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22. Kapitel. Winter ade

Mutter Zeit hatte ein junges Kindlein in die Welt hinaus gesandt. Ein neues Jahr hatte seinen Einzug gehalten. Professors Zwillinge hatten am Silvesterabend mit der Lene Blei gegossen und Pantoffel geworfen.

»Jott, Kinder, was is denn das bloß mit euch? Euer Pantoffel zeigt ja immer zur Wohnung raus. Paßt aus, ihr jeht im neuen Jahr auf Reisen«, hatte sich die Lene gewundert.

»Ich habe überhaupt eine Eisenbahn gegossen, Lene.« Suse hielt ihr Blei nach allen Richtungen an die Wand, um die Umrisse des Schattens, den es warf, daraus erkennen zu können.

»Nee, Suschen, das is keine Eisenbahn nich. Das is ein Schiff. Jewiß fährst du dies Jahr wieder nach Rügen.« Die Lene verstand sich auf das Bleideuten.

»Ach nee, ich will kein Schiff, da werden wir bloß wieder seekrank«, erhob Suse Einspruch.

»Und ich, Lene, was habe ich gegossen?« drängte Herbert. Er hielt ein dreikantiges, spitz zulaufendes Bleiding gegen die Wand.

»Das is der Berliner Kreuzberg«, stellte Lene fest.

»Oder der Feldberg bei Freiburg. Vielleicht reisen wir dieses Jahr zur großen Omama«, rief Suse.

»Ach, Quatsch mit brauner Butter! Das erkennt doch ein Blinder ohne Laterne, was das ist: Der Vesuv ist das! Seht ihr denn nicht die schwarze Lava, die hier aus dem Krater herausgespuckt wird? Das ist bestimmt der Vesuv!« Herbert war ganz aufgeregt. »Mutti, Muttichen, ich habe den Vesuv gegossen. Ich reise dieses Jahr zum Vater. Und Suse hat ein Schiff vom Mittelländischen Meer.«

Die Mutter strich ihrem Jungen über das heiße Gesicht. »Wir wollen zufrieden sein, Kinder, wenn das neue Jahr uns unsern Vater zurückbringt«, sagte sie leise.

»Nee, wir fahren lieber zu ihm!« Herbert legte seinen Vesuv sorgsam zu seinen sonstigen Heiligtümern, der Lava und dem Schwefelstein, die der Vater geschickt, zu dem kleinen Korallenbäumchen und dem Stück Bernstein aus Rügen.

Das neue Jahr aber kümmerte sich nicht um die Wünsche der Großen und Kleinen. Das floß, ohne auf rechts und links zu achten, unentwegt dem großen Zeitenstrome zu.

Es würde ein fleißiger Winter in der Waldschule. Ein gemeinsames Arbeiten und Streben zwischen Lehrern und Schülern, ein fröhliches Miteinander nach erfüllter Pflicht.

Der Januar brachte Rauhreif. Wie ein feines, zartes Spitzentuch hing es über Baum und Busch. Jedes Blättchen, jede Kiefernadel trug kristallglitzerndes Geschmeide.

Februarsonne flimmerte in die Klassenfenster, wo die Sexta fleißig ihr Pensum lernte. Alle Kräfte wurden angespannt. Jeder wollte Ostern nach der Quinta versetzt werden, keiner mochte zurückbleiben. Suse arbeitete besonders eifrig. Es wurde ihr nicht so leicht wie dem Herbert. Aber versetzt mußte sie trotzdem werden. Unmöglich konnte ein Zwilling ohne den anderen in die Quinta kommen.

Braune Erdschollen kündeten mit herbem Duft den nahenden Vorfrühling an. Bucker und Murmeln traten wieder in ihr Recht.

Und eines Morgens hatten Schneeglöckchen, Krokus und Märzveilchen behutsam die Köpfchen aus den Beeten in der Waldschule emporgereckt. Ob es wohl schon Zeit sei, aus dem Winterschlaf zu erwachen. Vogelgezwitscher, irgendwo aus dem noch kahlen Geäst, ganz leise – das waren nicht die hungrigen Spatzen, mit denen die Waldschulkinder im Winter ihr Brot geteilt. Das erste Finklein ließ sich wieder hören. Bald schoß es zwitschernd im Bogen durch laue, blaue Luft – die Schwalben kehrten aus dem Süden heim. Sie nisteten wieder an der Liegehalle, an dem Gebälk der Sommerklassen draußen in der Waldschule.

»Mutti, Muttichen, die Schwalben sind heute aus Italien zurückgekehrt«, rief abends Suse der Mutter freudig entgegen. »Paß auf, nun kommt unser Vater auch bald wieder.«

»Das walte Gott!« sagte die Mutter innig. »Täglich hoffe ich auf Nachricht, die uns den Tag seiner Heimkehr melden soll.«

»Ostern ist er sicher wieder bei uns«, meinte das Töchterchen hoffnungsfreudig.

Herbert, der für seinen Laubfrosch die ersten Frühlingsfliegen gefangen hatte, hörte ihre Worte.

»Oder wir bei ihm«, murmelte er vor sich hin.

Die Versetzung nach Quinta rückte näher. Die Weiden am Teufelssee hatten sich in lichtgrüne Gazeschleier gehüllt; die Birken sich mit samtweichen Kätzchen besteckt. Das Mandelbäumchen trug ein rosenrotes Frühlingskleidchen.

Da kam endlich der ersehnte Brief aus Italien. Als die Kinder aus der Waldschule heimkamen, war er da. Mutter sah mit Bubi vom Balkon ihnen entgegen. Sie hatte gerötete Wangen. Sie schien nicht so ruhig wie sonst.

»Hat Vater geschrieben?« Das war jetzt täglich die erste Frage der Kinder.

Die Mutter nickte bedeutsam.

»Ja? Wann kommt er?« Suse fiel der Mutter um den Hals.

»Wir sollen zu ihm kommen.«

»Wa–as?« Suse blieb der Mund vor Staunen offen, während Herbert in ein indianermäßiges Freudengeheul ausbrach.

»Ich hab's gewußt – ich hab's gewußt! Ich habe ja den Vesuv am Silvesterabend gegossen – au, famos!« Er kriegte die Suse zu packen und wirbelte sie auf dem Balkon herum, zum größten Erstaunen der drüben am Fenster stehenden Lichtschen Kinder.

Sein Zwilling aber schien durchaus nicht so begeistert. Das Wort »Vesuv« brannte wie Feuer in der Seele des Angsthäschens.

»Warum kommt denn Vater nicht lieber nach Hause? Wir können doch gar nicht aus unserer lieben Waldschule fort. Und überhaupt, wo wir jetzt in die Quinta versetzt werden. Ach, und was wird Paulchen nur dazu sagen! Und Margot und Mulle. Und die Alma habe ich jetzt auch so gern.« Ganz weinerlich klang's.

»Ja, Herzchen, mir wär's auch lieber gewesen, unser Vater wäre heimgekommen. Aber er schreibt, er habe eine sehr interessante und ehrenvolle Arbeit, teils in Neapel, teils in Rom übernommen, die ihn noch zwei Jahre in Italien fesseln kann. So lange will er uns natürlich nicht entbehren. Er erwartet uns sobald wie möglich.«

»Hurra!« Herbert mußte seiner Begeisterung Luft machen. »Fahren wir schon morgen? Komm, Suse, wir wollen gleich anfangen zu packen.«

»So schnell geht das denn doch nicht, mein lieber Sohn.« Die Mutter mußte lachen. »Ich denke, daß wir zum ersten April unsere Wohnung möbliert vermieten werden. Ich habe bereits eine Annonce in die Zeitung setzen lassen.«

»Und die Lene, wird die auch mit vermietet?« Herbert war ganz einverstanden.

»Das müssen wir ihr schon selbst überlassen, ob sie hier bleiben will oder wo anders hingehen.«

»Wir können sie doch auch mitnehmen. Und die kleine Omama und Frau Annchen auch.« Nein, Suse konnte sich nicht von allen, die sie lieb hatte, trennen.

»Nein, Suschen, das ist nicht möglich. Eine Völkerwanderung können wir nicht nach Italien veranstalten. Mir wird's auch schwer, fortzugehen. Mir brummt mein Kopf, wenn ich daran denke, was es alles zu erledigen gibt.«

»Das laß nur meine Sorge sein, Muttichen. Ich bin doch hier jetzt der einzige Mann im Hause und muß Vater vertreten. Ich werde sofort eine Liste anfertigen von allem, was wir mitnehmen. Damit nichts bei den fremden Mietern vergessen wird.« Er stürmte aus dem Zimmer und begann sofort tatkräftig seine Reisevorbereitungen. Als erstes stand auf der Liste: Bubi, Laubfrosch, Goldfische, Terrarium.

Die Mutter schlang den Arm um ihr betrübtes Töchterchen. »Suschen, wir müssen uns doch freuen. Wir kommen ja zu unserm Vater.« Damit tröstete sie gleichzeitig sich selbst.

»Ja, wenn's bloß nicht so weit weg von der Waldschule wäre bis nach Italien, wo der olle Vesuv spuckt.« Suse kam vorläufig noch nicht zur Freude.

In der Waldschule stand man Kopf, daß die Winterschen Zwillinge davonfliegen wollten nach dem Süden. Allen tat es leid, die wohlerzogenen, fleißigen und fröhlichen Kinder schon nach einem Waldschuljahr wieder zu verlieren. Von dem Herrn Direktor an bis zu Türko, der sie schweifwedelnd jeden Morgen erwartet hatte. Paulchen sagte gar nichts. Stumm kehrte er sich zur Seite, während die anderen in lautes Hallo über die Neuigkeit ausbrachen. Nur Suse sah, daß eine Träne von Pauls Wimpern herabtropfte.

Am traurigsten aber war die kleine Omama. Die konnte es gar nicht fassen, daß ihr Bubi und ihre Mädi nun auch so weit fort sollten, wo sie den Sohn schon so lange entbehren mußte. Nicht mal Mätzchen, das zu ihr in Pension gegeben werden sollte, konnte die kleine Omama trösten. –

Die Wohnung war vermietet. Die Koffer standen gepackt. Heute waren Professors Zwillinge zum letztenmal in der Waldschule. Es gab Osterzensuren. Sie waren beide nach Quinta versetzt.

Und nun hieß es Abschied nehmen von der lieben Waldschule. Der Direktor strich den Zwillingen väterlich über das kurze Haar: »Wenn ihr heimkommt, sprechen wir italienisch miteinander. Dann kommt ihr wieder zu uns heraus.«

»Dann sind wir vielleicht schon in der Tertia.« Herbert wurde der Abschied nicht allzu schwer. Italien mit den hohen Palmen, Oliven und Kakteen, mit dem Vesuv und dem Vater – nein, er konnte sich nur freuen. Unbändig freuen. Wenn er auch Laubfrosch, Goldfische und Terrarium der Waldschule hatte vermachen müssen, da er sie nicht mitnehmen durfte. Nur Bubi, der vierbeinige, hatte die Ausreiseerlaubnis erhalten.

Um so schwerer wurde es Suse, sich von allem, was ihr hier draußen in der Waldschule lieb gewesen, zu trennen. Von Herrn Fürst und Fräulein Ludwig, von Mamsell mit den großen Butterstullen. Von allen, die lieb und gut zu ihnen gewesen. Ach, und ihr Beet, das nun ein anderes Kind bekam.

»In Italien, da hast du viel schönere Blumen, Suse«, tröstete ihr Zwilling.

Ja, aber es waren nicht die Waldschulblumen, die sie selbst gepflanzt hatte.

Die Stare, die seit einigen Tagen wieder ihre Kästen bezogen hatten, pfiffen den Zwillingen ein Lebewohl. Und plötzlich erklang auch ein Abschiedssang der Waldschulkinder; Gerhard hatte ihn angestimmt:

»Winter ade –
Scheiden tut weh.«

Unter diesen sinnigen Klängen marschierten die Winterschen Zwillinge zur Waldschule hinaus. Türko gab ihnen bis zum Waldrand das Geleit.

Dann kam die Trennung von Paulchen. Der Junge biß die Zähne zusammen. Die Lichtschen Kinder sollten es nicht sehen, wie schwer ihm der Abschied von den Schulkameraden wurde. Nur das Versprechen der Zwillinge, ihm doll oft aus Italien zu schreiben, tröstete ihn.

Oben in der Wohnung war eigentlich alles noch wie sonst. Die Koffer waren schon abgeholt. Die Möbel standen alle an demselben Fleck. Und doch sollten morgen schon andere Leute in ihren Zimmern wohnen. Und auch die Lene war morgen schon in ihrer Heimat. Das war ein merkwürdiges Gefühl.

Der Scheinwerfer auf dem Funkturm warf sein helles Lichtbündel über Professors Zwillinge, als sie, den unternehmungslustig blaffenden Bubi und die ein wenig ängstlich dreinschauende Schwarzwald-Lotti im Arm, abends im Auto an ihm vorübersausten.

Nanu – was bedeutete denn das?

Und nun standen sie selbst, mit den Taschentüchern winkend, neben Mutti in dem Schlafwagenzug am Fenster, in dem vor einem Jahr der Vater nach Italien davongedampft war. Draußen stützte sich die kleine Omama auf Frau Annchens Arm. Sie sah ihren Lieblingen noch nach, als der Zug längst ihren Blicken entschwunden war.

Als Herbert und Suse des Morgens erwachten, war man schon in München. Da dachte keiner mehr von ihnen zurück, nur vorwärts, an das baldige Wiedersehen mit dem Vater. Schneeberge wechselten mit samtgrünen Matten, man sauste durch die Alpen, die man bisher nur aus der Geographiestunde gekannt.

So fuhren Professors Zwillinge voller Erwartung und Freude ins Sonnenland Italien.

 

Illustrationen aus Urheberrechtsgründen nicht aufgenommen. Re.


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