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Der Krankenbesuch bei Paul mußte bis Sonntag verschoben werden, da die Kinder wochentags erst gegen Abend aus der Waldschule heimkehrten. Aber Frau Professor Winter sah selbst nach dem kranken Schulkameraden ihrer Zwillinge.
Verlassen lag das arme Kerlchen in einer Hofwohnung auf seinem Bett. Die Mutter arbeitete tagsüber in einer Nähstube. Sie hatte ihm Brot zum Mittag und kalten Kaffee auf einen Stuhl neben das Bett gesetzt. Da lag er nun, der arme Junge, ganz allein den lieben langen Tag. Hin und wieder steckte mal eine Nachbarin den Kopf zur Tür herein und fragte, ob er irgend etwas haben wolle.
Als Frau Professor Winter in das ärmliche, aber saubere Stübchen trat, wurde der Paul ganz rot vor Verlegenheit über den fremden Besuch. Doch als er dann hörte, daß die feine Dame die Mutter von den Winterschen Zwillingen sei, die Paul schön grüßen ließen und ihm ein Märchenbuch und Erfrischungen schickten, war seine Freude groß. Frau Professor erzählte ihm, dem Wunsche ihrer Kinder nachkommend, daß sie nicht habe zugeben können, daß Herbert und Suse für den Bäcker Flunder in Pauls Vertretung Frühstück austragen durften, und daß er das künftig auch nicht mehr tun solle, um frisch für den Schulunterricht zu sein. Daß aber für die fehlende Miete gesorgt würde. Rührend war es, die Dankbarkeit des armen Jungen zu sehen. Aber die erfahrene Frau erkannte, daß es mit der Schokolade und dem Obst, das sie dem kleinen Kranken gebracht hatte, nicht getan sei. Hier fehlte vor allem ordentliche Ernährung für den blassen Jungen, ein kräftiges, warmes Mittagessen. Da die Hofwohnung Pauls in der Nähe ihrer eigenen Wohnung lag, schickte die menschenfreundliche Frau Professor von nun an die Lene jeden Tag mit warmem Mittagbrot zu dem kranken, kleinen Schulkameraden ihrer Zwillinge. Der zählte die Tage bis zum Sonntag, wo Herbert und Suse ihn besuchen durften.
Auch die Winterschen Kinder konnten den Sonntag nicht erwarten. Täglich überlegten sie, womit sie Paul erfreuen sollten, was sie ihm am Sonntag mitnehmen wollten. »Vor allem Blumen von unseren Beeten, die gehören zu einem Krankenbesuch«, meinte Suse.
»Blumen kann er nicht essen«, wandte Herbert ein. »Lieber Kuchen. Ob ich ihm ein bißchen meinen Laubfrosch borge?« Das war das Äußerste, wozu sich Herbert entschließen konnte. Ganz mochte er sich nicht von seinem geliebten Laubfrosch trennen.
»Den Laubfrosch kann er auch nicht essen.«
»Nee, aber der leistet ihm Gesellschaft, weil er so allein ist.«
»Ja, aber dann muß doch der Laubfrosch verhungern. Wer soll ihm denn Fliegen fangen? Der Paul darf doch nicht rumlaufen«, meinte Suse.
»Na, die Lene könnte doch mittags, wenn sie dem Paul Essen hinträgt, auch für den Laubfrosch ein paar Fliegen mitnehmen.«
Aber davon wollte die Lene nichts wissen. Für Laubfrösche koche sie kein Mittagbrot. So zogen Professors Zwillinge denn ohne den Laubfrosch, mit Blumen, Kuchen und einem hübschen Beschäftigungsspiel am nächsten Sonntag zu Paul.
Die Freude hättet ihr sehen sollen. Und am allermeisten freute sich der Paul über Suses Blumen. Er ließ sie sich in ein Wasserglas ans Bett stellen.
Heute am Sonntag war auch Paulchens Mutter da. Aber Pauls Mutter war blaß und elend; selbst den Kindern fiel das auf.
Was hatten sie dem Paul nicht alles aus der Waldschule zu erzählen. Vor allem, daß die Klassentür wieder ganz sei, und daß man leider nicht mehr durchs Fenster zu klettern brauche. Daß sich eine Familie Maus mit zwölf Kinderchen, die noch ganz nackt waren, unten im Keller gefangen habe. Daß die bunten Astern bereits auf den Beeten blühten. Und daß man gestern in der Naturkunde Pilze gesucht und dabei gleich die verschiedenen eßbaren Sorten, den Butterpilz, die Grünlinge, Rotreizker, Pfefferlinge, Steinpilze und Champignons von den schlechten Giftpilzen unterscheiden gelernt habe. Fein sei die Naturgeschichtsstunde im Walde gewesen. Und das nächste Mal wollte Fräulein Ludwig mit ihnen die Vogelstimmen durchnehmen. Denn der Gotthard hätte eine Amsel für eine Krähe gehalten. Und die Alma könne eine Blaumeise nicht von einem Rotkehlchen unterscheiden. Und Jakob, das Eichhörnchen, habe sich auch ein Bein übersprungen – genau wie Paul. Der Wächter habe ihm einen Verband angelegt.
»Aber das allerschönste ist das Waldschulfest, Paul«, erzählte Suse. »Am 1. September soll es sein. Bis dahin bist du bestimmt wieder gesund.«
»Den Reigen kannst du natürlich mit deinem kranken Fuß nicht mittanzen. Die Quinta studiert Volkstänze ein. Und Herr Körner macht ein Theaterstück. Ein Märchen wird's. Ich glaube, Rumpelstilzchen. Wir sollen alle mitspielen«, berichtete Herbert.
Sie meinten es gut, die Zwillinge. Sie wollten den kranken Freund mit ihren Erlebnissen aus der Waldschule zerstreuen. Aber sie dachten nicht daran, daß sie dem Jungen das Herz damit schwer machten, da er selbst davon ausgeschlossen war.
Auch die Lehrer und die anderen Waldschulkinder besuchten Paul. Alle bemühten sich, den armen Jungen, der nicht wie sie herumspringen konnte, sondern so lange stilliegen mußte, zu erfreuen.
Nur Lisa Licht meinte verächtlich: »Puh, wohnt der Paul häßlich. Unser Fräulein wollte gar nicht mit hinein in die Hofwohnung. Bloß eine Stube und Küche haben sie.«
Suse wurde ganz rot im Gesicht, so schämte sie sich für Lisa. »Unsere Mutti sagt, darauf kommt's gar nicht an, ob einer sechs Zimmer hat oder bloß eins. Die Hauptsache ist, daß ein braver Mensch drin wohnt.«
»Nicht mal ein Mädchen haben sie«, fügte Lisa wegwerfend hinzu.
»Trotzdem hat es in Pauls einem Stübchen viel ordentlicher ausgesehen als neulich in eurer Kinderstube!« rief Suse empört.
»Und Paul ist überhaupt viel fleißiger als du. Jeden Tag macht er seine Schularbeiten, die wir ihm mitbringen«, kam Herbert jetzt auch der Suse zu Hilfe.
Die aber sagte zu ihrem Zwilling: »Du, mit der Lisa gehen wir nicht mehr, wenn sie so häßlich über den Paul spricht.«
Da zog es Lisa vor, künftig lieber nicht mehr über Pauls bescheidene Häuslichkeit die Nase zu rümpfen.
In der Waldschule herrschte wieder mal großem Aufregung. Der 1. September stand vor der Tür. Morgen sollte das Waldschulfest stattfinden. Die Kinder hatten Girlanden aus Tannengrün gewunden. Die Pavillons, die Holzbaracken, die Liegehallen und die Luftklassen, alles wurde bekränzt. Im Handfertigkeitsunterricht hatten sie bunte Lampions fabriziert. Sie weiteiferten darin, die farbenprächtigsten herzustellen, sie mit Blumen, Schmetterlingen und Pilzen aus buntem Papier wirkungsvoll zu bekleben. In Tannengewinden und an Schnüren schaukelten die Lampions zwischen den Waldbäumen. Wenn es dunkel wurde, sollte italienische Nacht stattfinden. Die Angehörigen der Waldschulkinder waren eingeladen.
Hier übte Fräulein Ludwig mit ihren Blümchen und Käfern zum letztenmal den Reigen, dort wurde geschuhplattlert und ein schwedischer Volkstanz geprobt. Herr Fürst ließ seine Turnriegen noch einmal antreten. Herr Körner hielt mit seinen kleinen Schauspielern Generalprobe ab, bei der natürlich einer stecken blieb. Es war nicht das Märchen von Rumpelstilzchen geworden, sondern Dornröschen und der gestiefelte Kater. Gerhard gab in seinem aus einem alten Pelzmantel der Großmutter fabrizierten Miesekatzenanzug mit langem Schwanz und mit den hohen Wasserstiefeln seines Onkels einen famosen gestiefelten Kater ab.
Herbert spielte in Dornröschen den Küchenjungen und Suse eine der zwölf Feen.
Alles war wohl vorbereitet bis zu den großen Kuchen, die Mamsell gebacken hatte. Nur eins machte noch Kopfzerbrechen. Eins beschäftigte heute alle Gemüter, sowohl die der Kinder wie die der Großen: Würde das Wetter morgen auch schön sein?
Der Sonnenuntergang war nicht so tadellos gewesen, wie man es erhofft hatte. Himbeerfarbene Wolken ballten sich im Westen zusammen. Der Wächter, den man um seine Meinung befragte, zuckte die Achseln. Es könnte ja sein, daß es schön würde, aber es wäre auch nicht ausgeschlossen, daß es regnete. Davon wollten die Kinder natürlich nichts hören. Als Mamsell zu sagen wagte, daß ihr Hühnerauge brenne, ein Zeichen dafür, daß es anderes Wetter gäbe, entfesselte sie einen Sturm der Entrüstung.
Herbert befragte seinen Laubfrosch. Der saß stumm und dumm mitten auf seiner Leiter und glotzte einer vorübersummenden Fliege nach.
Suse stand vor dem Wetterhäuschen, das Onkel Ernst ihnen zur Erinnerung an den Sommeraufenthalt in Rügen geschenkt hatte. Männlein und Weiblein standen beide in ihrer Tür, keines wagte sich weiter vor als das andere. Ob sie das Männlein, das den Sonnenschein brachte, nicht ein bißchen herausziehen sollte, damit morgen schönes Wetter wäre?
»Es sind Sterne am Himmel. Die Venus ist ganz klar! Morgen regnet es bestimmt nicht!« frohlockte Herbert, in den Abendhimmel starrend.
»Wenn doch Vater hier wäre! Der versteht sich besser auf die Sterne als du, Herbert.« Die Zwillinge des Sternforschers standen auf dem Balkon und forschten in den Sternen, ob das Wetter morgen zum Waldschulfest schön sein würde. Bis Mutti sie ins Bett trieb.
Der Hahn hatte noch nicht gekräht, da war bereits ein Hemdenmatz am Fenster. Und gleich darauf natürlich auch der zweite. Aber es war noch schummerig. Man konnte noch nicht recht erkennen, ob es sich aufklären würde. In der grauen Morgendämmerung kam es Suse vor, als ob das Regenweiblein mit dem roten Schirmchen sich etwas weiter aus dem Wetterhäuschen herausgewagt hätte.
Aber am Morgen strahlte trotzdem die liebe Sonne. Solange sie die Erde beschien, war sie wohl niemals mit hellerem Jubel begrüßt worden als am Waldschulfest. Suse aber stand vor ihrem Wetterhäuschen, und blickte zweifelhaft von dem Regenweiblein, das jetzt ganz und gar herausspaziert war, während das Männlein sich ins Häuschen zurückgezogen hatte, zur strahlend hellen Sonne. Wer von den beiden irrte sich nun?
Die Sonne aber tat ihr möglichstes, um das Waldschulfest so schön als nur irgend möglich zu gestalten. Jedes Blümchen, auch das allerkleinste, lockte sie aus grünem Moosbettchen heraus. Lichtgrün und golden färbte sie die Blätter der Buchen und Eichen. Die Vöglein, die schon zur Winterreise in wärmere Länder sich sammeln wollten, hielten inne. Kam der Lenz wieder? Mit hellen Jubelhymnen begrüßten sie den goldenen Tag. Bienen flogen emsig ein und aus. Käfer schwirrten und surrten daseinsfroh im Sonnenlicht. Sommerfäden flatterten. Heller aber als Sonnenglanz strahlten glückliche Kinderaugen.
Die kleinen Mädchen in weißen, blauen und rosenroten Sommerkleidchen, die Buben in hellen Waschanzügen. Es gab ein buntes Bild im grünen Waldesrahmen. Sie standen und äugten den Weg entlang, ob denn die Eltern, der große Bruder, der Onkel und die Tante noch immer nicht zum Fest erscheinen wollten.
Und endlich war's soweit. Die Zuschauer waren versammelt. Herr Fürst stimmte seine Geige, um zum Blumenreigen aufzuspielen.
Da ging ein freudiges Wispern und Flüstern durch die bereits zum Tanz antretende Kinderschar: »Der Paul – Paulchen ist wieder da!«
Ja, da war er wirklich. Frau Professor hatte den Jungen, der bereits im Zimmer die ersten Gehversuche machen durfte, im Auto abgeholt und mitgenommen. Der arme, kleine Kerl sollte nicht um die Freude kommen. Er sollte beim Waldschulfest zugegen sein. Selbst die Zwillinge hatten nichts von der Überraschung geahnt.
Da erklangen die ersten Geigenklänge. Helle Kinderstimmen fielen ein: »Maiglöckchen läutet in dem Tal« – ein allerliebster Frühlingsreigen schwebte durch den Wald. Die kleinen Mädel wiegten sich wie die Elflein. Die Jungen mit ihren Käferflügeln wirkten mehr drollig als anmutig. Suse Winter als Heckenröslein mit rosenrotem Kranz auf dem Braunhaar sah besonders niedlich aus. Herbert, ihr Partner, stellte einen Maikäfer vor. Es erschien dem Traumsuschen ganz merkwürdig, daß der Maikäfer nicht wieder betrunken auf dem Rücken lag wie damals zur Blumenhochzeit. Der Reigen erntete viel Beifall. Sie mußten ihn gleich noch einmal tanzen. Auch die Volkstänze waren allerliebst. Dann führte Herr Fürst seine Turner vor, die in Freiübungen und an den Geräten Tüchtiges leisteten.
Den Schluß der Aufführungen machten die Märchenspiele. »Freilichttheater« nannten es die Großen. Der Wald gab eine wunderschöne Dekoration. Alles klappte, alles gefiel. Es schadete gar nichts, daß Herbert, der Küchenjunge im Dornröschenspiel, dem Koch Mulle, der ihm die Ohrfeige, als er nach hundert Jahren wieder erwachte, geben mußte, zurief: »Au, du, nicht so grob!« Und daß Gerhard, der gestiefelte Kater, plötzlich seinen langen schönen Miesekatzenschwanz verlor. Das erhöhte nur die Heiterkeit.
Der glücklichste von allen war heute sicher Paul. Sein blasses Gesicht leuchtete vor Freude, daß er wieder in der Waldschule sein konnte und daß alle so lieb zu ihm waren. Frau Direktor und Mamsell wußten gar nicht, was sie dem armen Jungen alles antun sollten. Das größte Stück Kuchen mit den meisten Rosinen bekam Paulchen. Er sollte vorläufig draußen in der Waldschule beim Herrn Direktor bleiben, der sich in einer Baracke einige Zimmer eingerichtet hatte.
Dann wurden Spiele arrangiert, an denen auch die Erwachsenen teilnahmen. Und als es anfing dunkel zu werden, als die Vögel zu Neste flogen, entzündete man die bunten, mit vieler Mühe fabrizierten Lampions. War das eine Pracht! Wie ein Märchen sah die Waldschule plötzlich aus. Überall schaukelten zwischen Nadelbäumen seltsame, farbenprächtige Riesenblumen. In Blau, Rot, Gelb und Grün leuchteten sie. Man konnte sich gar nicht vorstellen, daß dies die Schule war, wo man sonst Unterricht hatte.
Und nun kam das Schönste. Der Herr Direktor überraschte seine Waldschulkinder mit einer Fackelpolonäse. Jedes Kind erhielt eine bunte Stocklaterne mit brennendem Lichtchen darin. Und so zogen sie wie die Glühwürmchen in langer Reihe hintereinander durch die Dunkelheit heim. »Deutschland, Deutschland über alles«, erklang es durch den schon einschlummernden Wald.
Da – ein Tropfen auf der Nase – noch einer – gleich zehn auf einmal – hier und dort erlöscht ein Lichtchen.
»Es regnet – es gießt!« Die Glühwürmchen schwirren plötzlich aufgeregt durcheinander. All die weißen, roten und blauen Kleidchen werden von der Himmelsdusche tüchtig ausgewaschen.
So hatten Suses Regenweiblein und Mamsells Hühnerauge doch recht behalten.