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16. Kapitel. Traumsuse

Suse lag unter der blühenden Linde mit fest geschlossenen Augen, mit schlafroten Bäckchen und sanft geöffneten Lippen. Bienen, Käfer und Libellen umsummten die kleine Schläferin. Ihr Strauß Blumen lag neben ihr im Gras.

Ein rotschwarzgetupftes Marienkäferchen kroch ihr über die Hand. Das krabbelte. Sie wollte es fortjagen. Da tat es zu Suses Verwunderung den Mund auf und summte:

»Summ – summ – summ –
Traumsuschen – guck dich um.«

»Was soll ich denn sehen?« fragte Suse verschlafen.

»Summ – summ – summ –
Ach, ist die Suse dumm!«

summte das Marienkäferchen als Antwort. Und alle Käfer unter der Linde, alle Mücken fielen ein und wiederholten: »Ach, ist die Suse dumm!«

»Das ist gar nicht wahr. So dämlich bin ich nicht!« sagte Suse ärgerlich. »Wenn ich auch natürlich nicht so klug bin wie mein Zwillingsbruder Herbert. Aber der ist auch zwei Stunden älter als ich.«

»Menschen sind immer dumm«, brummte ein dicker, schon bejahrter Maikäfer, den man zu fangen vergessen hatte, von der Linde herunter, »und dabei denken sie noch wunder, wie klug sie sind.«

»Machen Sie sich nur nicht mausig«, rief Suse dem Maikäfer zu. »Sonst rufe ich meinen großen Bruder. Der hat eine grüne Botanisiertrommel. Wenn er Sie in das Gefängnis reinsteckt, vergeht Ihnen Hören und Sehen.«

Der Maikäfer brummte: »Man nicht so grob«, hielt es aber doch für geraten, in den Gipfel der Linde hinaufzufliegen. Denn vor Jungen mit grünen Botanisiertrommeln hatte er eine Heidenangst.

Ein Lindenblütchen schwebte vom Zweig herab an Suses Nase vorüber ins Gras. Nanu – das war doch keine Lindenblüte! Das war ja ein winzig kleines Mädchen mit Goldhaaren, mit goldenem Kleidchen und goldenen Flügeln. Es war nicht größer als der Nagel von Suses Daumen.

Suse war so erstaunt über das winzige, allerliebste Geschöpfchen, daß sie sich emporrichtete. Da sah das goldene Lindenblütchen noch winziger aus.

Ja, was war denn das? All die Blumen ringsum im Grase, auch der Strauß, den sie gepflückt, waren ja lebendig geworden. Lauter winzige, kleine Balldamen in himmelblauen, rosenroten, goldgelben und schneeweißen Blütenkleidchen. Flügel hatten sie alle aus Blumenblättern. Sie knicksten und begrüßten sich. Sie wisperten und flüsterten, lächelten und kicherten mit so zarten Stimmchen, als ob Blumenglocken läuteten. Sie wiesen mit den winzigen Fingerchen auf Suse. Die kam sich der kleinen Gesellschaft gegenüber wie das Riesenfräulein im Riesenspielzeug vor. Das war das Gedicht, das sie neulich in der Waldschule gelernt hatten.

»Wieso seid ihr denn alle lebendig?« fragte sie schließlich ein allerliebstes Vergißmeinnichtfräulein mit Augen, so blau wie sein Kleidchen.

»Blumen leben, Blumen haben eine Seele wie ihr Menschen«, antwortete es mit feinem Stimmchen. »Aber die meisten Kinder denken nicht daran, lassen uns dursten und welken. Du warst immer gut zu uns. Darum laden wir dich heute zur Hochzeit ein.«

»Hochzeit – Blumenhochzeit – das ist famos!« Suse wäre am liebsten vor Freude hoch gehopst. Aber sie hatte Angst, die kleinen Blumendamen dabei zu zertreten. »Wird der Herbert nicht auch eingeladen? Wir sind doch Zwillinge«, bat sie.

»Nein, dein Bruder hat kein Herz für uns Blumen. Der denkt nicht daran, daß wir Blumen lebendige Wesen sind. Der hat nur Sinn für alles Kribbelnde und Krabbelnde. Uns zarte Blümchen zertritt er achtlos. Herbert wird nicht eingeladen«, sagte ein Waldstiefmütterchen in einem wunderschönen lila Samtkleide.

»Das ist schade«, meinte Suse nachdenklich. »Wo findet denn die Hochzeit statt und wer ist das Brautpaar?«

»Das weißt du nicht, du Traumsuschen?« lachte das goldene Lindenblütchen. »Nein, ihr Menschen seid wirklich dümmer als dumm. Alles hier im Walde, was da wächst, was da kreucht und fleucht, spricht von nichts anderem als von unserer Lindenblüten-Hochzeit. Die Braut ist meine große Schwester Linda. Sie heiratet Prinz Pfauenauge. Das ist der schönste Schmetterling auf der Pfaueninsel. Im Gasthaus zum grünen Lindenblatt findet das Fest statt. Man deckt bereits die blütenweiße Hochzeitstafel.« Das kleine Lindenblütchen wies auf ein besonders großes Lindenblatt, das der Wind ins Gras geweht hatte.

Suse konnte darauf nichts weiter entdecken, als ein weißes Blütenblättchen und einige Ameisen, die geschäftig hin und her liefen.

»Pfui, Ameisen!« sagte sie, sich schon im voraus juckend.

»Ja, wenn ein großes Menschenkind so dumm ist und vor Ameisen Angst hat, dann können wir dich nicht einladen. Die Ameisen sind äußerst gewandte und tüchtige Kellner. Keiner serviert so gut wie sie«, sagte das Lindenblütchen.

Suse schämte sich ihrer dummen Angst. »Aber ich bin doch viel zu groß für euren Festsaal«, wandte sie ein. »Selbst wenn ich auf den Zehenspitzen stehe, zertrete ich die ganze Hochzeitstafel und sämtliche Gäste und Kellner dazu.«

»Das laß nur unsere Sorge sein«, wisperten die kleinen Damen. »Frau Raupe ist die erfahrenste Frau im Walde, die weiß mit Verwandlungen Bescheid. Am eigenen Leibe hat sie alles ausprobiert. Die kann dir sicher helfen.«

»Raupen – ach, die sind garstig! Raupen sind mir noch unsympathischer als Ameisen«, rief Suse ängstlich abwehrend.

Aber da kroch schon eine wohlbeleibte, ältere Raupe in einem kostbaren Pelz an dem Lindenstamme herunter und spritzte die schreiende Suse mit einer Flüssigkeit an.

»Au, das brennt!« schrie die aus Leibeskräften, wunderte sich aber, daß ihre Stimme trotzdem plötzlich so fein und zart klang, fast so leise wie die Blumenstimmen. Sie rieb sich die Augen und als sie dieselben wieder aufmachen konnte, sah sie zu ihrem grenzenlosen Staunen, daß die winzigen Blumendamen inzwischen gewachsen waren. Sie waren nicht kleiner als sie selbst. Auch das Gras, in dem sie saß, war in die Höhe geschossen. In einem hohen Graswalde saß sie am Fuße eines Riesenberges, an dessen Stelle vorher ein niedlicher Maulwurfshügel gewesen war.

»Himmel – ihr seid ja alle so gewachsen«, sagte sie, die wunderschönen himmelblauen, rosenroten und goldfarbenen Balldamen bewundernd. Besonders das graziöse Lindenblütchen war ein allerliebster Blumenbackfisch.

Da lachten sie alle. »Wir sind nicht gewachsen. Du bist kleiner geworden. Komm, beschau dich in dem Spiegel.« Lindenblütchen faßte sie an die Hand – wirklich, es war jetzt ebenso groß wie Suse – und führte sie zu einem schön geschliffenen Tautropfen, der an der Wand des grünen Festsaals hing. Suse besah sich von vorn und von hinten in dem Tautropfenspiegel – nein, war sie niedlich, war sie winzig klein.

Jetzt erkannte sie auch die festlich gedeckte Hochzeitstafel. All die Ameisenkellner im schwarzen Frack, die hin und her liefen. Sie stellten Flaschen mit Lilienmilch und Blumenmet auf die Tafel.

Da – Glockenklang – so hell, so melodisch, wie Suse es nie zuvor vernommen. Lindenblütchen rief erschreckt: »Glockenblume läutet schon zur Trauung – geschwind, Traumsuschen. Die Hochzeitswagen fahren vor.« Sie zog Suse mit sich.

Draußen im Graswald waren inzwischen viele Kutschen und Karossen vorgefahren. Voran der Brautwagen aus einem zartweißen Rosenblatt gebaut. Heupferdchen waren vorgespannt. Prinz Pfauenauge, gar prächtig als Bräutigam anzuschauen, half seiner holden Braut Linda gerade in den Wagen. Der lange Brautschleier, der im Winde wehte, war eine kunstvolle Handarbeit der alten Tante Spinne.

Die anderen Kutschen waren aus glänzend lackierten Kastanien- und Eichelschalen gebaut und mit Blütensamt gepolstert. All die schönen Blumendamen nahmen darin neben ihren Kavalieren Platz. Die Herren waren Brüder, Vettern und Freunde des Bräutigams, Schmetterlinge und Käfer.

Ein stattlicher Frosch mit grünem Leibrock und weißem Frackhemd verbeugte sich vor Suse und wollte sie zu einer Kutsche führen.

War das nicht Herberts Laubfrosch? Er sah ihm wirklich ähnlich. Aber als er jetzt seine feuchtkalte Hand nach ihr ausstreckte, wich Suse ängstlich zurück.

»Quak – quak – quak«, sagte der Froschherr beleidigt und wandte sich einer anderen Schönen zu.

Auf Suse aber trat ein schlanker Rittersporn zu und führte sie ritterlich zu einer Kutsche. Vor dem hatte sie keine Angst. Die Heupferdchen zogen an. Da fuhren all die Hochzeitswagen durch den rauschenden Graswald bis zu einer Wiese, auf der blaue Glockenblumen läuteten. Das waren die Küster. Aus goldenen Sonnenstrahlen war eine Kirche gebaut. Himmelschlüsselchen schloß die Tür auf und ließ die Hochzeitsgesellschaft eintreten. Der Mückenchor sang den Brautgesang. Windharfen spielten die Begleitung. Ein frommer Gotteskäfer sprach den Segen über das Brautpaar. Es war sehr feierlich.

Die Tanten, schon etwas verwelkte Blüten, waren alle sehr gerührt und wischten sich Tautropfen von Nase und Augen. Dann ging es zurück ins Gasthaus zum grünen Lindenblatt zu Schmaus und Tanz.

Das wurde eine herrliche Hochzeit. Neben dem Brautpaar saß die vornehmste Sippschaft, Tausendgüldenkraut und Goldregen. Unter den Kavalieren sah man viele Pfauenaugen – sicher weil man auf der Pfaueninsel war. Aber auch Müller, Schornsteinfeger, Fuchs und Zitronenfalter und wie die Schmetterlinge alle hießen, führten die holden Blümelein zur Tafel. Königskerzen flammten und leuchteten. Die Musikkapelle spielte die lustigsten Weisen auf. Die Heimchen geigten und die Hummel brummte den Baß dazu. Löwenmaul hielt die Tischrede.

Suses Rittersporn war ein aufmerksamer Kavalier. Er legte ihr den zartesten Blattspinat vor, die goldenste Honigscheibe und die süßeste Erdbeerspeise. Immer wieder schenkte er ihr das Glas voll Lilienmilch. Suse unterhielt sich trefflich mit ihm. Sogar für die Waldschule hatte er Interesse. Einen seiner Großvettern hatte der Wind dort hingeweht. Unangenehm war nur, daß der große, dicke Onkel Maikäfer an Suses anderer Seite saß. Er nahm schrecklich viel Platz ein und aß und trank für drei. Besonders junger Blattspinat war sein Leibgericht. Sobald er sich bewegte, krabbelte er seine Nachbarn mit seinen Fühlern. Das war unangenehm. Mit seinen gestielten Augen schielte er auf Suse. Dann wurde er lustig, sang und burrte, denn er hatte zuviel Blumenmet getrunken. Zum Schluß der Tafel lag er auf dem Rücken und krabbelte mit sämtlichen Beinen in der Luft herum. Suse überlegte, ob sie ihn für Herberts Botanisiertrommel mitnehmen sollte. Aber der Onkel Maikäfer war viel zu groß und zu schwer für sie. Sie hatte Angst vor ihm.

Als das Essen beinahe beendigt war, gab es ein aufregendes Ereignis. Man hatte bei der Tischordnung nicht darauf geachtet, daß die alte Tante Spinne mit der Großbase Fliege spinnefeind war. Wirklich, man hätte sie weiter auseinander setzen sollen. Nun war's zu spät. Tante Spinne fraß plötzlich die arme Großbase Fliege mit Haut und Haar.

Die Ameisenkellner räumten geschäftig die Tische zur Seite, und die Musikkapelle spielte zum Tanz auf. Es kam ja öfter mal vor, daß einer den anderen fraß. Junges Volk will tanzen.

Auf dem großen Lindenblatt tanzte man Foxtrott und Tango. Die gefeiertste Dame war Tausendschönchen und der beste Tänzer der Grashüpfer. Aber auch die Schmetterlingsherren waren fesche Tänzer. Sie gaukelten von einer Blüte zur anderen. Heckenröslein war die wildeste Rose. Sie tanzte mit einem Schneider, der besonders lange Beine hatte. Selbst die alten Tanten drehten sich, im altmodischen Walzer. Nur die Fliegentöchter hielten sich zurück und tanzten heute nicht. Sie trugen sowieso schwarze Seidenkleider. Klatschmohn, eine alte Base, saß mit knallrotem Gesicht da, weil man sie nicht zum Tanze holte. Sie hechelte dafür die ganze Gesellschaft durch.

Auch eine Tanzaufführung gab es. Eine Tänzerin, eine wunderschöne Libelle in grünblauem, mit Goldspitzen garniertem Kleide, tanzte einen graziösen Solotanz. Suse erkannte die Libelle aus Herberts Botanisiertrommel wieder. Wie war die bloß da rausgekommen?

Zum Schluß gab es eine große Fackelpolonäse. Glühwürmchen illuminierten. Die Hochzeitsgäste gaben dem jungen Paar das Geleit in seine neue Wohnung, einer herrlichen Fliegenpilzvilla. Sie war aus roten Ziegelsteinen und weißem Marmor gebaut.

Mistkäfer fegten bereits den Tanzsaal aus. Aber die Libelle hatte noch nicht genug. Sie schlug vor, weiter zu tanzen. Auch Suse wollte mit ihrem Rittersporn gerade wieder zum Tanz antreten, da vernahm sie mitten in dem Geigen der Heimchen, mitten im Brummbaß der Hummel eine laute Jungenstimme: »Da ist sie – da ist ja meine Suse!«

Das war Herbert! Wie schön, daß er doch noch zur Blumenhochzeit kam. Sie fühlte sich am Arm gepackt. Das war nicht ihr Tänzer, der Rittersporn. Der faßte sie zart und behutsam an.

»Suse, wach doch auf!« – »Wach auf, Suse!« klang es im lauten Chor. Das waren doch nicht die Blumen mit ihren feinen Stimmchen? – –

Suse rieb sich die Augen. Verschlafen richtete sie sich empor. Da fühlte sie sich von zwei Jungenarmen umschlungen –. »Suse, meine liebe Suse!« Herbert lachte und weinte zugleich.

»Na warte, du kleine Ausreißerin!« drohte Herr Fürst.

Fräulein Ludwig aber streichelte ihr voller Freude die Wangen: »Gottlob, daß wir dich wiedergefunden haben!« Ringsum standen die Waldschulkinder mit frohen Mienen.

»Ich bin doch gar nicht weg gewesen. Ich bin immer hier geblieben. Ich war bloß –«, da verstummte sie erschreckt. War sie etwa noch so winzig klein, daß man sie gar nicht gesehen hatte? Sie stellte sich auf die Füße. Der hohe Graswald reichte ihr kaum über die Schuhe. Sie war wieder fast so groß wie ihr Zwilling.

Wo war denn die ganze Hochzeitsgesellschaft hingekommen? Keiner ließ sich mehr blicken. Etwas welk und zerdrückt waren ihre Blumen im Grase zerstreut – na ja, die hatten ja auch die ganze Nacht getanzt. Vor dem Gasthaus zum grünen Lindenblatt lag verlassen der betrunkene Maikäfer auf dem Rücken und schnarchte. Sonst hätte Suse bestimmt gedacht, daß sie das alles nur geträumt hätte.


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