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Jeder der Zwillinge hatte ein Pflegebeet bekommen. Nebeneinander lagen die Beete. Aber sie sahen grundverschieden aus, trotzdem beide das gleiche gesät und gepflanzt hatten. Es war merkwürdig, auf Suses Beet gedieh alles viel rascher und üppiger als auf dem von Herbert. Die Tomatenpflänzchen, die bei Suse steil und kräftig der Sonne entgegenwuchsen, sahen auf Herberts Beet geradezu schwindsüchtig aus. Der Spinat war bei Suse fast schon schnittreif, als bei Herbert kaum die ersten spärlichen grünen Blättchen aus bräunlicher Erdscholle hervorlugten. Die Erbsen und Bohnen, die Herbert gesät, waren kaum angegangen, während die der Schwester sich bereits an den Stöcken emporzuranken begannen.
Ja, woran lag das nur? Herbert stand vor einem Rätsel. Er hatte doch sein Beet mit viel mehr Kraft umgegraben als die Suse das ihrige. Denn er hatte bei weitem stärkere Muskeln als sie. Doll viel Samen hatte er in die Erdfurchen hineingestreut. Viel zu viel. Denn es war ihm langweilig gewesen, überall die Körnchen sorgsam zu verteilen. Da war natürlich auf einer Stelle ganz dick gesät, an der andern viel zu dünn. Die zu reichlich gesäten Samenkörner nahmen sich gegenseitig den Platz fort, konnten nicht in der Enge fortkommen. Das zu spärlich Gesäte wiederum war und blieb mieserig.
Etwas gab es aber, was auf Herberts Beet besonders gut gedieh. Unkraut wucherte lustig zwischen den Gemüsepflänzchen, schoß üppig in die Höhe und breitete sich überall aus. Mit Fleiß und Ausdauer wäre es wohl möglich gewesen, des unwillkommenen Gastes Herr zu werden. Aber die besaß Herbert leider nicht. Der Rücken, der beim Murmelspiel, wenn er sich auch noch so bückte, niemals schmerzte, tat merkwürdigerweise immer beim Unkrautausjäten weh. Er seufzte und stöhnte bei der ungewohnten Arbeit, war mißmutig und gelangweilt dabei. Da geschah es denn, daß er statt des Unkrautes die wenigen Mohrrübenpflänzchen, die angegangen waren, aus der Erde zog. Erschreckt blickte er auf das, was er angerichtet. »Suse, was mache ich denn jetzt bloß?« fragte er kleinlaut, wie es sonst gar nicht seine Art war.
Bei der Gartenarbeit war die Schwester, die sonst stets von ihrem Zwillingsbruder ein wenig Bevormundete, die Hilfreiche.
»Wir setzen die Mohrrüben wieder ein«, lachte Suse und legte auch gleich geschickt Hand an. Es war merkwürdig, was sie in der Blumenpflege anfaßte, gedieh. Das kam daher, daß sie mit Lust und Liebe bei der Sache war. Jedes Pflänzchen war für sie etwas Lebendiges, ihr Anvertrautes, für das sie Sorge zu tragen hatte. Bei ihrer Gartenarbeit war Suse niemals verträumt wie in anderen Stunden. Da setzte sie ihre volle Aufmerksamkeit und Sorgfalt ein. Es war, als ob ihre Pfleglinge das empfanden und der kleinen Gärtnerin durch kräftiges Wachstum ihren Fleiß lohnten. Nie vergaß sie, ihr Beet zu gießen. Herbert aber dachte oft gar nicht daran, daß Pflanzen auch Durst haben. Ein schöner Schmetterling, der die Blüten des Gartens umgaukelte, war ihm entschieden wichtiger und interessanter. Mit seinem Schmetterlingsnetz, das er stets, auch bei der Gartenarbeit, neben sich liegen hatte, machte er sich aus dem Staube. Er ruhte nicht eher, als bis er den Fuchs oder Trauermantel, was es nun gerade war, seiner Schmetterlingssammlung einverleibt hatte. Ob seine Pflanzen inzwischen verdorrten, danach fragte er nicht.
Wäre seine Zwillingsschwester nicht gewesen, so hätte Fräulein Ludwig dem Jungen wohl gar nicht so lange die Obhut des Beetes anvertraut. So aber sprang Suse immer wieder hilfreich ein, und Paul half ihr getreulich dabei. Nur hatten sie alle beide genügend auf ihren eigenen Beeten zu tun, so daß nicht alles Notwendige bei Herbert gemacht werden konnte. Als Fräulein Ludwig eines Tages beobachtete, wer eigentlich die Pflege des Beetes übernommen hatte, als Herbert das drittemal nicht daran gedacht hatte, zu gießen, machte sie kurzen Prozeß. Während der eigentliche Besitzer des Beetes an den Teufelssee Frösche fangen gegangen war, wurde dasselbe dem nachlässigen kleinen Gärtner fortgenommen und einem anderen Kinde zur Pflege übergeben.
Im Grunde genommen war das Herbert gar nicht unlieb, daß er der Sorge und der ihm lästigen Arbeit enthoben war. Nur war es peinlich, daß dies eine Strafe bedeutete. Und daß Suse als sein Zwilling ihr Beet nicht auch aufgeben wollte, ärgerte ihn. Frösche und Käfer und Schmetterlinge waren doch viel interessanter. Wie dumm, daß die Suse vor allem, was kribbelte und krabbelte, Angst hatte.
Das Unangenehmste an der Sache aber war, daß es gerade die Alma sein mußte, die seine Nachfolgerin auf dem Beete wurde. Das war beschämend. Und für Suse war es noch unangenehmer. Denn die nahe Nachbarschaft mit der ihr seit der Backpfeife noch unfreundlicher gesinnten Kameradin war wenig erfreulich.
Nicht etwa, daß Alma offensichtlich wagte, sich feindlich gegen Suse zu zeigen. Da hatte sie viel zu große Angst vor dem Zwillingsbruder. Aber kleine Nadelstiche, nicht in Wirklichkeit, sondern in Worten, hatte sie immer noch für Suse bereit. Und die tun oft noch mehr weh.
In ihrem neunjährigen Leben hatte Suse bisher von allen Seiten nur Liebes erfahren. Im Elternhaus, im Verwandten- und Freundeskreis wurde sie allgemein verhätschelt. Die früheren Schulkameraden, die Waldschulkinder und die Lehrer mochten das nette, stets gefällige Kind gern. Und Herbert vergötterte seine Suse geradezu. Da war es für sie etwas Furchtbares, daß es einen Menschen gab, der es nicht gut mit ihr meinte. Zum erstenmal im Leben trat ihr jemand feindlich gegenüber. Was hatte sie denn bloß der Alma getan, daß die immer so schlecht zu ihr war?
Ihrem Zwilling wagte Suse, nach der Erfahrung mit der Backpfeife, nichts mehr von Almas kleinen Plänkeleien zu erzählen. Daß sie ihr heimlich Steine zwischen ihre zarten Pflänzchen streute, daß sie die mit Wasser gefüllte Gießkanne, die Paul ihr vom Brunnen freundlich holte, umwarf, und daß sie ein Anemonenpflänzchen, das Suse beim Unkrautausjäten verschont hatte und das sie besonders hegte, zertrat. Alma tat zwar, als sei dies nur aus Versehen geschehen, aber Suse fühlte die Absicht.
Bei Fräulein Ludwig mochte sie sich nicht beschweren. Die hätte sicherlich Ordnung geschafft oder der Alma ihr Beet entzogen. Aber nein, petzen war gemein. Auch Paul konnte ihr nicht helfen. Der war so schüchtern und bescheiden, der wagte sich gegen Alma nicht hervor. Da wandte sich Suse in ihrer Not an ihre beste Freundin – an ihre Mutti.
Eines Abends beim Gutenachtsagen, während der Herbert in einer alten Käseglocke ein Terrarium für eine Schnecke, die er gefangen, anlegte, kam es heraus. Als Mutti ihr Töchterchen zärtlich küßte: »Schlaf wohl, mein Herzchen, und träume etwas recht Schönes«, sagte Susi leise: »Ich träume jetzt immer so etwas Häßliches von der Alma.«
»Wieso denn, Suschen, ist sie noch immer nicht netter zu dir?« erkundigte sich die Mutter teilnahmsvoll.
»Nee, abscheulich ist sie. Alle Mistkäfer, die sie findet, setzt sie mit in mein Beet. Und meine süße, kleine Anemone hat sie zertreten. Und ein Stock von meinen Bohnen war gestern umgeknickt, und dann sagte sie noch, der Wind wäre es gewesen. Und ihr Unkraut wirft sie immer auf mein Beet – und –«, Suse konnte nicht weiter sprechen. Sie weinte über die Schlechtigkeit Almas und aus innigem Mitleid mit sich.
»Warum wendest du dich nicht an die Lehrerin, Herzchen?«
»Nee, das geht nicht. Dann bin ich ja ebensolche Petze wie die Alma.«
»Bist du denn lieb und nett zu der Alma?«
»Wie werde ich denn so dumm sein! Ich werfe ihr jetzt auch immer mein Unkraut auf ihr Beet.«
»Das ist nicht recht, Suschen. Das ist nicht der richtige Weg, um dir Almas Zuneigung zu erringen.«
»Daran liegt mir auch gar nichts«, versicherte Suse.
»Aber du möchtest doch in guter Nachbarschaft mit ihr leben. Du leidest doch unter ihrer Feindseligkeit. Nun, da würde ich es doch mal mit Freundlichkeit versuchen. Das Menschenherz ist wie das Erdreich oft hart und spröde. Man muß darin den Samen der Liebe säen, sie mit Geduld hegen und pflegen wie jede andere Pflanze, daß sie dort Wurzel schlägt und gedeiht«, sagte die Mutter ernst.
Sehr nachdenklich ging Suse heute in ihr Bett. Ja, sie wollte Muttis Worte beherzigen und nett mit der Alma sein. Aber so einfach war die Sache nicht.
Schon am anderen Tage während des Unterrichts in der Zeichenstunde zeigte es sich. Die Zeichenstunde bei Herrn Fürst war beinahe die hübscheste Stunde in der Waldschule. Allerliebste Sachen wurden da verfertigt. Fensterbilder wurden auf Seidenpapier gemalt und geklebt; schwarze Silhouetten entworfen und ausgeschnitten. Hier wurden Stempelarbeiten angefertigt, dort gebatikt. Besonders geschickte Kinder wagten sich sogar an Linoleumschnitte. Am nettesten aber waren die Konfettiarbeiten. Aus den langen, bunten Papierschlangen wurden allerliebste Gegenstände gedreht. Eierbecher, Leuchter, Schalen, Aschbecher; ja, Margot, die besonders geschickt war, hatte sogar einen indischen Tempel mit Säulen und einem Altar aus bunten Konfettischlangen zustande gebracht. Die fertigen Gegenstände wurden dann in Wasserglas getaucht und erhärteten durch diese Flüssigkeit beim Trocknen. Kein Mensch konnte erkennen, daß sie aus Papierschlangen entstanden waren.
Professors Zwillinge waren sehr begeistert von dieser neuen Kunst, die sie noch niemals zuvor gesehen. Und da der Vater Ende Mai Geburtstag hatte, kamen sie auf den Gedanken, ihn dazu mit einer selbstgefertigten Konfettiarbeit zu erfreuen. Suse wollte einen Aschbecher anfertigen, Herbert ein kleines Tintenfaß.
Aber das war leichter gesagt als getan. Suses zierliche Fingerchen wurden ganz geschickt mit ihrer Aufgabe fertig. Der Aschbecher aus roten, blauen und grünen Papierschlangen erstand nach einigen mißglückten Versuchen. Herbert aber quälte sich vergeblich. Die Papierschlangen rissen unter seinen derben Jungenhänden oder hingen als ein Lockengewirr durcheinander. Sein Machwerk glich eher einer Löwenmähne als einem Tintenfaß. Schließlich riß ihm, als die Papierschlange wieder mal riß, auch die Geduld. Er schleuderte seine Arbeit temperamentvoll fort.
»Gut Ding will gute Weile haben, Herbert«, tröstete der Lehrer. »Auch Rom ist nicht an einem Tage erbaut worden. Ich denke, du versuchst es noch einmal in der nächsten Stunde.«
Aber Herbert fand, daß der Vater sich sicherlich mehr über ein Fensterbild, auf das er einen schönen Schmetterling malen wollte, freuen würde. Dies Kunstwerk kam dann endlich zustande.
Suses Aschbecher sollte in der nächsten Stunde in Wasserglas erhärten. Vaters Geburtstag stand vor der Tür. Das Geburtstagspaket mit Muttis und der Zwillinge Photographie mußte abgesandt werden.
Es war der Tag nach der Aussprache mit Mutti, an dem Suse sich vorgenommen hatte, besonders nett zu Alma zu sein. Als sie ihren Aschbecher aus dem Schrank nehmen wollte, in dem die Gerätschaften für den Handfertigkeitsunterricht verwahrt wurden, suchte sie vergeblich danach. Suses mit vieler Mühe angefertigter Aschbecher war verschwunden. Man kramte und suchte, man mutmaßte und man weinte sich die Augen rot. Letztere Beschäftigung fiel Suse zu. Herbert war empört. Er versprach, den Missetäter nach allen Regeln der Kunst zu verkloppen. Dabei sah er Alma an. Die aber tat, als ob die ganze Sache sie nichts anginge. Trotzdem auch der Lehrer die Sache untersuchte, der Aschbecher zu Vaters Geburtstag kam nicht wieder zum Vorschein.
»Du kannst sicher sein, Suse, daß Alma dir diesen Schabernack gespielt hat.« Das ließ sich Herbert nun mal nicht ausreden.
Am eifrigsten suchte Paul nach der verlorenen Handarbeit. Ihm tat es ganz besonders leid, daß seine kleine Freundin so traurig war. Schließlich wurde seine Ausdauer doch noch von Erfolg gekrönt. Mieze, die grauschwarze Katze, zerrte irgendeinen bunten, ganz zerfetzten Knäuel mit sich durch das Waldgelände. Als Paul es ihr abjagen wollte, kletterte sie auf die erste beste Kiefer und sah von dort zu, wie Paul aufgeregt ausrief: »Das ist ja Konfetti, das muß Suses Aschbecher sein.« Und wirklich, er war's. Kaum noch kenntlich, nur an den Farben noch festzustellen. Wie er aber aus dem Schrank in Miezes Pfoten gekommen, das war und blieb ein Geheimnis. Nein, die Suse wollte es nicht glauben, was ihr Zwillingsbruder fest und steif behauptete, nämlich daß Alma aus Absicht der Katze den Aschbecher hingeworfen habe. Sie wollte ja mit Alma gut Freund sein. Die Hauptsache war, daß sie noch einen neuen Aschbecher, diesmal in lila und grün, der beinahe noch schöner wurde als der verlorene, da sie jetzt schon Übung darin hatte, in der Zeichenstunde fertig bekam. Herr Fürst war so nett, ihn selbst in Wasserglas zu tauchen. Diesmal erlitt das Geschenk für Vater nicht Schiffbruch.
Es war nach Tisch. Die Kinder arbeiteten im Garten. Herbert stattete dem Molch, der Kröte und der Eidechse, den Bewohnern des Terrariums, seinen Besuch ab.
Fräulein Ludwig trat zu der emsig Schoten und Bohnenranken mit Bast an Stöcken emporbindenden Suse. »Sag', Suse, würde es dir Freude machen, ein eigenes Beet zu besitzen?« fragte sie freundlich.
Suses rosiges Gesicht färbte sich noch rosiger vor freudiger Aufregung.
»Ach ja, große Freude«, stieß sie hervor.
»Du sollst dein eigenes Beet bekommen. Ich habe beobachtet, mit welcher liebevollen Sorgfalt du deinen Pflichten als kleine Gärtnerin nachkommst. Das muß belohnt werden. Drüben neben Pauls Beet soll dein Beet sein. Zum Säen ist es schon etwas spät im Jahr. Du kannst mit mir in den Lehrergarten kommen. Dort kannst du dir junge Pflänzchen aussuchen, die du einsetzen sollst. Komm nur gleich mit!«
Suses Gesicht schien gradezu verklärt. Ein eigenes Beet – die Sehnsucht und das Ziel ihrer Wünsche, heute sollte es ihr erfüllt werden. Wie schön, daß es noch obendrein neben Pauls Beet lag. Und daß sie in dem abgezäunten Lehrergarten, dem Paradies, das nur hin und wieder mal eins der Kinder betreten durfte, sich selbst die Pflänzchen aussuchen sollte, war der Gipfel alles Glücks. Wie gut Fräulein Ludwig doch war! Ihr strahlender Blick wanderte von der Lehrerin zu Paul, der ihr erfreut zunickte und dann weiter zum Nachbarbeet, auf dem Alma arbeitete. Da fühlte sie plötzlich, wie eisige Kälte ihr in das eben noch so warm und freudig schlagende Herz kroch, alle Freude darin ertöten wollte. Sie hatte einen Blick von Alma aufgefangen, einen neidischen, mißgünstigen Blick. Der verfolgte sie, als sie neben Fräulein Ludwig zum Lehrergarten schritt. Der ließ sie nicht mehr die rechte Freude dabei empfinden, trotzdem sie sich kleine Nelkenstauden, Levkojen- und Resedapflänzchen und Stiefmütterchen in allen Farben aussuchen durfte.
Als sie mit ihren Schätzen zu dem Kindergarten zurückkehrte, kam ihr Paul mit einem Trupp Kindern ganz aufgeregt entgegen. Alle sprachen und schrien durcheinander. Suse verstand nur die Worte »Alma« und »das muß bestimmt angezeigt werden«. Schließlich hatte Paul allein das Wort.
»Deinen Bast hat die Alma mit der Schere durchgeschnitten von allen Erbsen- und Bohnenstöcken, woran du so lange gearbeitet hast, Suse. Pflanzen hat sie auch noch dabei beschädigt. Und als ich ihr sagte, sie dürfe das nicht tun, da meinte sie patzig, ich solle mich um meine Sachen kümmern, das ginge mich gar nichts an.« Der sonst so ruhige Junge war ganz aufgeregt. »Aber das muß angezeigt werden!« schloß er.
»Das wird angezeigt!« wiederholten alle Kinder, nicht weniger empört über Almas Handlungsweise als Paul.
»Was soll angezeigt werden?« fragte da plötzlich eine Stimme hinter ihnen. Es war Fräulein Ludwig, die Suse gefolgt war. Sie merkte sogleich an der Aufregung, daß da irgend etwas nicht in Ordnung war.
Da schwiegen sie alle. Keiner wollte den Angeber spielen.
Suse stand ganz erstarrt. Die besten Absichten hatte sie heute gegen Alma gehegt und nun wurde ihr so gelohnt. An ihrer empfindlichsten Stelle, in der Liebe zu ihren Blumenkindern, hatte Alma sie getroffen. Sie sah zu der Feindin hinüber, die ruhig auf ihrem Beete arbeitete, als ob sie niemals etwas so Häßliches getan hätte. Erst als Fräulein Ludwig nach dem Grund der allgemeinen Aufregung forschte, erblaßte sie und warf einen halb ängstlichen, halb flehenden Blick zu Suse hin.
Diese schwankte. Hatten nicht alle Kinder gesagt, das müsse angezeigt werden? Und war es nicht ihre Pflicht, der Lehrerin die abscheuliche Handlungsweise der Kameradin mitzuteilen? Ärger und Empörung trieben sie dazu. Da aber hörte sie plötzlich aus dem Zwitschern der Vögel, dem Rauschen der Kiefern und dem Wehen des Windes eine Stimme, ganz deutlich – es war Muttis Stimme. »Das ist nicht der richtige Weg, dir Almas Zuneigung zu erringen. Das Menschenherz ist wie das Erdreich, oft hart und spröde. Man muß darin den Samen der Liebe säen, sie mit Geduld hegen und pflegen wie jede andere Pflanze, daß sie dort Wurzeln schlägt und gedeiht.«
Da war es entschieden. Bittend wandte sich Suse an Fräulein Ludwig: »Dürfen wir es nicht unter uns abmachen?« fragte sie leise.
Die Lehrerin klopfte ihr freundlich auf die Schulter. »Recht so, Suse. Es ist viel netter, wenn ihr selbst miteinander fertig werdet und nicht anklagend vor dem Richterstuhl des Lehrers erscheint.« Mit Herzenstakt wandte sie sich zum Gehen, um den Kindern Gelegenheit zur Aussprache miteinander zu geben. Sie wollte gar nicht wissen, um was es sich handelte.
Die eben noch zurückgedämmten Wogen gingen plötzlich wieder hoch. »Du bist ja schön dumm, Suse« –. »Das hat die Alma wirklich nicht um dich verdient« –. »Mindestens einen Tadel hätte die für ihre Niedertracht kriegen müssen« –. »Du bist viel zu anständig gegen sie« – – – so schwirrte das durcheinander.
»Sprecht doch nicht so laut, daß Herbert nicht erst was davon erfährt. Sonst – –« Suse vollendete den Satz nicht. Aber die Kinder verstanden sie ohne Worte.
»Es würde der Alma gar nichts schaden, wenn er ihr tüchtig den Buckel vollhauen würde«, meinte Winfried und schüttelte selbst seine Hand gegen Alma. Die arbeitete unentwegt auf ihrem Beet fort. Sie kümmerte sich weder um die sich wieder zerstreuenden Kinder, noch um Suse, die nun ebenfalls zu ihrem Pflegebeet trat.
O weh, da sah es böse aus. Nicht nur, daß der mühsam geknüpfte Bast allenthalben zerschnitten herabhing, auch die zarten Pflanzen hatten gelitten. Alma hatte in der Eile nicht acht gehabt, was sie da beschädigte. Hier und da, überall hing eine der mit soviel Liebe und Sorgfalt gezogenen Pflanzen geknickt herunter.
Suse schossen die Tränen in die Augen, als sie ihre Lieblinge so zerstört sah. Nein, es war nicht möglich, der Alma Liebe entgegenzubringen. Still vor sich hinweinend, machte sie sich daran, was noch zu retten war, wieder emporzubinden.
Alma schielte unbehaglich zu der weinenden Suse hin. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn dieselbe ihr ärgerlich Vorwürfe gemacht hätte. Daran hätte sie ihre Schadenfreude gehabt. Aber daß die Gefährtin so still ihr Leid trug, ja, daß sie es verschmäht hatte, sich bei der Lehrerin zu beklagen, zeigte Alma deutlicher als Worte, wie häßlich sie gehandelt.
Sie öffnete einige Male die Lippen und schloß sie wieder. Schließlich gab sie sich einen Ruck. »Du brauchst gar nicht zu heulen«, sagte sie ziemlich barsch aus Verlegenheit. »Ich wollte nur den Bast durchschneiden, nicht die Pflanzen.«
»Du hast aber meine schönsten Ranken geknickt. Da – sieh mal her. Warum bist du denn so schlecht zu mir? Ich habe dir doch nichts zuleide getan«, sagte Suse traurig.
Ja, warum? Weil sie sich geärgert hatte, daß die Suse ein eigenes Beet bekam und sie nicht. Darum. Aber die traurigen Worte der Schulgefährtin blieben doch nicht ohne Eindruck auf Alma. Sie druckste und druckste; schließlich brachte sie heraus: »Weine doch bloß nicht mehr. Du kannst dir ja meinetwegen Pflanzen von meinem Beet nehmen.«
Wieder war es Suse, als ob sie Muttis Stimme von weit her vernähme. Da gab sie sich einen Ruck. Über das zerstörte Beet reichte sie Alma ihre erdige Hand hin.
»Du, Alma, wollen wir nicht lieber gute Kameradschaft miteinander halten?« sagte sie bittend.
Alma wurde so rot wie das Kleid, das sie trug. Denn so verhärtet ist selten ein Kinderherz, daß nicht ein liebes Wort den Weg zu ihm findet. Sie schlug in Suses Hand ein. »Sei mir nicht mehr böse«, sagte sie verlegen.
Das Samenkorn der Liebe war aufgegangen.