Richard Voß
Brutus, auch Du!
Richard Voß

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Drittes Kapitel

Jetzt befand sich der Professor an dem Ort, in dem er sich nicht als Rudolf Müller, sondern als »Sor Rodolfo« fühlen durfte; also in seiner seelischen und zugleich künstlerischen Heimat. Denn hier hatte der Zwanzigjährige sich selbst erkannt; hier waren seine ersten römischen Landschaftsbilder entstanden, die schnell seinen Ruf begründeten, einen Ruf, der mit den Jahren zum Ruhm ward; hier kannte ihn jedes Kind; hier freute sich jedermann seiner Ankunft, die Jahr für Jahr am gleichen Tage erfolgte. Früher hatte er mit den Seinen den Casino Baldi bewohnt, jene allbekannte Gaststätte; allbekannt durch die Begeisterung deutscher Maler und Dichter für das herrliche Felsenland. Nicht nur die Klassiker unter den deutschen Malern: Anton Koch und Friedrich Preller, hatten in dem weißen Hause auf dem grünen Hügel glückliche Zeiten verlebt; nicht nur Viktor Scheffel, Felix Dahn und Paul Heyse in der Herberge des biederen Serafino Baldi gedacht und gedichtet – auch Rudolf Müller hatte durch seinen langjährigen Aufenthalt zu ihrem Ruhme beigetragen. In den letzten Jahren war er jedoch dem alten Hause der Baldi untreu geworden: seitdem die neue Zeit und die neue Kunst, die malende, bildhauernde und dichtende, darin ihren triumphierenden Einzug gehalten. Dieser neuen Zeit und Kunst war der Alternde und Altmodische entflohen und hatte sich in einem Hause hoch über der altertümlichen Stadt ein eigenes Heim, die »Casa Tedesca«, gegründet. Denn deutsch, urdeutsch wollte Professor Müller trotz seiner fanatischen Italienliebe sein und bleiben, Wäre er noch jung gewesen, so hätte man bei ihm von einem tragischen Konflikt sprechen können: einem guten deutschen Mägdlein angetraut, war er der Leidenschaft zu einer heißblütigen Römerin zum Opfer gefallen; nicht imstande, aus den Netzen der römischen Sirene sich zu lösen, hielt er seiner hellhaarigen und helläugigen Hausfrau die seelische Treue. Es entstand nun die Frage, welches der beiden Frauenwesen zuallerletzt als Siegerin hervorgehen würde?

In der Casa Tedesca führte Tante Minchen – ihr Bruder nannte sie in vertraulichen Augenblicken ostentativ »Minona« – als Hüterin des Herdes das Zepter. Doch war diese Herrschaft durchaus nicht unbestritten, mußte im Gegenteil in heißer Fehde stets von neuem errungen werden; es schien sogar höchst zweifelhaft, wem der endgültige Sieg verbleiben würde. Die Widersacherin Tante Minchens war keine andre als Dame Filomena, Fräulein Romanas einstige Frau Amme. Wollte die Naumburgerin auf gute deutsche Art Wirtschaft führen, so hielt es Dame Filomena für natürlicher und für sie angenehmer, auf echt römische Weise zu hausen. Diese Ansicht begründete sie einfach und schlagend damit, daß ihr Herr sich nicht in seinem lieben Deutschland, sondern in ihrem schönen Italien befand. Aber trotz der römischen Minona beharrte Tante Minchen auf den Gepflogenheiten ihrer heimatlichen Saalestadt. Aus solchen gewichtigen Gründen tobte beständig der Kampf zwischen den beiden häuslichen Gewalten. Übrigens wäre ohne diesen Streit für des Professors engelgleiches Fräulein Schwester das Leben gar zu reizlos gewesen ...

Kaum war Sor Rodolfo in Olevano eingetroffen, so füllte sich das Haus mit Volk jeglichen Standes, Geschlechts und Alters. Es waren die Gevatterinnen und Basen, die Neffen und Söhne der Neffen Dame Filomenas, deren Familie zu den besseren des Ortes gehörte und sogar Honoratioren zu den Ihren zählte; war doch ihr Vetter Sindakus von Olevano, also Herrscher über das Völkchen der kleinen Felsenstadt. Dieser Sindakus, Virgilio Minardi mit Namen, besaß einen einzigen Sohn, der in Rom »Advokatur« studiert hatte; und ein Advokat konnte es bekanntlich in Italien zum Deputierten, sogar zum Staatsminister bringen. Nebenbei gesagt war der junge Amerigo ein Adonis von Antlitz und Gestalt. Gegenwärtig tat der Götterjüngling nichts, rein gar nichts, lebte in seiner Vaterstadt ganz als »Signore«, beehrte tagtäglich Olevanos einziges Kaffeehaus mit seiner Gegenwart, schlürfte, je nach der Jahreszeit, entweder einen »Schwarzen« und einen Wermut oder eine Limonata und eine Granita, politisierte stundenlang beim Apotheker und Barbier mit andern im Nichtstun ihm ähnlichen Jünglingen, verzierte mit seiner schlanken, nach letzter Mode gekleideten Person, stundenlang die Piazza und wartete. Worauf wohl? Weniger auf eine Advokatur, die von ihrem Inhaber immerhin eine gewisse Tätigkeit erforderte, als vielmehr auf eine Frau, die sich in sein glattes Gesicht verlieben und deren Vermögen ihn in Stand setzen würde, sein Leben ganz als »Signore« fortzuführen. Aber hübsch, bildhübsch war der faule Bursche und das nicht nur in den schönheitsdurstigen Augen Sor Rodolfos, sondern auch für das in heimlicher Liebe entbrannte Herz der guten, leider nicht mehr allzu jugendlichen Romana, deren Reize außer in ihrem wirklich prachtvollen goldblonden Haar in einem recht ansehnlichen Vermögen bestanden, was in Olevano allgemein bekannt und gebührend geschätzt wurde.

Die Casa Tedesca wimmelte also von dem Anhang der Dame Filomena, ohne deren Willen kein Ei und keine Tomate ins Haus gelangte: stand doch der berüchtigte päpstliche Nepotismus des Mittelalters in der bella Italia auch im zwanzigsten Jahrhundert immer noch in voller Blüte, und das nicht nur bei den Großen und Gewaltigen, nicht nur bei Kardinälen, Abgeordneten und Ministern, sondern nicht minder bei den Geringsten eines elenden Gebirgsnestes. Auch gegen diese ehrwürdige Einrichtung erwies sich Tante Minchens Kampf seit bald dreißig Jahren als vollkommen machtlos. Was den Herrn des Hauses betraf, so sah dieser auch darin echtes Römertum; ja er hielt den bedenklichen Brauch geradezu für ein Stück des alten Rom, also für geheiligt. Je mehr Name Filomenas Küche mit dem altertümlichen offenen Feuerherd, Bratspieß und Rost von alt und jung, Männlein und Weiblein belebt wurde, um so heimischer fühlte sich der Professor in seinem Hause, das unter einem Hain von Edelkastanien hoch über Stadt und Land lag, mit einem Rundblick bis ins Neapolitanische hinein ...

Die ersten Tage vergingen der Familie unter den freudigen Begrüßungen der Leute von Olevano. Sie brachten ihrem ältesten Sommergast ihre Gaben dar wie Vasallen ihrem Fürsten den alljährlichen Tribut. Die einen opferten einen Fiasco Olivenöl, die andern ein Fäßlein Wein: »bianco spumante« oder »rosso ascutio« von besonders vorzüglicher Qualität. Oder sie erschienen mit einem fetten Kapaun, einem Dutzend in der Schlinge gefangener Vögel: Stieglitze, Finken, Grasmücken, oder einem Bunde wilder Spargel, einem Korbe Steinpilze und andern Leckerbissen der frühsommerlichen Jahreszeit. Die Spender empfingen außer gerührtem Dank ansehnliche Gegengaben; nur beim Anblick der gewürgten Sänger des Waldes umdüsterte sich Sor Rodolfos strahlendes Antlitz. Jedes Jahr verbat er sich eindringlich derartige grausame Geschenke, jedes Jahr hielt er einen Vortrag über das Barbarische des Vogelmords und jedes Jahr ließ er sich die knusprig gebratenen Vögel herrlich schmecken. Nach dem Genusse erfolgte alsdann unweigerlich ein erneuter Ausbruch sittlicher Entrüstung, den Dame Filomena mit antiker Ruhe hinnahm, den Erzürnten durch ein Abendessen von eigenhändig gemachten Nudeln mit in Tomaten gedünsteten Pilzen wieder versöhnend. Es war dies eine Schüssel, die in solcher Vollendung im ganzen Lande Italien nur sie zu bereiten verstand. Mochte sie daher im Hause Müller Herrscherin sein und bleiben.


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