Gemütes gewesen war, verlor hier so sehr ihre Fassung, daß sie sich auf die Schulter ihres Vaters stützte und die Augen, mit schmerzlichen Tränen erfüllt, zu Boden schlug.
»Meine Tochter,« fuhr der Kurfürst fort, »du kommst jetzt in ein fremdes Land, vergiß dein Vaterland nicht! Bleibe treu dessen Sitte, handle offen und wahr gegen jedermann und geh in keine Sache ein, die wider Gott, dein Gewissen und die deutsche treue Gesinnung geht. Dabei sei klug und mische dich nicht in die verwickelten Händel des Landes und des Hofes. Suche dir Freunde zu erwerben, aber nicht auf Kosten deiner Wahrheitsliebe. Erwachsen dir aus deiner Gesinnung Feinde, so suche sie von der Aufrichtigkeit deiner Grundsätze zu überzeugen, gelingt dir dies nicht, so geh deinen Weg fürder, ohne zu sorgen, was diese Menschen gegen dich unternehmen, denn ihr Tun und Treiben ist alsdann nicht deine Sache, sondern Gottes. Denn wir können gegen Feinde und Widersacher, die uns der Himmel als Prüfung auf unsern Weg stellt, nichts ausrichten. Suche dir das Wohlwollen des Königs zu erwerben, aber nicht durch Schmeichelkünste, in denen du wohl schwerlich wirst mit den Französinnen wetteifern können, sondern durch Wahrheit, Offenheit und Treue, damit er deine Stütze sei, im Fall dein Gemahl und Herr dir abhold wäre. Vor allen Dingen geh aber darauf aus, dir dessen Wohlwollen zu erwerben, denn wenn zwei Eheleute einig miteinander leben, so ist der dritte nicht nötig. Zähle in keiner deiner Angelegenheiten auf mich; ich kann dir in keiner Sache von Nutzen sein, denn mein Wille ist, daß du in Paris bestehst, und daß du mir von Nutzen seiest, wenn es dessen bedarf. Ich bin ein kleiner Fürst, und nach mir und meiner Willensmeinung wird niemand fragen; wohl kann ich aber in den Fall kommen, die hohe Verwandtschaft in Frankreich in Anspruch zu nehmen. Also sei klug, vorsichtig und überlegt. Lebe wohl, meine Tochter, und sei glücklich!«
Die Prinzessin weinte an dem Halse ihres Vaters. »Ach, mein teurer Vater,« rief sie einmal übers andere, »wie schwer wird mir dieser Gang, den du mich tun läßt!«
»Es muß so sein!« erwiderte er.
»Ich kenne dort niemanden, wer wird dort meine Stütze sein?« rief die Prinzessin, von neuem in Tränen gebadet.
»Dessen bedarfst du nicht,« sagte der Kurfürst. »Fürs erste zeige dich, wie du bist und wie du zu leben gewohnt bist; später nimmst du von den fremden Ratschlägen das an, was dir gut und dienlich scheint. Das übrige überlaß Gott! Sei eine gehorsame Tochter, mein Kind. Wir Fürsten sind gemacht, uns dem Schicksal, das über uns widerstandslos gebietet, zu fügen.«
»O Gott! Gott!« seufzte die Prinzessin.
Der Kurfürst wandte sich zum Gehen.
Die Prinzessin eilte ihm nach und rief: »Aber schreiben darf ich doch Euer Liebden?«
»Nein!« entgegnete der Fürst. »Richte deine Briefe an deine Mutter oder an die Raugräfin. Ich habe keine Zeit, deine Schreiben zu beantworten. Ich liebe überhaupt nicht, wenn Weiber schreiben. Jetzt lebe wohl und nimm meinen Segen!« –
Er legte einen Augenblick seine Hand auf ihr Haupt, sie küßte ihm mit Inbrunst beide Hände, und beide schritten zur Tür hinaus. Der Kurfürst schwang sich auf sein Pferd, wandte es heimwärts und trabte fort. Seine Kavaliere folgten ihm. Die Prinzessin stand noch lange und sah, mit vor die Augen gehaltener Hand, dem Vater nach, dann wandte sie sich zu der Rätin und sagte unter Tränen: »Den sehe ich niemals wieder!« –
Das Gefolge wartete. Als die Fürstin sich wieder dem Zuge näherte, stand der Marquis von Rohan an ihrer Kutschentüre, um ihr hineinzuhelfen. Als sie sich auf seinen Arm stützte, flüsterte er ihr zu: »Es wird alles gut gehen! Man muß die Hoffnung nicht verlieren!« Charlotte drückte ihm die Hand und wandte ihm einen freundlichen Blick zu.
»Wir müssen eilen!« rief die princessse palatine, die im Wagen gewartet hatte. »Die Sonne neigt sich schon zum Niedergange.«
Als die Grenze Frankreichs überschritten war, sank Charlotte in die Polster des Wagens zurück. »Jetzt ist's geschehen!« rief sie, »Gott, laß mich nur den Heimweg finden!«
Die Prinzessin zog ein Gesicht, als wollte sie sagen: »Ich sollte nur an deiner Stelle sein, unvernünftiges Mädchen, wie ganz anders würde ich handeln!«
Ein Weib ging des Weges, die Blumen im Korbe trug; Charlotte rief sie an. Sie ergriff durch das Kutschenfenster den Blumenstrauß und warf ihr ein Stück Geld hin. »Kommt, kommt, meine lieben pfälzischen Blumen; wir wollen miteinander welken!«
Georg kam an den Wagenschlag und fragte nach Befehlen. Charlotte schüttelte mit dem Kopfe. Die Tränen standen ihr nahe, sie konnte und wollte nichts sagen. Georg wandte sich ab und ritt rasch fort. –
Dies waren jedoch die letzten Zeichen ihres tief verwundeten Innern, die die Prinzessin merken ließ; von jetzt an nahm sie sich männlich zusammen und ging den ihr vorgeschriebenen Weg fest und sicher weiter.
In Metz empfingen sie die französischen Behörden und geleiteten sie zu dem Palaste des Erzbischofs, der ihr auf der Treppe entgegenkam, um sie in die für sie bestimmten Gemächer zu führen. Hier wurde die Reise auf einige Zeit unterbrochen, die man für nötig erachtete, um die Wichtigkeit des Schrittes zu überlegen, den die Fürstentochter zu tun sich entschlossen hatte. Es galt nämlich die katholische Religion anzunehmen, ohne welche es keiner Fürstin erlaubt war, den Thron von Frankreich einzunehmen, wieviel weniger eine Stellung neben ihm. Charlotte wußte das. Mit ihrem guten Katechismus von Martin Luther in der Tasche, mit dem dazu gehörigen Gesangbuche, von dem sie viel auswendig wußte, glaubte sie allen Einflüssen der Katholiken trotzen zu können, besonders da ihr das Ganze nur wie eine Art Schauspiel vorkam, gehörig zu ihrer Stellung.
Während ihr Gefolge, die princesse palatine an der Spitze, sich die Sehenswürdigkeiten von Metz ansah und die Ehren empfing, die eigentlich ihr zugedacht waren, befand sich Charlotte in den Gemächern des erzbischöflichen Palastes, der religiösen Betrachtung hingegeben. Religion, das heißt die öffentliche, auf ein bestimmtes Bekenntnis begründete, war nie ihre Sache; sie besaß die einfachen Wahrheiten, die den Grund geben zu einem ehrlichen, offenen und rechtlichen Leben, und die sich in wenige Sätze zusammenfassen lassen, was darüber ging, in protestantischer wie in katholischer Weise, hielt sie für ein besonderes Eigentum der Priester, womit diese sich ihre Existenz und ihren Lebenszweck gründeten und dadurch bekanntlich Händel und Streitigkeiten in die Welt brachten, die das Ganze der christlichen Lehre befleckten, ohne imstande zu sein, dem Glanze derselben irgendetwas beizufügen. Es war ihr demnach so ziemlich gleichgültig, ob sie zu dieser oder jener Konfession zählte, ihre Religion im Herzen, konnte sie des äußern Beifalls und der Zustimmung ganz wohl entbehren.
Als die Zeit der Absperrung für sie beendet war, wurden ihr drei Bischöfe vorgestellt, die sie in den Pflichten des Glaubens unterweisen sollten. Alle drei waren voneinander sehr verschieden. Der eine, ein Weltmann, näherte sich ihr unter den Formen der Gesellschaft, brachte die Religion wenig oder gar nicht in Betracht und legte, ehe er schied, der Prinzessin ein Glaubensbekenntnis vor, das im allgemeinen die Grundzüge der apostolischen Lehre des heiligen Stuhls enthielt. Die Prinzessin nahm das Blatt aus seiner Hand und gab ihm statt dessen eins, das sie mit dem Bekenntnisse des Luthertums ebenso oberflächlich angefüllt hatte, dem sie entsagte. Damit war die Bekehrung vollendet. Die beiden anderen, auf dem Zeugnis der Prinzessin fußend, gingen nunmehr auf die innere Wahrheit der Weltreligion des Katholizismus über und sagten bei dieser Gelegenheit vieles, was Charlotten, bei ihrer Lebhaftigkeit und ihrem Triebe, im Felde des Geistes zu forschen, Gelegenheit gab, nachzudenken und sich manches für die Folgezeit zu merken. Die Klugheit der Jesuiten spielte eine große Rolle. Es wurde ihr mit halben Worten gesagt, daß den Fürsten so ziemlich alles erlaubt sei, was für den Untertan eine Sünde sei und bleibe, nur eins nicht – sich dem Einfluß der Väter zu entziehen. Dies empörte den offenen, freien Sinn des Beichtkindes; sie wußte es schon, seitdem sie in Hannover dem Gespräch der geistreichen Tante zugehorcht, sie fand jedoch nicht für nötig, hierüber irgendeine besondere Meinung auszusprechen, und der Bischof war von ihrer Fügsamkeit oder, wie er es bei sich nannte, ihrem lenksamen Indifferentismus völlig befriedigt. Der dritte Bekehrer brachte nebst diesem jesuitischen Beisatz auch noch ein mönchisches Element ins Spiel, dem zufolge es ihm wünschenswert erschien, daß die Prinzessin, wenn sie diese Ehe geknüpft hätte, sie alsbald wieder trennen lassen möchte, um in der Stille der Klausur Klöster und fromme Stiftungen zu bedenken. Charlotte dankte dem alten Manne für seinen guten Rat, gab ihm jedoch zu bedenken, daß die Schließung einer Ehe eine zu wichtige Sache sei, um sie sofort wieder anderen Zwecken aufzuopfern. »Freilich«, sagte der Bischof mit Salbung, »ist die Ehe ein Sakrament, mit dem sich nicht spielen läßt und das völlig unlösbar ist, doch gibt es Mittel, zwangvollen Verhältnissen zu entgehen, um Gott zu dienen.«
Der Tag der Aufnahme war erschienen. In die Hände des Erzbischofs legte die Prinzessin ihr neues Glaubensbekenntnis nieder. Die Kirche war gedrängt voll von Menschen. In den Augen vieler sah sie eine Freude leuchten, die ihr unbegreiflich schien. Für sie war dies der erste Schritt in lästigen zeremoniellen Pflichten, auf dem Wege, den sie sich zu gehen entschlossen hatte.
Am Abend dieses Tages erquickte sie ihren lieben Vetter Georg und die Rathmannshausen mit dem alten Lutherschen Spruche:
»Soll's ja so sein,
daß Straf' und Pein
auf Sünden folgen müssen,
so fahre fort
und schone dort,
und laß mich hier, wohl büßen.«