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Ein häßlicher, grauer Regentag war es, an dem Professors Zwillinge zum erstenmal in die neue Schule gehen sollten. So ein kalter, ungemütlicher Apriltag mit Regengüssen, von Hagelschauern durchsetzt. Große Eiskörner sprangen an das Fensterglas der Kinderstube. Tiefhängende, schwarze Wolken jagten am Himmel einher.
Herbert und Suse erschienen, bereits zum Fortgehen gerüstet, am Frühstückstisch. Das kleine Mädchen hatte den neuen roten Strohhut auf dem kurzgeschnittenen Braunhaar; der Bruder seinen nagelneuen, hellen Frühjahrspaletot angezogen. Beide trugen Wadenstrümpfe und Sandalen. Die Mutter traute ihren Augen nicht, als sie die zwei erblickte.
»Ja, Kinder, seid ihr denn nicht gescheit! Wollt ihr in dem Aufzug in den Regen hinaus? Die neuen Sommersachen sind für Sonntags und nicht für die Schule, noch dazu bei diesem abscheulichen Wetter. Und Wadenstrümpfe – Sandalen! Ich muß euren Schrank abschließen, wenn ihr so unvernünftig seid. Geschwind zieht euch um, lange Strümpfe und feste Stiefel«, verlangte Mutti energisch.
Die Zwillinge schienen damit durchaus nicht einverstanden. »Na, wenn heute das Sommerschulhalbjahr beginnt«, wandte Herbert ein. »Und wenn wir doch in eine Waldschule gehen, dann müssen wir auch Sommersachen tragen«, unterstützte ihn Suse. »Wir können doch nichts dafür, daß heute so schlechtes Wetter ist.«
»Es ist überhaupt schon viel zu spät dazu. Zehn Minuten vor acht müssen wir uns am Bahnhof Heerstraße versammeln.« Dabei ließ sich Herbert sein Frühstücksbrötchen und den Kakao, den die Mutter bereits eingeschenkt hatte, schmecken. Suse sah unsicher von Mutti zu dem Zwillingsbruder. Sie war gewöhnt, alles, was er machte, mitzumachen – auch die Unarten.
»Wollen mich meine Kinder ärgern?« fragte die Mutter mit trauriger Stimme.
Da hatte Herbert auch schon seine Tasse klirrend hingesetzt. Der neue Frühjahrspaletot flog auf die Chaiselongue; Suses roter Hut daneben. Sandalen und Wadenstrümpfe abgestreift – das ging wie der Wind. Wie hatten sie das auch nur vergessen können, was sie dem Vater gelobt hatten, ihre Mutti während seines Fernseins nicht zu ärgern.
»Frühstücksstullen – wir haben ja noch kein Frühstückspaket, Mutti«, erinnerte Suse.
»Braucht ihr nicht. Ihr bekommt Essen in der Waldschule.«
»Wenn wir aber nicht satt werden!« Herbert war in großer Sorge.
Wenige Minuten später verließen zwei Haulemännchen in Lodenmänteln und Kapuzen das Haus. Frau Professor Winter begleitete ihre Zwillinge das erstemal zu dem Treffpunkt, wo die Lehrer die Schüler und Schülerinnen der Waldschule in Empfang nahmen. Auch Bubi gab ihnen das Geleit.
Der Wind blies eisig über das freie Gelände. Am Reichskanzlerplatz hingen sich die Kinder fest in Mutters Arm, um nicht fortgeweht zu werden. Man konnte keinen Schirm aufmachen. Auch Bubi fand, daß es ein Hundewetter war.
»Wie schön warm muß es jetzt bei Vati in Italien sein!« sagte Herbert sehnsüchtig.
Auch Mutters Gedanken weilten wie meist sehnsuchtsvoll in der Ferne.
»Warum müssen wir auch in die olle Waldschule gehen!« Suse schauerte vor Kälte ordentlich zusammen. Sie stellte sich die Waldschule besonders kalt und ungemütlich vor.
»Schade, daß ihr nicht eure Wadenstrümpfe anbehalten habt!« scherzte die Mutter. Da machten sie beide beschämte Gesichter. Mutti hatte, wie immer, recht behalten.
Bei dem Hagelschauer, der wie spitze Stecknadeln piekte, konnte man die Augen kaum aufmachen. So sahen die Zwillinge nicht, daß ihnen noch andere Haulemännchen folgten. Drei an der Zahl waren es, zwei Mädel und ein Bübchen. Sie waren aus dem großen Hause, das gegenüber der Winterschen Wohnung lag, gekommen. Eine, zwei, drei, vier Straßenbahnen, alle mit Schulkindern gefüllt, sausten vorüber. Das waren alles Waldschulkinder.
Der Bahnhof Heerstraße war nicht weit. Dort hatten sich schon mehrere Damen, Herren und viele Kinder, Jungen und Mädel, eingefunden. Sie gehörten alle zur Waldschule. Man wartete nur noch auf den Zug, der die Charlottenburger und Berliner Kinder brachte, soweit sie nicht mit Straßenbahn, mit Rädern oder zu Fuß kommen konnten.
Professors Zwillinge, die als »Neue« eingehend gemustert wurden, sahen sich ihrerseits die künftigen Schulkameraden ebenfalls neugierig an. Große und kleine waren darunter. Da nickte es plötzlich aus dem Kreise heraus. Es waren die drei Haulemännchen aus dem Hause gegenüber. Sie kamen den beiden unter all den fremden Gesichtern schon ganz vertraut vor.
»Zwei neue Jungs«, stellte da eine laute Kinderstimme fest. Man konnte die Suse in ihrer Lodenkapuze ganz gut für einen kleinen Jungen halten.
»Kannst du tüchtig boxen?« fragte einer der Jungen sie. Suse schüttelte verlegen den Kopf und verkroch sich hinter den Bruder. Der fremde Junge blickte mit unverhohlener Verachtung auf sie. Der Neue schien ja eine nette Bangbüchse zu sein.
Frau Professor Winter hatte sich inzwischen dem Herrn Direktor, der ebenfalls seine Kinder dabei hatte, und den übrigen Lehrern vorgestellt.
»Also, das sind unsere neuen Sextaner«, sagte der Herr Direktor, den beiden fremden Kindern freundlich die Hand reichend. »Es wird euch sicher bei uns gefallen. Wir arbeiten fleißig in der Waldschule, aber wir sind auch lustig miteinander. Nicht wahr, Kinder?«
»Ja!« riefen die alle mit hellen Stimmen. Das klang in den grauen Aprilmorgen wie Lerchenschlag.
»Hier stelle ich euch den Herbert und die Suse Winter, eure neuen Kameraden, vor. Haltet gute Freundschaft miteinander. So – da läuft ja auch der Zug ein. Nun können wir gleich aufbrechen.«
»Ein Mädel ist das, der eine neue?« »Welches ist das Mädel und welches der Junge?« flüsterten die Kinder untereinander.
Aber als die beiden sich nun von der Mutter verabschiedeten, merkte man es schon, wer von beiden das Mädel war. Herbert gab der Mutter die Hand, wie es sich für einen Mann geziemt. Suse aber hing ihr plötzlich am Halse und hätte sich am liebsten wieder mit heimnehmen lassen. Sie fürchtete sich vor all den fremden Gesichtern der Lehrer und Schulgefährten und vor der neuen Schule.
»Komm, Suse,« flüsterte Herbert ihr zu, nach der Hand der Schwester greifend, »komm, laß dich nicht auslachen.« Das wirkte. Suse klammerte sich an die Hand des Bruders, wie ein Ertrinkender an eine Planke. Noch einmal wandten sie die Köpfe zur nachschauenden Mutter, zu Bubi, der seinen kleinen Freunden durchaus folgen wollte, grüßend zurück.
Lange sah Frau Professor Winter ihren Zwillingen nach. War sie nicht doch zu selbstlos gewesen, daß sie sich beinahe für den ganzen Tag von ihnen trennte?
Da waren all die Haulemännchen wie Märchenspuk im Regengeriesel verschwunden.
Die Radler auf flinken Stahlrossen jagten voran. Durch die Kolonie hindurch ging's in den Grunewald. Hier war es geschützter. Die Bäume hielten den eisigen Wind ab. Es trommelte auf die Äste, es tropfte von den Zweigen. Wie leise Musik ging der Regen hernieder. Das Erdreich war aufgespült. Große Pfützen standen, die die Kinder nicht etwa umgingen, sondern allenfalls übersprangen. Den meisten, besonders den Jungen, machte es einen Hauptspaß, in den Pfützen zu waten. Bis einer der Lehrer aufmerksam wurde und dieses ungesunde Vergnügen untersagte.
Zu Professors Zwillingen gesellten sich die Haulemännchen aus dem Hause gegenüber. Die beiden größeren, zwei Mädchen, schienen ungefähr in gleichem Alter mit ihnen zu sein. Der Bruder war etwas kleiner.
»Wie heißt ihr?« eröffneten sie das Examen.
Herbert und Suse nannten ihre Namen.
»Am ersten November werden wir zehn.«
»Und du?« Die fremden Kinder wandten sich an Suse.
»Ich auch.«
»Wa–as?«
»Wir sind nämlich Zwillinge, die Suse und ich«, erklärte Herbert.
»Ach, ist das drollig. Ganz gleich seht ihr aus!« – »Nein, der Junge ist ein kleines bißchen größer!« – »Das Mädel hat ja braune Augen und der Junge blaue. Daran kann man sie unterscheiden!« so riefen die Kinder durcheinander.
Bald wußten sie es alle, daß die beiden Neuen Zwillinge seien.
Aber auch Herbert und Suse erfuhren nun die Namen der ihnen gegenüber wohnenden Kinder. Die Schwestern hießen Eva und Lisa Licht. Eva war zwölf Jahre alt und schon in der Quarta. Die zehnjährige Lisa ging in die Sexta, war also ihre Klassengefährtin. Der kleine Bruder Wolfgang war erst acht Jahre alt und besuchte die nebenan gelegene Volkswaldschule.
Nach kurzem Marsch war die Waldschule erreicht. Schüler und Lehrer teilten sich. Der eine Teil wandte sich der Volksschule zu, der andere dem Gymnasium. Es war ein großes Waldgelände, auf dem mehrere Holzbaracken und überdachte Hallen errichtet waren.
Ein niedliches, braunes Hündchen bewillkommnete die Schar mit lustigem Gebell. Das war »Türko«, der vierfüßige Freund aller Waldschulkinder. Suse hielt sich fest an Herberts Hand. Trotzdem sie an Bubi daheim gewöhnt war, betrachtete sie den fremden Köter mit geheimem Mißtrauen.
Die Zwillinge folgten den anderen Kindern in die hinter den Wirtschaftsräumen gelegene Kleiderablage. Dort hatte jedes Kind sein Fach. Dieselben waren alphabetisch nach dem Namen der Schüler geordnet. Auch Herbert und Suse bekamen ihr Fach. In jedem befand sich eine Decke für die Liegestunde. Außerdem die Schulbücher der Kinder, die nicht mit nach Hause genommen werden durften, da die Schularbeiten gleich während der Arbeitsstunde in der Waldschule erledigt wurden. Decke und Bücher waren mit einer Nummer versehen. Das Fach, in das sie gehörten, trug dieselbe Nummer.
Nachdem man sich der nassen Überkleider entledigt hatte, ging es zu den Klassenräumen. Jede Klasse war eine Holzbaracke. Lichtgrün waren sie angestrichen mit leuchtend blauen Regengossen und braunroten Türen. Lustig blickten sie selbst in diesen griesgrämig grauen Regentag.
»Hier gehört ihr nicht hin, ihr Zwergenvolk«, sagte ein langaufgeschossener Junge, auf die Zwillinge mit Gönnermiene herabblickend. »Hier ist die Tertia. Ihr müßt ein Haus weitergehen.«
Lisa Licht nahm sich zum Glück der beiden Neuen an. »Kommt nur mit mir. Ich bin ja auch in der Sexta.«
So, nun waren sie endlich am richtigen Ort. Mit großen Augen sahen sie sich in der neuen Klasse um. Ebenso freundlich wie von außen sahen die Holzhäuschen von innen aus. Die Wände unten blau, oben leuchtend gelb angestrichen. Ein gemütlicher brauner Kachelofen in der Ecke. Ach, und so viele Fenster! »Sieh nur, Herbert, lauter Fenster, die ganze Wand entlang«, flüsterte Suse. Das war in ihrer früheren Schule nicht gewesen.
Herbert aber hatte anderes zu beobachten. »Du, Suse, was sind denn das für Klappen da oben an der Wand und auch über den Fenstern?« überlegte er.
»Luftklappen«, sagte der eintretende Lehrer hinter ihnen, der diese Frage gehört hatte. »Da werden Schüler, die nicht ihre Pflicht tun oder den Unterricht stören, an die Luft gesetzt«, fügte er scherzend hinzu.
»Ist ja gar nicht wahr – die Klappen sind ja für die kalte Jahreszeit, um immer frische Luft in die Klasse zu lassen«, riefen die anderen Kinder.
»Stimmt, ihr Schlauköpfe. Und nun setzt euch auf eure Plätze.«
Alle nahmen auf Stühlen und Bänken an niedrigen Holztischen Platz. Nur zwei standen unschlüssig noch in der Mitte.
»Hallo – zwei neue Gesichter!« Der noch junge Studienassessor, Herr Körner, wandte sich den beiden zu. »Wie heißt ihr?«
»Herbert Winter – Suse Winter –«, riefen die beiden wie aus einem Munde.
»Aha, Geschwister. Also der Herbert Winter kann sich hier in die dritte Reihe setzen und die Suse kommt nach vorn in die erste Reihe«, ordnete der Lehrer an.
»Nein, das geht nicht«, sagte der Junge und blickte auf die sich nur noch fester an seine Hand klammernde Schwester.
»Ei, warum geht das denn nicht?« fragte Herr Körner verwundert.
»Die Suse und ich, wir sind nur in die Waldschule gekommen, damit wir zusammenbleiben können«, erklärte der Bruder. Er schien der Sprecher für Beide zu sein, während das Mädel schüchtern schwieg.
»Nun, die Trennung von zwei Reihen werdet ihr ja überstehen«, sagte der Lehrer lächelnd. »Ich habe den Grundsatz, Geschwister nicht zusammen zu setzen, da sonst meistens Privatunterhaltungen oder auch geschwisterliche Balgereien dabei herauszukommen pflegen. Also vorwärts! Wir wollen mit der Stunde beginnen.«
»Wir sind doch Zwillinge«, rief Herbert, »und die darf man nicht trennen, hat unser Vater gesagt.«
Der Lehrer stimmte in das Lachen der Klasse ein.
»Ach, lieber Herr Lehrer«, zum ersten Male wagte Suse es, die braunen Augen zu dem fremden Herrn zu heben, »bitte, lassen Sie mich doch neben meinem Bruder sitzen. Wir wollen uns auch gewiß nicht balgen oder privat unterhalten.«
Es mußte wohl etwas in den flehentlichen braunen Kinderaugen liegen, was das Herz des Lehrers erweichte und das Lachen der Klasse verstummen machte.
»Also meinetwegen, wir wollen es versuchen. Weil ihr Zwillinge seid. Setzt euch hier in die letzte Reihe. Und nun wollen wir mit der Rechenstunde beginnen.« Hand in Hand ließen sich Professors Zwillinge auf den ihnen angewiesenen Stühlen nieder. Die Stunde nahm ihren Anfang. Man hatte Bruchrechnung.
Der Lehrer zog einen Apfel aus der Tasche. »Was ist das?« fragte er.
»Ein Apfel«, rief die Klasse.
»Das ist ein ganzer Apfel oder ein Ganzes. Nun, schneide ich den Apfel durch, was erhalte ich da, Margot Burg?«
»Einen halben Apfel«, antwortete ein kräftiges Mädchen mit braunem Kraushaar und lustigen blauen Augen.
»Das stimmt nicht. Weißt du's, Winfried?«
»Zwei Hälften«, meinte ein Junge.
»Schön. Zwei Hälften oder zwei halbe Äpfel. Also wieviel ist ein Ganzes geteilt durch zwei? Das wird uns die neue Suse sagen.«
Diese fuhr empor. Sie hatte soeben mit Erstaunen festgestellt, daß der Lehrer hier in der Waldschule nicht auf einem erhöhten Katheder wie in der früheren Schule, sondern zu ebener Erde seinen Tisch hatte. Jetzt sah sie fragend zu dem Bruder, von dem ihr stets Hilfe zu kommen pflegte. Aber als der stumm blieb, wohl um in der neuen Schule nicht gleich wegen Vorsagen gerügt zu werden, riet sie: »Zwei Äpfel.«
»Das könnte man sich gern gefallen lassen«, scherzte der Lehrer. »Da würde sich mancher seinen Apfel teilen, um zwei Äpfel zu erhalten. Weiß es der Zwillingsbruder besser?«
»Ein ganzer Apfel geteilt durch zwei gibt einen halben Apfel«, erklärte Herbert, der gewöhnt war, scharf und klar zu denken.
»Richtig. Ein Ganzes geteilt durch zwei gibt ein Halbes. Nun schneide ich den halben Apfel wieder durch. Was erhältst du dann, Klaus?«
»Noch weniger«, sagte ein dicker Junge, betrübt auf den kleiner werdenden Apfel blickend.
Die Klasse lachte. Suse und Herbert blickten neugierig auf den Pausback. Wie nett, daß hier auch ein Klaus war.
Inzwischen hatte der Lehrer nach verschiedenen falschen Antworten schließlich festgestellt, daß ein Halbes geteilt durch zwei ein Viertel ergibt. »Wieviel Viertel hat also ein Ganzes, Traudchen?«
»Vier Viertel«, kam die richtige Antwort.
»Das stimmt nicht immer«, rief da Herbert zu Suses Schreck dazwischen.
»Ei, wer spricht denn, ohne gefragt zu sein? Wieso stimmt das nicht, Herbert Winter?«
»Der Mond ist ein Ganzes. Aber er hat nicht immer vier Viertel. Oft steht von ihm nur ein Viertel am Himmel. Und bei Neumond gar keins«, sagte der Neue zur Verwunderung der Klasse.
»Glaubst du wirklich, daß der Mond nur das eine Viertel hat, das wir sehen, mein Junge?«
»Natürlich. Mein Vater hat uns abends gezeigt, wie die Mondsichel zunimmt.«
»Hat er euch auch erklärt, wieso das kommt? Daß immer nur das von der Sonne beleuchtete Viertel des Mondes für uns sichtbar ist und der andere unbeleuchtete Teil unsichtbar?«
»Nee, das hat mein Vater nicht gesagt.« Herbert schüttelte zweifelhaft den Kopf. Er schien dem Lehrer nicht recht zu glauben.
»Es ist in der Tat so. Der Mond erhält von der Sonne sein Licht. Nur die der Sonne zugewandte Seite des Mondes ist beleuchtet und daher sichtbar. Der Mond hat immer vier Viertel, auch wenn wir sie nicht sehen. Verstanden, Herbert?«
»Nee, danach muß ich erst meinen Vater fragen.«
»Vielleicht kann der dir das gar nicht so gut erklären.«
»Was – mein Vater ist doch Professor von allen Sternen, vom Mond und von der Sonne, überhaupt vom ganzen Himmel,« rief Herbert, in seiner Sohnesehre gekränkt.
»Und er ist doch nach Italien gereist, damit die da auch was von den Sternen lernen«, stimmte nun auch Suse eifrig ein.
»Ja, dann muß ich wohl die Waffen strecken«, lachte der Lehrer. »Da hat euer Vater euch das sicher noch nicht erklärt, weil ihr noch zu klein dazu seid. Nun wollen wir aber wieder mit der Rechenstunde fortfahren. Wer kann mir sagen, wie man aus einem Viertel ein Achtel macht?«
Da waren die meisten wieder der Meinung, daß man das Viertel mal zwei nehmen müsse. Erst als der Lehrer ihnen am Apfel zeigte, daß zweimal ein Viertel einen halben Apfel ergab, kam ein Schlauköpfchen darauf, das Viertel durch zwei zu teilen.
»Ein Viertel durch zwei ergibt ein Achtel. Habt ihr das alle verstanden? Du auch, Suse Winter?« wandte sich der Lehrer an die Neue. Denn er merkte, daß sie nicht ganz bei der Sache war.
Ja, was hatte die Suse auch inzwischen alles in der neuen Klasse anzuschauen gehabt. Ihr gerade gegenüber hing ein wunderhübsches Bild an der Wand. Eine Berglandschaft stellte es dar. Vielleicht Freiburg, wo die Großeltern wohnten. Eine Postkutsche fuhr langsam die Straße hinauf. An der Längswand der Klasse gab es ebenfalls Bilder. Das war sicher Schneewittchen mit den sieben Zwergen. Dort das schlafende Dornröschen und hier Hänsel und Gretel vor dem Knusperhäuschen. Und selbst an den Fenstern hingen Bilder. Aber Suse kam nicht mehr dazu, dieselben zu studieren. Die Stimme des Lehrers riß sie aus ihrer Unaufmerksamkeit.
»Da haben wir wohl ein Traumsuschen bekommen. Die richtige Antwort braucht man nicht immer zu wissen. Aber aufpassen muß jedes Kind.« Der nette Herr Körner schien unzufrieden.
Wie in Blut getaucht war Suses rundes Gesicht. Nein, wie sie sich schämte!
»Ich werde der Suse das zu Hause beibringen«, nahm sich da ihr Zwilling wieder getreulich des Schwesterchens an.
»Hast du es denn selbst richtig begriffen, Herbert?« fragte der Lehrer mit hochgezogenen Brauen. »Dann erkläre es uns noch einmal.«
»Ein Ganzes durch zwei gibt ein Halbes, ein Halbes durch zwei gibt ein Viertel, ein Viertel durch zwei gibt ein Achtel«, kam die Antwort ohne Zögern.
»Schön. Du hast es verstanden und kannst es der Schwester erklären. Aber ich wünsche, daß sie sich nicht auf dich verläßt, sondern selbst hier in der Stunde lernt, was wir zu lernen haben. Nun wollen wir zum Schluß noch ein bißchen das große Einmaleins wiederholen.«
»Sieben mal sechzehn – neun mal achtzehn – zwölf mal elf –.« Schlag auf Schlag kam die Frage und Antwort. Hören und Sehen konnte einem dabei vergehen. Manchmal stockte es ein wenig, um dann um so schneller wieder über einen dahinzubrausen. Professors Zwillinge saßen da wie unter einem Platzregen. Sie waren von ihrer früheren Schule her nicht solch ein forsches Examinieren gewöhnt. Selbst Herbert konnte nicht mit. Aber lustig war es schon. Knallrote Backen hatten alle Kinder vor Eifer bekommen. Und als jetzt eine Glocke das Ende der Stunde anzeigte, sagte Herbert zur Schwester: »Heute abend wird das große Einmaleins gepaukt, Suse. So doof dürfen wir nicht wieder dabei sitzen.«
Lisa Licht gesellte sich zu den beiden. »Jetzt haben wir Naturkunde. Schade, daß es regnet. Die letzte Stunde vor Ostern war es so schön warm, daß wir draußen im Freien schon die Kätzchen durchnehmen konnten.«
»Kätzchen – ach, wie süß!« rief Suse. »Laufen sie denn nicht weg während der Stunde?«
Lisa und die umstehenden Kinder lachten, daß Suse vor Befangenheit und Beschämung Tränen in die Braunaugen schossen.
»Ich meine doch Haselnußkätzchen, keine vierbeinigen, die fortlaufen können.« Lisa konnte sich gar nicht beruhigen.
Suse blickte auf Herbert. Aber als sie sah, daß auch ihr Zwilling in das allgemeine Lachen einstimmte, war sie klug genug, ebenfalls mitzulachen.
Dann aber sagte sie ablenkend: »Gibt's nicht bald Frühstück? Ich habe Hunger.« Trotz Mutters Zureden hatte daheim das Brötchen zum Kakao nicht rutschen wollen. Suse war zu aufgeregt vor der neuen Schule gewesen.
»Frühstück gibt's erst um halb elf. Bis dahin haben wir noch Naturkunde und Französisch«, teilten die Kinder den Neuen mit.
»Eine feine Suppe gibt's immer«, fügte Klaus mit strahlendem Gesicht hinzu. Man sah ja auch, wo es bei ihm blieb.
»Suppe zum Frühstück? Ich esse keine Suppe«, meinte Herbert energisch.
»Dann kriegst du auch keine Stullen«, erklärte ihm Lisa.
»Und heute gibt's belegtes Brot – heute ist Dienstag«, rief Klaus wieder und leckte sich im Vorgenuß schon die Lippen.
Der Eintritt der Lehrerin unterbrach die Unterhaltung. Fräulein Ludwig, eine noch junge Lehrerin, strich einigen der Kinder im Vorübergehen freundschaftlich über das blonde und dunkle Haar. Sie war mit allen ihren Schülern gut befreundet und die Vertraute in allen Nöten.
»Fräulein Ludwig, wir haben zwei Neue – noch dazu Zwillinge«, schallte es ihr entgegen.
»Das ist ja nett.« Mit gewinnendem Lächeln reichte die Lehrerin den Neuen die Hand. »Seid herzlich willkommen in unserer schönen Waldschule, liebe Kinder.« Es wurde den beiden warm ums Herz bei diesen Worten. Es war ihnen, als ob die Mutter sie liebkoste.
»Heute können wir leider nicht draußen im Walde unsere Botanikstudien fortsetzen. Petrus meint es heute nicht gut mit uns«, fuhr Fräulein Ludwig fort. »Hat einer von euch eine Pflanze mitgebracht, die wir durchnehmen wollen?«
»Ich!« – »Ich!« – »Nein, ich habe was viel Feineres!« rief es hier und dort.
»Wer etwas da hat, hält den Finger hoch und – den Mund«, verlangte Fräulein Ludwig. »Also Margot, was hast du uns mitgebracht?«
»Birkenkätzchen.«
»Die neue Zwillingin hat geglaubt, die können weglaufen«, rief ein vorlautes kleines Ding dazwischen.
»Es heißt nicht Zwillingin, sondern nur Zwilling, Hilde. Und was habe ich eben von dem Munde gesagt?«
Jetzt wurde die Hilde ebenso rot wie die Neue.
»Nun wollen wir sehen, was uns außerdem noch zugedacht worden ist. Kurt?«
»Ich habe eine bunte Anemone aus unserm Garten.«
»Das ist nett. Und die Inge?«
»Eine Tulpe von meiner Mutti Geburtstag.«
»Und der Paul hat uns auch etwas mitgebracht? Was ist es denn?«
»Ich weiß nicht«, sagte ein blasser, schmächtiger Junge, der vor Professors Zwillingen seinen Platz hatte.
Die Klasse begann zu kichern. Paul wurde wegen seiner Schüchternheit öfters etwas aufgezogen.
»Freilich könnt ihr lachen, wenn uns der Paul etwas so Schönes gepflückt hat«, gab Fräulein Ludwig der Heiterkeit mit Herzenstakt eine andere Auslegung. »Seht nur, einen Strauß Sumpfdotterblumen. Die wollte ich gerade mit euch durchnehmen.«
Paul reichte der Lehrerin erfreut sein Sträußchen hin. Suse entdeckte dabei, daß der Ärmel seiner grauen Jacke mehrfach geflickt war.
Trotzdem Kurt und Inge fanden, daß eine bunte Anemone oder eine Tulpe von Muttis Geburtstag viel schöner zum Durchnehmen sei, hatten Pauls bescheidene Sumpfdotterblumen die Ehre, die Sexta in der heutigen Stunde zu beschäftigen. Er durfte sie selbst unter den Kindern verteilen. Dem neuen Geschwisterpaar reichte er die schönste Blüte. Denn Professors Zwillinge gefielen ihm ganz besonders.
Niemals hatten Herbert und Suse bisher gewußt, daß das bescheidene gelbe Blümchen, an dem sie oft achtlos auf den Treptower Wiesen vorübergegangen, soviel Erstaunliches in seinen goldenen Blumenblättern barg. Die Staubgefäße, in denen der Samen enthalten war, die Fruchtknoten mit Stempel und Narbe, aus denen sie sich erneuerte. In dieser Stunde war auch Suse ganz bei der Sache. Viel zu früh zeigte die Glocke das Ende des Unterrichtes an.
Freilich nachher in Französisch waren die Zwillinge nicht mehr ganz dabei. Obwohl Fräulein Schmidt den Kindern die ihnen noch fremde Sprache so anregend wie möglich zu machen suchte. Trotzdem die Lehrerin die ersten französischen Sätze aus ihrer Umgebung, aus dem, was die Kinder sahen, bildete, ermüdeten sie doch.
» Voilà une table – das ist ein Tisch.« Jedes Kind mußte diesen Satz wiederholen. Dann folgte: » Notre classe a six fenêtres – unsere Klasse hat sechs Fenster.« Ja, wenn an den sechs Fenstern nur nicht Bilder gehangen hätten! Allerliebste kleine Bilder auf durchsichtigem Papier, welche die Kinder in der Zeichenstunde selbst fabriziert hatten. Da gab es eine grüne Wiese mit einem weißen Häuschen, das ein feuerrotes Ziegeldach trug. Da schwamm ein Riesenschwan auf dunkelblauem Wasser. Eine Eisenbahn dampfte pfeilgeschwind davon – sicher fuhr der Vater damit nach Italien. Ein roter Fliegenpilz wuchs am Fenster, und daneben gaukelte ein gelber Zitronenfalter. Ach, und da war ja der Osterhase. Die ganze Kiepe hatte er noch voll bunter Eier, trotzdem das Fest schon vorbei war. Und dabei mußte man natürlich rasch mal an die eigenen Ostereier daheim denken, an das süße Nähkästchen in Form eines Ostereis und –
»Wieviel Fenster hat unsere Klasse? – Die kleine Neue dort in der letzten Reihe.«
Suse fühlte einen brüderlichen Stoß mit dem Ellenbogen. Sie fühlte die Brillengläser der schon älteren Lehrerin auf sich gerichtet – keine Ahnung hatte »die kleine Neue«, was man sie gefragt hatte.
» Notre classe a six fenêtres. Combien de fenêtres a-t-elle?« wiederholte Fräulein Schmidt noch einmal Wort für Wort.
Suse sah sie an, als ob sie indisch spräche.
» Six fenêtres«, zischelte es da vor ihr. Der kleine Junge mit der geflickten Jacke war der Retter in der Not.
» Six«, wiederholte Suse mechanisch, denn mehr hatte sie nicht aufgeschnappt.
» Oui, six fenêtres, wiederhole den ganzen Satz.«
Aber da war die Suse so schlau wie zuvor.
»Weiß es der Bruder?«
» Notre classe a six fenêtres.« Eigentlich kam sich Herbert gar nicht brüderlich vor, daß er sein Schwesterchen schon wieder in den Schatten stellte. Aber Suse nahm ihm das durchaus nicht übel. Sie waren ja Zwillinge, da genügte es, wenn einer von ihnen es wußte.
» Répetez les deux phrases – wiederholt die beiden Sätze. Toute la classe – die ganze Klasse.«
Im lauten Chor erklang es jetzt: » Voilà une table. Notre classe a six fenêtres.« Da hatte auch Suse die fremdsprachlichen Sätze begriffen. Wenn nur ihr Magen nicht so laut die Begleitungsmusik zu dem Chor geknurrt hätte.
Nachdem sie noch gelernt hatten, daß es viele Kinder in der Klasse gäbe, Jungen und Mädchen, und daß jedes Kind zwei Augen, eine Nase und einen Mund habe, war die erste französische Stunde vorüber. Der Magen konnte nun endlich zu seinem Recht kommen.
»Wir müssen in den Eßsaal gehen, dort gibt es Frühstück«, sagte Lisa, von jeder Seite einen Zwilling unterärmelnd.
»Unsere Mäntel, wo haben wir denn unsere Lodenmäntel aufgehangen?« erkundigte sich Suse.
»Was – für die paar Schritte einen Mantel?« lachte Lisa.
»Du bist wohl aus Zucker und hast Angst, draußen beim Regen aufzuweichen?« zog sie einer der Jungen, genannt Mulle, auf.
Suse schwieg errötend. Herbert aber stellte sich kampfbereit vor die Schwester. »Wer hat Lust, ein paar Nasenstüber zu bekommen?« fragte er herausfordernd.
»Kinder, seid friedlich und kommt zum Frühstück herüber«, sagte da eine liebe Stimme. Es war die junge Lehrerin, die Herberts kriegerische Worte gehört hatte.
Da ging es wie die wilde Jagd über das regenfeuchte Waldgelände.