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Also las Herr Mariano in dem Lokal der Äneide Virgil, angefangen von dem Gesang der Landung des Äneas bei der Tibermündung. Der frommste katholische Geistliche konnte nicht mit heißerer Inbrunst in sein Brevier sich versenken als Herr Mariano angesichts des Tyrrhenischen Meeres und des alten Latium in das Hohelied seines Vaterlands, Italiens »Homer«. Es war ein Schwelgen in klassischen Stimmungen, und es war wunderbar, wie der Dichter das große Kunstwerk genoß: wie er ein Gastmahl oder eine neue Leidenschaft inszenierte, eine Liebesstunde vorbereitete. Auch war es überwältigend! An dem vor seinen Augen liegenden Landschaftsbilde hatte die Zeit nichts übermalt, keinen Farbenton dunkler gemacht. So, genau so, waren vor Jahrtausenden Steppe und Sumpf, Waldung und Wildnis gewesen. Der Musik der Brandung gegen das Gestade: den nämlichen rauschenden, brausenden Akkorden, hatten die Helden der erhabenen Dichtung gelauscht. Und daß dieses Wunderbare sich unmittelbar vor den Mauern Roms vollziehen konnte! Jenes nämlichen Roms, welches zu seinen Gründern den aus dem brennenden Troja geflüchteten herrlichen Helden zählte, dessen Mutter der Göttinnen allergöttlichste selber Roms Ahnherrin war: du, o Aphrodite!
»Der Göttinnen allergöttlichste selber!« Und dann sollten die Römer nicht in göttlichen Flammen entbrennen? – Sollte Rom nicht ein Heiligtum der Liebe und Mario Mariano nicht des Tempels Hohepriester sein? Rom und die Römer also nicht ein Recht zu dem Kultus der hohen Himmlischen besitzen, wie ein dem ähnliches keinem andern Volk der Erde von gütigen Himmlischen gewährt ward? Auf der Warte, von der aus die harrende Frau nach ihm Ausschau gehalten, las der Dichter Mutter und Tochter aus Virgil vor. Seine Augen leuchteten, seine Mienen verklärten sich, sein ganzes Wesen war erhöht, schwebte gleichsam über den dunkeln Tiefen, in welche seine Gläubiger, diese wahren Barbaren, den Hehren hinabreißen wollten. Etwas unwiderstehlich Sieghaftes lag in dem Manne, wenn er sein Organ in den Erhabenheiten Virgilischer Strophen spielen ließ. Aber daß auch die Tochter mit zuhörte! Was verstand das Kind von unsterblichen Heldentaten und der Erhabenheit klassischer Dichtung. Dennoch leuchteten auch ihre Augen, erglühte auch ihr Antlitz. Ach, und wie jung und lieblich sie war! Übrigens wäre es dem Meister jeglicher Verführungskunst nicht darauf angekommen, dem Kinde aus den Metamorphosen des Ovid, dessen »Kunst zu lieben« oder den Novellen des Boccaccio vorzulesen, auch Ovid und Boccaccio in der nämlichen Verzückung wie Dante und Virgil ...
Sie ritten miteinander aus: zu dritt über die Steppe und durch die Wälder, von zwei Leuten der Marchesa begleitet. Auch der Dichter war bewaffnet. In diesem Leben lag etwas köstlich Freies, Ursprüngliches. Genau so mochten in den Wäldern Kalabriens des Sängers Vorfahren ausgeritten sein: schwer bewaffnet, einem Gegner oder Opfer auflauernd. »Banditen« wurden diese Tapferen beschimpft. Als ob es im zwanzigsten Jahrhundert in Italiens Hauptstadt nicht ganz ähnliche Gewerbe gab? Auch diese Braven lauerten auf Beute; auch sie überfielen das Opfer, auch sie setzten ihm die Pistole auf die Brust. Es konnte sogar ein Freund und Bundesgenosse sein. Aber: »La bourse ou la vie!« Was Herrn Mariano betraf, so begnügte er sich, Frauen zu verderben, die ihn liebten, an ihn glaubten, ihm sich hingaben, ihm sich opferten. Gegenwärtig empfand er diese Ritte als einen seine Nerven kitzelnden Reiz. Dazu kam etwas anderes, noch Reizvolleres: die Gegenwart der Tochter, gerade dieser Tochter einer Mutter! Ja, und dann – Wie sicher fühlte er sich in den köstlichen Wildnissen vor seinen Verfolgern, die von ihm Geld forderten, gemeines Geld! Ein von den Karabinieri verfolgter Totschläger und Raubmörder konnte sich in diesen Gefilden nicht sicherer fühlen. Für den Sohn Kalabriens hatte das Rauschen der fast undurchdringlichen Wälder überdies Heimatklang ...
Also zu dritt. Es konnte jedoch geschehen, daß sie plötzlich nur zu zweit waren: nur die beiden Jungen. Gewiß war es absichtslos. Es war eben die vorausstürmende Jugend. Für die Dritte, die Zurückbleibende, die nicht mehr Jugendliche, waren es Qualen. Eine Marter war's! Sie spornte ihr Pferd, um jenen beiden nachzusetzen und blieb dennoch zurück. Damit die zwei nicht allein sein sollten, befahl sie den Leuten, dem Paar zu folgen. Die Getreuen weigerten sich aber, die Herrin in den gefährlichen Gebieten allein zu lassen: der junge Herr führte ja doch Waffen bei sich und würde die Marchesina vor jedem Überfall schützen. Am liebsten hätte die Marchesa ihre Tochter von solchen »gemeinsamen« Ritten ausgeschlossen; doch ein Rest von Würde, zu dem sie sich mühsam aufraffte, hielt sie davon ab. Sie ersuchte die beiden mit unsicherer Stimme, bei ihr zu bleiben: es sei ja doch ein gemeinsames Vergnügen. Nicoletta versprach es mit auffälligem Erröten, hielt ihren kleinen feurigen Renner auch möglichst zurück. Plötzlich befand sie sich weit voraus, war sie allein mit ihm, der von Tag zu Tag mehr Gewalt über sie gewann, eine Gewalt, von Tag zu Tag mehr benutzt von dem Manne, welcher der Teufel sein wollte, der diesen Engel zu Fall brachte: der Liebhaber der Mutter zugleich der Verführer der Tochter! Auch dies war – dantesk. Wenigstens war es dies in dem Sinn von Dantes Göttlicher Komödie, und zwar im Sinn des fürchterlichsten aller höllischen Ringe. Hochsommer in Roms Campagna. Hochsommer im Sumpfland! Die Dünste verdichteten sich. Sie umzogen den Horizont mit so schwerem Gewölk, daß von dem hohen Hause aus nicht einmal das nahe Meeresgestade zu erblicken war. Eine gespenstisch graue Mauer umschloß Fels und Kastell, und die Bäume des nahen Urwaldes entstiegen gleich einem Geisterhain dem Gewölk. Verdorrt jede Blume, jeder Halm. Braun und verbrannt, was im Frühling elysischen Gefilden geglichen hatte. Die wenigen Bewohner unterhalb des herrschaftlichen Hauses schlichen wie Schemen umher. Es war eben Totenland. Jede Woche mußten die Überlebenden einem der ihren das Grab schaufeln, nachdem noch in letzter Stunde von dem Heiligtum der göttlichen Liebe der Priester herbeigerufen worden war. Tod war Erlösung, Wohltat, Glück; aber nur nicht sterben, ohne das letzte Sakrament empfangen zu haben ...
Die Marchesa blieb. Wohin hätte sie sollen, bankerott an Vermögen und Ehre, wie sie war? Binnen kurzem würde ihr Prozeß entschieden sein und sie dem Vater die Tochter zurückgeben müssen. Letzteres hätte sie schon jetzt mit Wonne getan; indes – Himmlische Jungfrau, nicht ausdenken, wohin Leidenschaft eine verirrte, eine verlorene Seele bringen konnte! Dann würde der Geliebte sie sogleich verlassen haben, und sie mußte ihn behalten. Nur noch jetzt, nur noch eine kurze Weile. Es war seine Gegenwart; sie hörte seine Stimme, sah sein Gesicht. Wenn sie auch wußte, weshalb er in der Hölle dieses flammenden Hochsommers ausharrte. Immerhin war es doch er! Er! Er!
Also blieben die drei beisammen. Lag doch das Kastell über den Sümpfen in einer Höhe, auf der die Moskitos, deren Stich dem Menschen das Fiebergift einimpft, nicht sehr zu fürchten waren. Da die Mücken erst gegen Abend zu schwärmen begannen, so mußten die gemeinsamen Ritte, die über Tags der Gluten wegen unmöglich waren, überhaupt unterbleiben. Herr Mariano, der vor den menschlichen Schmeißfliegen, seinen Gläubigern, deren Forderungen giftiger waren als der Stich der Fieberfliege, nach wie vor nicht sicher war, las in der virgilischen Landschaft noch immer die Äneide. Seine Ausritte unternahm er in erster Frühe, häufig schon vor Sonnenaufgang, mit dem zugleich das verzehrende himmlische Feuer aufflammte. Er machte die Ritte allein; denn die Tochter durfte auf Befehl der Mutter zu dieser frühen Tageszeit das Haus nicht verlassen. Der Gast der Mutter wußte, daß die Tochter wachte, daß sie auf den Hufschlag seines Pferdes lauschte, daß sie sich sehnte, immer glühender, verzehrender gleich den Gluten des Sommers. Er wußte, daß sein Gift eingedrungen war in die Seele der Unschuldigen und Reinen und daß die Stunde kommen würde.
Sie kam.
In einer Mondscheinnacht war's, daß Nicoletta etwas Seltsames tat. Sie stand auf und schlich im Hemdlein aus dem Zimmer, das soeben erst der Geliebte verlassen hatte. Sie schlich durch den Gang, auf dessen Fliesen das Mondlicht leuchtende Runen zeichnete. Sie schlich an dem Schlafgemach ihrer Mutter vorüber und – Vor dem mütterlichen Schlafgemach hörte sie etwas, das ihren Schritt plötzlich bannte.
Es waren Stimmen; war ihrer Mutter Stimme und die Stimme von –
Es mußte Täuschung sein! Sie träumte und hörte im Traum des Geliebten Stimme, die ihr – war auch das nur Traum gewesen? – die ihr soeben erst zugeflüstert hatte: sie sei seine erste, seine einzige Liebe; sie erst habe ihn gelehrt, was Liebe sei, und jetzt gehöre sie ihm, sei sie sein für alle Ewigkeit! Dann hatte er sie verlassen, dann war sie aufgestanden, um ihre Seligkeit aus dem dumpfen Gemach hinauszutragen unter Gottes freien Himmel, in die feierliche Mondnacht, an den Strand des Meeres, das so ewig war wie seine Liebe sein sollte. Da plötzlich – Aus ihrer Mutter Schlafgemach drang zu ihr seine Stimme ... Wenn es nicht Traum war, so war es Wahnsinn! Wie schön, wäre es Wahnsinn gewesen, käme sie nicht wieder zu Sinnen; sie, die soeben erst in seinen Armen gelegen, soeben erst seinen Schwüren gelauscht und ihren jungfräulichen Mund wie einen Opferkelch dem seinen dargeboten hatte ...
Sie wollte an dem Zimmer vorüberschleichen; konnte sich nicht bewegen; konnte nicht von der Stelle; konnte nicht entfliehen; hörte in dem Schlafgemach ihrer Mutter Schluchzen, Stöhnen, ersticktes Weinen.
Und die Tochter hörte ihre Mutter schluchzend, stöhnend sagen:
»Du liebst mich nicht mehr, und ich, und ich! Ich gab dir alles. Aber mein beginnendes Altern, mein welkendes Fleisch! Das konntest du von mir niederschreiben; konntest du über mich drucken lassen wollen! Und anstatt daß Scham und Schande mich vernichtet hätten, gab ich mich dir wieder zu eigen; war ich selig, mich dir wiedergeben zu dürfen! Und – du nahmst mich.«
»Aus Barmherzigkeit.«
»Elender!«
»Beschimpfst du mich um meines Mitleids willen?«
»Nein, nein! Ich danke dir! Auf meinen Knieen! Sieh, ich kniee vor dir.«
»Um dich noch mehr zu erniedrigen.«
»Auch das ertrage ich von dir ... Weshalb kamst du wieder zurück?«
»Weshalb?«
»Ich hatte mich von dir befreit, von dir gelöst.«
»Geflohen warst du vor mir.«
»Da kamst du wieder. Weshalb?«
»Weißt du das nicht?«
»Schweige! Aus Barmherzigkeit! Um deines Mitleids willen!«
»Wenn deine Tochter wüßte –«
»Nenne ihren Namen nicht! Von dir nur genannt zu werden, befleckt die Reine, Unschuldige, Unberührte.«
»Sie liebt mich.«
»Ich entreiße sie dir, sage ihr, was du bist: Verführer, Verderber, Dämon, Teufel!«
»Den du anbetest.«
»Sie wird dich hassen; wird vor dir zurückschaudern, dir fluchen.«
»Lieben wird sie mich, wird mir angehören.«
»Nur das nicht! Sieh, ich liege vor dir im Staube. Zertritt mich, töte mich. Ich verdiene den Tod. Denn ich bin die Schuldige, die Nichtswürdige. Ich allein! Töte mich aus Erbarmen, wie du mich aus Erbarmen geliebt hast.«
»Dich geliebt? ... Ich, dich geliebt?«
»Töte mich! Töte mich!«
»Töte dich selbst!«
»Ich kann nicht, kann nicht! Solange du noch –«
Ihre Tochter hörte die letzten Worte nicht mehr; hörte nur noch ersticktes Weinen, Schluchzen, Stöhnen. Sie schlich fort von der Tür, dahinter etwas sich barg, das nicht Wirklichkeit sein konnte und doch Wirklichkeit war. Sie schlich weiter, entlang den Gang, auf dessen Fliesen das Mondlicht geheimnisvolle Zeichen schrieb, einem leuchtenden Menetekel gleich.
Sie schlich aus dem Hause, schlich weiter; schlich hin, wo die Dünste aufquollen. Gleich Geisterscharen wallten sie um das hohe Haus, das ein Haus der Verdammnis war.
Sie hätte bis an den Meeresstrand schleichen können und weiter, nur wenige Schritte weiter, bis ins Meer hinein; bis hinein in das schönste der Elemente; bis hinein in die Ewigkeit.
Es hätte jedoch als Mord erscheinen können, als Selbstmord. Wie hätte dann die Mutter weiter leben können? Und er, der Geliebte – An dem Rand der Sümpfe legte sie sich nieder, bettete sie sich: dicht an dem Rand. Die Dünste quollen auf, wälzten sich über sie hin, zogen von ihr fort nach dem Hause der beiden Verdammten, Verfluchten. Gleich Geisterscharen umzogen sie das Haus.
Als der Morgen zu dämmern begann, raffte sie sich auf, schlich schwankend zurück ins Haus; schlich durch den Gang, vorüber an dem Schlafgemach, darin es still geworden war; schlich in ihr Zimmer, sank auf ihr Bett, schloß die Augen, hörte noch –
Und Nicoletta hörte noch den Hufschlag eines galoppierenden Pferdes.
Der Geliebte ritt aus, dem aufstrahlenden Tage entgegen, entgegen der Sonne, die nach Gottes ewigem Willen über Gerechte und Ungerechte scheint.