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18. Kapitel. Die verschlossene Klassentür

Braungebrannt wie die Mohren, so waren Professors Zwillinge in die Waldschule zurückgekehrt. Sie hatten mit allem, was ihnen dort lieb war, freudiges Wiedersehen gefeiert. Die Kinder überboten sich darin, von den Ferienfreuden zu berichten. Nur einer war blaß unter der rotbäckigen Schar. Einer blieb still, wenn die anderen von rauschendem Meer und hohen Bergen nicht genug erzählen konnten.

Paulchen sah schlecht aus. Er war matt und schläfrig während des Unterrichts. Der sonst so fleißige, aufmerksame Junge bekam jetzt manche Rüge. Der Waldschularzt, der die Kinder regelmäßig untersuchte, hatte festgestellt, daß er an Gewicht abgenommen hatte. Nun durfte er auf ärztliche Anordnung nicht mehr in der Liegestunde nach Tisch lesen, sondern mußte schlafen.

Aber an einem etwas dunklen Regentage geschah es, daß Paul auch während des Unterrichts einschlief. Noch dazu in der Rechenstunde, wo jeder seine Gedanken zusammennehmen mußte. Die Kinder lernten den Generalnenner von mehreren Brüchen suchen. Paul wurde zu einer Antwort aufgerufen. Der Junge blieb sitzen, den Kopf in die Arme gestützt.

»Na, Paul, schläfst du?« fragte Herr Körner unwillig. Keine Antwort. Paul rührte sich nicht. Sanftes Schnarchen klang durch die Klasse.

Schallendes Gelächter erhob sich in der Sexta. Suse, die Paul gern die Beschämung ersparen wollte, puffte ihn freundschaftlich in den Rücken.

»Du, Paul, wach' doch auf! Wir haben doch jetzt Rechenstunde!«

Da fuhr der kleine Schläfer erschreckt in die Höhe und starrte die lachenden Kameraden ringsum noch immer ganz verschlafen an.

Der Lehrer trat zu ihm.

»Bist du krank, Paul?« erkundigte er sich.

Paul schüttelte beschämt den Kopf.

»Ja, da muß ich dir einen Tadel für Unaufmerksamkeit geben, wenn du in der Stunde schläfst«, sagte Herr Körner ernst. Aber als er in das blasse Kindergesicht mit den frühreifen Augen sah, tat ihm das Kerlchen leid. Sicher ein unterernährtes Kind, das nicht aus Teilnahmslosigkeit, sondern durch körperliche Mattigkeit eingeschlafen war. »Gehe ein bißchen hinaus in die Luft, mein Sohn, dann wirst du frischer werden«, ordnete Herr Körner an. Der Unterricht fand heute des Regenwetters wegen nicht im Freien, sondern in der Klasse statt.

Paul erhob sich gehorsam und ging zur Tür. Aber die Tür wollte nicht aufgehen. Soviel er auch daran zog und rüttelte, sie blieb verschlossen.

»Nanu?« sagte Herr Körner stirnrunzelnd. »Wer hat denn da einen schlechten Witz gemacht und abgeschlossen?« Er schritt selbst zur Klassentür. Er drehte den Schlüssel hin und her, der rückte und rührte sich nicht. Die Tür blieb verschlossen.

»Das ist ja eine nette Geschichte, die Tür geht nicht auf. Da werden wir heute wohl hier in unserem Kerker übernachten müssen«, meinte der Lehrer halb lachend, halb ärgerlich.

»Und unsere Frühstückssuppe?« »Und unser Mittagbrot?« »Es gibt heute gerade Milchreis«, so riefen die Kinder in höchster Aufregung durcheinander.

»Das Essen kann uns Gefangenen ja durchs Fenster hereingereicht werden; die Klasse liegt doch im Erdgeschoß«, scherzte Herr Körner. Die Komik der Sache überwog jetzt den Ernst.

»Oder wir klettern alle durchs Fenster hinaus, das geht auch!« rief Herbert, der niemals um einen Ausweg verlegen war.

»Au ja – fein – famos!« Die kleine Gesellschaft sprang von den Bänken. Sie schien nicht übel Lust zu haben, dem Rat gleich die Tat folgen zu lassen.

Aber »hiergeblieben!« rief Herr Körner, auf den Tisch klopfend. »Jetzt ist Rechenstunde. Jeder setzt sich auf seinen Platz und hat seine Gedanken bei den Aufgaben.«

Das war leichter gesagt als getan. Zwar auf ihren Plätzen saßen sie alle wieder, aber für Bruchrechnung hatten sie gar keinen Sinn. Viel mehr beschäftigte es sie, wie man die verschlossene Klassentür aufbrechen könnte. Die Gedanken flatterten um Frühstücksbrote und Milchreis. Man würde die Sexta doch nicht etwa vergessen und hier eingesperrt verhungern lassen?

Herbert plante einen Rettungsversuch. Nicht durch das Fenster, das war ihm zu alltäglich. Er prüfte die Luftklappen oben an der Klassendecke, ob man von dort wohl ins Freie gelangen könne. Oder war es ratsamer, durch das Ofenrohr zum Schornstein hinaus?

Sein Zwillingsschwesterchen aber sah ängstlich drein. Lieber Himmel, wenn sie hier in der Klasse übernachten mußten? Und Mutti sich um sie sorgte?

Auch Paul machte ein sorgenvolles Gesicht. Das war ja eine nette Geschichte. Der Bäcker, für den er seit den Sommerferien in aller Herrgottsfrühe die Brötchen austrug, würde ihn davonjagen, wenn er morgen die übernommene Pflicht vernachlässigte. Dann konnte er der Mutter nicht die paar Mark am Ersten bringen, die sie notwendig brauchte.

Keiner in der Sexta war aufmerksam.

Die Stunde ging zu Ende. Die Glocke rief zum Frühstück. Ein halbes Dutzend Sextaner bemühte sich mit vereinten Kräften, die Tür aufzustemmen. Vergeblich. Sie waren gefangen.

»Unsere Suppe wird kalt.« – »Und Fräulein Ludwig wollte mit uns einen Reigen zum Waldschulfest einstudieren.« – »Und Herr Fürst wollte sich die Kinder für das Märchenspiel aussuchen.« – Grenzenlose Aufregung herrschte in der Sexta. Die Kinder liefen wie gefangene Mäuschen in der Mausefalle von der Tür zum Fenster, vom Fenster zur Tür, hin und her. Sie waren so aufgeregt, als wenn Feuer ausgebrochen wäre.

Herr Körner öffnete ein Fenster. Sanft rieselte der Regen hernieder. Keiner ließ sich bei dem schlechten Wetter draußen sehen, weder Lehrer noch Waldschüler. Die saßen wohl alle schon bei der Frühstückssuppe. Nur Türko schlich melancholisch unter tropfenden Kiefern vorüber.

»Herbert, klettere mal durchs Fenster und sage dem Wächter, er möchte kommen, ob er die Tür nicht von draußen öffnen kann«, ordnete Herr Körner an. »Der ist ja ein halber Schlosser.«

Eins, zwei, drei – kletterte Herbert aus dem Fenster und flog wie die Taube aus der Arche Noah in die Sintflut hinaus. Er kam zwar nicht mit einem Ölzweig, sondern mit einem Butterbrot im Schnabel zurück, das er brüderlich mit Suse teilte. Der Wächter würde gleich kommen, richtete er aus.

Als die anderen Kinder das Brot sahen, fiel es ihnen plötzlich ein, daß sie schrecklichen Hunger hatten. Sie taten, als ob sie drei Tage lang nichts zu essen gekriegt hätten. Sie wollten durch das Fenster auf und davon.

»Wartet nur noch einen Augenblick, Kinder. Da kommt ja der Wächter schon. Gleich wird die Tür geöffnet sein«, beruhigte der Lehrer die aufgeregte Schar.

Der Wächter kam nicht allein. Der Direktor und einige Lehrer hatten sich ihm angeschlossen. Es war eine ganze Rettungskolonne.

Man hörte an der Klassentür herumbasteln und rumoren. Man hörte Überlegungen, wie das wohl möglich gewesen und wie man die Tür, ohne sie zu beschädigen, öffnen könne. Und dazwischen die Jammerlaute der eingesperrten Sexta:

»Wir haben Hunger – unsere Suppe wird kalt.«

Nach etwa zwanzig Minuten machte der Wächter die überraschende Mitteilung, daß die Tür noch immer nicht auf sei und daß man nach dem Schlosser schicken müsse. Der wohnte ziemlich weit, und ob er gerade daheim war, ließ sich nicht sagen.

Der Kopf des Herrn Direktors erschien draußen unter der Regendusche am Sextafenster.

»Na, Kinder, das habt ihr ja fein gemacht. Aber nun hilft es nichts. Da ihr nicht wie der Teufel durchs Schlüsselloch fahren könnt, müßt ihr alle durchs Fenster klettern.«

»Hurra – durchs Fenster!« Begeistertes Echo kam aus der Sexta als Antwort.

Man drängte, man stieß sich gegenseitig. Jeder wollte der erste sein. Alle wollten sie zu gleicher Zeit durch die Fenster.

»Au, nicht doch so grob!« – »Der Mulle schubst immer so!« Ein paar Mädel begannen zu weinen, Buben miteinander zu raufen. Es gab einen großen Tumult.

»Ruhe!« donnerte Herr Körner. »Hintereinander antreten wie zum Turnen. An einem Fenster die Mädel, am andern die Jungen.« Ordnung kam in die tobenden Massen.

Alles entwickelte sich jetzt ordnungsgemäß und glatt. Ein Sextaner nach dem andern turnte durch das Fenster in den Regen hinaus. Paul stellte sich ungeschickt dabei an und wurde weidlich ausgelacht. Margot schlug sich ihr Knie. Suse traute sich nicht von der Fensterbrüstung hinunterzuspringen und wurde von ihrem Zwilling huckepack genommen zum Gaudium der anderen Kinder. Traudchen, das etwas klein und furchtsam war, ließ der Herr Körner wie einen Ballen am Krahn herunter. Als letzter sprang der Lehrer selber aus dem Fenster. Türko aber stand daneben und schüttelte seinen braunen Hundekopf über die schnurrigen Menschen. Solange die Waldschule bestand, war ihm das noch nicht vorgekommen.

Die Frühstückssuppe schmeckte herrlich, wenn sie auch nicht mehr ganz warm war. Die kleinen Sextaner kamen sich als Mittelpunkt der Waldschule höchst wichtig vor.

»Unterricht können wir heute nicht mehr haben«, frohlockte ein kleiner Faulpelz.

»Warum denn nicht? Wenn ihr zum Fenster rausgekommen seid, könnt ihr doch auch auf demselben Wege wieder reinkommen«, lachte ihn ein Tertianer aus.

»Ja, aber die Lehrerin?« – »Ach, Fräulein Ludwig kann sicher so gut klettern wie wir.«

»Na, aber Fräulein Schmidt? Die ist schon steif. Die kommt bestimmt nicht hinein«, gaben die Kinder zu bedenken.

Aber als sie jetzt zur französischen Stunde wieder die Hochtour durchs Fenster, an das man der größeren Bequemlichkeit halber einen Gartenstuhl gerückt hatte, machten, sahen sie voller Staunen, daß Fräulein Schmidt bereits auf ihrem Platz in der Klasse saß. Wie sie dort hineingekommen, das war ihr Geheimnis.

Nein, die Sexta war heute gar nicht aufmerksam. Bald schauet man aus, ob denn der Schlosser immer noch nicht käme, oder ob die Tür vielleicht inzwischen Vernunft angenommen hätte und jetzt von selbst aufging. Im Grunde des Herzens aber wünschten alle, daß dies nicht der Fall wäre. Sie fanden den Fensterausgang ganz nett.

Nur Paul machte davon wieder eine Ausnahme. Da er ungeschickt aus dem Fenster gesprungen war, war er mit dem rechten Fuß umgeknickt. Der Knöchel schwoll an und schmerzte von Minute zu Minute mehr. Mit fest zusammengebissenen Lippen saß der arme Junge da, um nur keinen Schmerzenslaut entwischen zu lassen.

»Du, Paulchen!« Suse, die ihre Augen überall hatte, nur nicht gerade auf dem französischen Buch, fiel sein verstörtes Gesicht auf. »Hast du wieder Hunger, Paul?«

»Nee«, machte der, stöhnte aber dabei leise.

»Tut dir was weh?« flüsterte es teilnahmsvoll wieder.

»Mein Fuß.«

»Privatunterhaltungen sind für die Zwischenpause aufzusparen. Was haben wir soeben durchgenommen, Suse Winter?« klang es vom Lehrertisch.

Suse stand da wie ein begossener Pudel. Sie hatte schon geraume Zeit vorher geträumt.

» Le corbeau et le renard« – – der Helfer in der Not war nicht weit. Der getreue Zwilling raunte es ihr zu. Sie hatten das Gedicht von dem Raben und dem Fuchs gelesen.

Suse verstand die französischen Worte nicht, da sie vorher auch nicht aufgepaßt hatte. »Der Korb und der Narr«, sagte sie dem Klange nach, der ihr im Ohr haften geblieben. Unbändiges Lachen erhob sich in der Sexta. Die Klasse war gar nicht wieder zur Ruhe zu kriegen. Nein, war das komisch! Der Korb und der Narr – es war zum Heulen komisch!

Suse heulte bereits. Aber nicht vor Lachen, sondern aus peinlicher Beschämung, ausgelacht zu werden. Und weil Fräulein Schmidt ärgerlich war.

»Herbert, gehe aus der Klasse. Wer vorsagt und den Lehrer täuscht, der kann draußen vor der Tür stehen«, sagte Fräulein Schmidt ungehalten. Sie hatte in ihrem Ärger vergessen, daß die Klassentür nicht aufging.

Herbert dachte daran. Gehorsam ging er zum Fenster und schwang sich auf die Brüstung. Wieder erfolgte eine Lachsalve der Klasse.

»Was soll denn das heißen – ach so!« Fräulein Schmidt fiel jetzt erst ein, daß sie ja Gefangene waren. »Im Regen kannst du nicht draußen bleiben, Herbert. Komm wieder zurück.«

Da war es bereits zu spät. Vor dem am Fenster herunterturnenden Jungen stand der Herr Direktor nebst Türko. Sie wollten nachsehen, ob der Schlosser noch immer nicht da sei.

»Was machst du denn hier für Turnübungen, Herbert? Ihr habt doch jetzt französische Stunde, denke ich«, verwunderte sich der Herr Direktor.

»Fräulein Schmidt hat mich vor die Tür geschickt«, erklärte Herbert beschämt.

»Vor die Tür – das ist doch nicht die Tür – ach so!« Wider seinen Willen mußte auch der Herr Direktor lachen. »Das ist ja recht nett, daß ein Sextaner noch aus der Klasse geschickt werden muß! Wie kam denn das, Herbert?« Der Direktor war jetzt wieder ganz ernst.

Gerade als Herbert mitteilen wollte, daß er wegen Vorsagens aus der Klasse geschickt worden sei, kam Suse nun ihrerseits ihrem Zwilling zu Hilfe. Wenn ihr Herbert in der Klemme sah, kannte Suse keine Schüchternheit. »Der Paul hat solche Schmerzen am Fuß und da habe ich ihn gefragt – – –«

»Was ist mit dem Fuß, Paul?« Weder der Herr Direktor noch Fräulein Schmidt hatten jetzt noch Interesse für Herbert und Suse.

»Ich weiß nicht, er tut doll weh«, stöhnte Paul.

»Zieh Schuh und Strumpf aus«, ordnete der Herr Direktor an, »daß man den Fuß untersuchen kann.« Er hielt jetzt ebenfalls seinen Einzug in die Klasse durch das Fenster. Keiner der Kinder wagte zu lachen, so komisch es ihnen auch vorkam. Alle blickten mitleidig auf Paul.

»O weh, der Fuß sieht bös aus. Das Gelenk ist stark geschwollen«, stellte der Direktor fest.

»Armes Kerlchen, da mußt du ja arge Schmerzen haben. Wir wollen dir gleich kalte Umschläge machen. Wer holt recht kaltes Wasser vom Brunnen und zwei Tücher von der Mamsell?« fragte Fräulein Schmidt fürsorglich.

Herbert war als fixester bereits aus dem Fenster. Freilich nicht nur aus Mitleid mit Paul, sondern auch, weil er es für geraten hielt, dem Herrn Direktor fürs erste nicht unter die Augen zu kommen.

Pauls Fuß wurde hoch gelagert und mit nassem Wickel fest bandagiert.

»Solche Verstauchung ist eine langweilige Sache, Paul. Der Arzt muß jedenfalls deinen Fuß untersuchen. Ob auch nichts gebrochen ist«, sagte der Direktor. »Es ist möglich, daß der Schularzt heute kommt.« Dann begab er sich wieder aus dem Fenster. Die französische Stunde konnte ihren Fortgang nehmen.

Paul schien blaß und verstört. Daran waren nicht nur die Schmerzen schuld. Wenn er jetzt wochenlang liegen mußte und keine Semmeln morgens austragen konnte – dann mußte die arme Mutter wieder bis in die Nacht hinein nähen, um die Miete zusammen zu kriegen. Wie konnte er auch bloß so ungeschickt sein.

Als die andern Kinder dann im Eßsaal bei Fräulein Ludwig einen Blumenreigen zu dem bevorstehenden Waldschulfest, das alljährlich nach den großen Ferien stattfand, einstudierten, blieb Paul in der Klasse im Liegestuhl. Fräulein Schmidt saß liebevoll bei ihm und machte ihm Umschläge.

Auch zum Mittagbrot konnte Paul nicht kommen. Das Essen wurde ihm in die Klasse gebracht.

»Der Paul muß bestimmt heute nacht hier draußen in der Waldschule schlafen«, meinte Herbert. »Wie soll er denn mit seinem kranken Fuß durchs Fenster klettern?«

»Der arme Junge!« sagte Suse aus tiefstem Herzensgrunde. Mußte das graulich sein, des Nachts allein in der Waldschule.

Während die Kinder am Nachmittag Spielstunde hatten, blieben Professors Zwillinge in der Sexta bei dem armen Paul. Suse hatte es übernommen, die Umschläge zu erneuern, Herbert für frisches Wasser zu sorgen. Um den Jungen aufzuheitern, erzählte Suse von dem Reigen zum Waldschulfest. »Werde bloß schnell gesund, Paul, daß du mittanzen kannst. Wir Mädel sind alle Blumen. Ich bin Heckenröslein. Und ihr Jungs seid Schmetterlinge und Käfer – genau wie bei der Blumenhochzeit auf der Pfaueninsel.« Aber Paul hatte weder für den Reigen, noch für die Blumenhochzeit irgendwelches Interesse. Er dachte nur an die Semmeln, die er nicht austragen konnte.

Der Schularzt kam glücklicherweise an diesem Tage. Auch er mußte durchs Fenster seinen Krankenbesuch machen. Er stellte bei Paul eine Verstauchung des Fußes fest und verordnete Stillliegen. Der Fuß dürfe gar nicht bewegt werden. Es könne einige Wochen dauern.

Als der Arzt wieder den Rückweg durch das Fenster angetreten hatte, fing Paul bitterlich an zu weinen. Die Zwillinge konnten ihn gar nicht beruhigen.

»Hat dir der Herr Doktor denn so weh getan, Paul?« forschte Herbert.

»Bist du traurig, Paulchen, daß du so lange liegen mußt und nicht in die Waldschule kommen kannst?« Suse streichelte den Schulgefährten mitleidig.

»Ach, deshalb ist es gar nicht«, schluchzte Paul. »Und wenn ich noch viel mehr Schmerzen auszuhalten hätte. Aber ich muß doch morgens die Semmeln für den Bäcker austragen. Mutter rechnet doch damit, daß sie das Geld dafür zum Ersten zur Miete zubekommt. Was mache ich denn nun bloß?«

Suse sah den Herbert an und der Herbert die Suse. Und dann sagten sie wie aus einem Munde, denn sie waren ja Zwillinge: »Wir werden die Semmeln jeden Morgen für dich austragen!«

»Ach, wenn ihr das tun würdet!« Paul trocknete seine Tränen.

»Wenn unsere Mutti es erlaubt«, setzte Suse noch hinzu. Aber Herbert meinte: »Sie wird es schon zugeben. Wo wohnt denn der Bäcker?«

»Ecke Knobelsdorfer Straße. Bäcker Flunder heißt er. Um halb sieben müßt ihr pünktlich da sein. Herr Flunder sagt euch dann, zu wem ihr die Semmeln austragen sollt.«

Der Schlosser kam erst, als die Waldschule schon geschlossen wurde. Den ganzen Tag hatte die Sexta das Extravergnügen, durchs Fenster ein- und auszufliegen.

Schwieriger war Pauls Transport. Der Junge konnte den Fuß nicht aufsetzen. Bei der geringsten Berührung stöhnte er vor Schmerz. Herr Fürst nahm ihn auf den Arm und reichte ihn durch das Fenster Herrn Körner. Auf den kleinen Wagen, auf dem die großen Kübel mit Speisen von der Küche zum Eßsaal gefahren wurden, bettete man Paul auf Decken. So transportierte man das arme Kerlchen bis zum Bahnhof Heerstraße, wo Autos zu bekommen waren. Herr Fürst brachte ihn selbst heim zur Mutter.

Vollgepfropft mit Neuigkeiten kamen Professors Zwillinge nach Haus.

»Mutti – Muttichen – wir mußten alle durchs Fenster in die Klasse, auch der Herr Direktor. Weil unsere Tür kaputt war. Zum Quieken war's. Und Paul hat sich dabei den Fuß verstaucht. Aber doll. Herr Fürst hat ihn im Auto nach Hause gebracht. Und morgen früh sollen wir für ihn Semmeln austragen. Bei Bäcker Flunder, um halb sieben in der Knobelsdorfer Straße. Du erlaubst es doch, Muttichen, nicht? Sonst kann Pauls Mutter die Miete nicht bezahlen.« Die beiden überstürzten sich in ihren Berichten.

Die Mutter griff sich an den Kopf. Semmelaustragen – sie fürchtete, ihre Zwillinge sprächen im Fieber. Aber als sie sah, daß es ihnen Ernst war, erhob sie energisch Einspruch dagegen. Da setzte es Tränen.

Trotzdem Frau Professor Winter versprach, für Paul zu sorgen, und auch für die Wohnungsmiete in ihrer sozialen Fürsorge eintreten zu wollen, Herbert und Suse waren untröstlich, daß sie nicht Bäckerjunge spielen durften.

So endete der ereignisreiche Tag der verschlossenen Klassentür.


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