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So lebte denn Frau Romana für Vater und Sohn. Dieser Sohn war noch immer ein kränkelndes, gleichsam hinsiechendes Kind, würde es wohl auch bleiben. Es würde aufwachsen ohne die Freuden und Spiele anderer, gesunder Kinder, also ohne Kinderlust und Kinderglück. Vielleicht würde es nur durch die unermüdliche Sorge seiner Mutter überhaupt fortleben wie eine Schattenpflanze, um aus einem siechen Kinde ein siecher Mann zu werden, der seine Mutter einst fragen konnte: »Weshalb gabst du mir das Leben, da es doch für mich nur Siechtum ist?« Es wäre dies eine Anklage gewesen des Sohnes gegen die Frau, die ihn mit Schmerzen geboren hatte und die nun für sein Leben verantwortlich sein sollte: für ihres Sohnes Lebensglück.
Aber auch das elende Kind, das die Nächte durch weinte und wimmerte, das den Namen der Mutter nicht einmal lallen konnte, war für Romana in ihrem höchsten Leid ihr höchster Trost. Dieser Trost sollte ihr genommen werden und das von des Kindes eigenem Vater: Der Advokat Amerigo Minardi forderte seinen Sohn von der Mutter zurück! Er begründete dieses Verlangen damit, daß sein Sohn Italiener sei und seines Sohnes Mutter eine Deutsche. In diesem Umstand erblicke der italienische Vater für seines Sohnes Erziehung die Gefahr, als Deutscher erzogen zu werden. Das müsse er um jeden Preis verhindern; das sei nicht nur seine väterliche, sondern seine nationale Pflicht. Zugleich sein heiliges väterliches Recht. Italiens Gesetze – und der Mann kannte sie! – sprächen dem Vater, außer der Pflicht, auch das Recht zu. Kraft dieses Rechtes fordere er daher den Sohn zurück. Romana las das Schreiben, welches ihr aus dem Büro ihres Gatten als Geschäftssache zuging; als »Geschäftssache« wurde der Mutter die Trennung von ihrem Kinde angekündigt! Als Italiener sollte das Kind aufwachsen und erzogen werden, und des Kindes Mutter war eine Deutsche.
Italiens Gesetze gaben dem Vater zu einem derartigen Vorgehen das Recht? War es nicht das Recht der Mutter, ihren Sohn vor solchem Vater zu schützen? Welches Gesetz durfte das Recht einer Mutter angreifen, um es zum Unrecht zu machen? Zum Unrecht gegen ihr Kind?
Das Gesetz Italiens sollte es können –
Romana las und las. Sie versuchte, das Gelesene zu begreifen. Es dauerte lange, bis sie begriffen hatte. Dann saß sie in einer Betäubung, als hätte ein Raubmörder sie überfallen und ihr einen tödlichen Schlag versetzt. Doch durfte sie an der Wunde nicht sterben, mußte leben; leben, um sich zu wehren, um zu kämpfen: für ihr Kind! Man sagte, eine Mutter, der man ihr Kind nehmen wolle, kämpfe darum wie eine Löwin um ihr Junges. Sie, die einst so Schwache und Hilflose, würde Löwin sein; würde ihr Kind schützen vor einem Vater, der es ihr rauben wollte; es ihr rauben konnte nach dem Gesetze Italiens! ...
Der Knabe lag in seinem Bettchen, noch immer so ganz anders als andre Kinder in seinem Alter. Ganz sonderbar war es mit ihrem Knaben. Weshalb gerade mit ihm? Sie durfte diese Frage nicht an die Gottheit richten. Auch sie wäre eine Anklage gewesen: »Herrgott, weshalb gerade mir? Was tat ich, daß du zu allem andern mir auch noch diese Prüfung auferlegst? Aber wie darf ich dir, Herrgott, grollen, der du auf deiner Welt das Gräßliche solchen Völkermordens geschehen lässest? Wie darf dann noch mein eigenes Schicksal mich kümmern? Mag es in Gottes Namen an mir sich erfüllen und Verzweiflung sein. Aber mich wehren und kämpfen will ich: um meines Kindes willen!« Sie kniete an dem Bette nieder, beugte sich über das Kind, Worte flüsternd, wie nur eine Mutter sie hat. Verständnislos stierte sie der Knabe aus leeren Augen an. Kaum, daß er die Frau kannte, die ihn an ihrer Brust nährte. Doch griff er mit beiden Händlein nach ihr. Sie jubelte auf, bedeckte die armen kleinen Hände mit Küssen. Das Kind begann zu weinen mit jenem leisen wimmernden Ton, der für die Mutter furchtbar war, wie der Aufschrei der einander sich mordenden Menschheit selbst. Der Knabe hatte nach der Mutter gegriffen, weil ihn hungerte. Da stillte Romana ihr Kind.
Ihrem Vater verschwieg sie, was ihr Gatte ihr als geschäftliche Angelegenheit zugeschickt hatte. Der alte Mann trug des Leids genug und das um Größeres als um Tochter und Enkel: um die Meute blutgieriger Wölfe, die Deutschland angefallen hatten, um es lebendigen Leibes zu zerfleischen. Und bitteres Leid trug Rudolf Müller unausgesetzt wegen Italiens Neutralität, die offenkundige Feindschaft war, Haß und Hohn, Beschimpfung der beiden Herrscher seiner Bundesgenossen mit Karikaturen auf alles, was germanisches Wesen war, voll Jubels über die erlogenen Siege Frankreichs, Englands und Rußlands, voll Wut über deutsches Barbarentum. Das alles nagte an dem Leben des Greises, so aufrecht er auch sein Haupt trug, die Brust geschmückt mit dem Ehrenzeichen seines Vaterlands ...
Inzwischen kämpfte seine Tochter um ihr Kind. Sie begab sich zu einem der ersten Rechtsanwälte. Der vielvermögende Herr empfing die ernste Frau in dem dunkeln Kleide mit echt römischer Höflichkeit, ließ sie ihre traurige Angelegenheit vortragen, schien sich dafür zu interessieren, er schien menschlich bewegt. Er erklärte voll Feierlichkeit, ihr Anwalt sein zu wollen, und versprach der gequälten Mutter, ihr den Sohn zu erhalten. Fast hätte die Frau vor dem Helfer und Retter einen Fußfall getan. Mit heißen Dankesworten erhob sie sich. Jetzt erst wurde sie nach ihrem Namen gefragt.
»Ich heiße Romana Minardi.«
»Minardi? Und Ihr Gatte?«
»Amerigo Minardi.«
»Doch nicht der Advokat Amerigo Minardi?«
»Der nämliche.«
»Wie, meine Dame, Sie sind die Gattin des Advokaten Minardi?«
»Jawohl, mein Herr!«
»Der Advokat Minardi fordert von Ihnen sein Kind zurück? Seinen Sohn?«
»So ist es, mein Herr.«
»Wissen Sie, meine Dame, wer dieser Amerigo Minardi ist?«
»Wie ich zu meiner Freude höre, ein seit kurzem überaus angesehener Advokat.«
»Der alle Aussicht hat, einmal Deputierter zu werden.«
»Was hat das mit meinem Kinde zu tun?«
»Das fragen Sie noch?«
»Und bitte um Antwort.«
»Meine Antwort ist, daß ich bedaure, ablehnen zu müssen, in dieser Angelegenheit Ihr Anwalt zu sein.«
»Soeben sagten Sie doch –«
»Ich sagte es, ohne zu wissen, um wen es sich handle.«
»Es ist mein einziges Kind. Sie versprachen, es mir zu erhalten.«
»Ich kann die Angelegenheit einer Frau nicht führen, die gegen einen meiner geschätztesten Kollegen Klage erheben will.«
»Meine Sache ist gerecht, wie Sie mir soeben erst feierlich versicherten.«
»Und jetzt versichere ich Ihnen auf das feierlichste, wider einen Mann nicht auftreten zu können, der –«
»Alle Aussicht hat, einmal Deputierter zu werden ... Sagten Sie nicht so?« »So sagte ich. Und ich sage Ihnen ferner: Herr Minardi ist gerade jetzt eine Persönlichkeit von ungewöhnlicher Bedeutung. Er wird erstaunlich schnell Karriere machen: gerade in dieser Zeit ... Empfehle mich Ihnen.«
Sie würdigte den Herrn keiner Antwort, hörte wie im Traum seine letzten Worte:
»Ich bitte, meinen sehr geschätzten Herrn Kollegen wissen zu lassen, daß ich auf das entschiedenste ablehnte, in dieser Angelegenheit der Anwalt seiner Gegenpartei zu sein. Übrigens werden Sie in ganz Rom keinen Rechtsanwalt finden, der gegen Herrn Minardi vorgehen würde. Es wäre im höchsten Maße unkollegial. Ihre Sache, meine Dame, ist hoffnungslos.«
»Hoffnungslos.« Besaß die Sprache noch ein anderes Wort von ähnlicher tödlicher Wirkung? War der Tod aller Hoffnung nicht Tod überhaupt? Bestand nicht das ganze Leben aus Hoffnung? Und sie sollte keine Hoffnung haben, ihr Kind zu behalten?
Sie glaubte es nicht, ging von Rechtsanwalt zu Rechtsanwalt, wurde von jedem auf das höflichste empfangen, von jedem auf das entschiedenste abgewiesen, sobald der Name Minardi fiel. Dieser hatte plötzlich in ganz Rom einen Klang bekommen. In den Klang mischte sich allerdings ein etwas seltsamer Ton, indes –
»Der Advokat Amerigo Minardi besitzt alle Aussicht, einmal Deputierter zu werden, und das gerade in dieser Zeit höchster Erregungen auch für Italien. Der Advokat Amerigo Minardi wird eine brillante Karriere machen, und das überraschend schnell. Ihre Sache, meine Dame, ist hoffnungslos.«
»Doktor, was fehlt meinem Kinde?«
»Der Knabe ist sehr krank.«
»Gefährlich krank?«
»Wir müssen das Beste hoffen.« »Also – hoffnungslos?«
»Solange der Mensch noch lebt, besteht auch noch Hoffnung.«
»So sagt man.«
»Es ist Diphtheritis, und Sie verstehen –«
»Ich verstehe.«
»Darf ich Ihnen etwas sagen?«
»Daß immer noch Hoffnung besteht?«
»Für Ihr Kind wäre es ein Glück, wenn es –«
»Keine Hoffnung mehr wäre?«
»Ich wollte Ihnen einen Trost geben, den einzigen, den ich Ihnen geben kann.«
»Denn wenn mein Kind am Leben bliebe, so wäre es sein Leben lang ein hinsiechendes, also ein unglückliches Kind?«
»Das wäre der arme Knabe.«
»Ich sollte daher Gott bitten, mein Kind zu erlösen? Gott auf den Knieen bitten!«
»Bitten Sie, beten Sie.«
»Sie sind ein guter Mensch.«
»Weil ich die Leiden der Menschen fühle?«
»Um sie zu lindern.«
»Ich möchte lindern, helfen und retten; aber – ich möchte Ihr Kind nicht am Leben erhalten.«
»Doktor! Doktor!«
»Als Sie es unter Ihrem Herzen trugen, müssen Sie eine sehr unglückliche Frau gewesen sein.«
»Wenn ich das gewesen wäre, so hätte sich mein Unglück an meinem Kinde gerächt?«
»Arme Frau, arme Mutter!«
»So hätte mein Unglück mein Kind zu diesem hinsiechenden Wesen gemacht? ... Antworten Sie doch! ... Nein! Antworten Sie nicht. Ich weiß es. Meine Schuld ist es, und weil es meine Schuld ist, so muß ich jetzt Gott auf den Knieen bitten, mein Kind sterben zu lassen.«
Sie bat Gott. Auf den Knieen bat sie. Tag und Nacht flehte sie an ihres Kindes Bett zu dem barmherzigen Gott, und Gott hatte Erbarmen ...
Als Italiens Gesetz seine Männer sandte, um der Mutter im Namen des Gesetzes ihr Kind zu nehmen, führte diese sie zu dem Kinde.
Es lag unter weißen Blumen gebettet, und sein wachsgelbes Gesichtchen zeigte einen Zug, als wäre der Knabe mit einem Lächeln entschlummert in die Ewigkeit. Seine Mutter sagte zu den Männern des Gesetzes:
»Ich bat Gott, mein Kind sterben zu lassen. Melden Sie das seinem Vater.«
Rudolf Müllers Tochter nahm Abschied von ihm:
»Du hast das gute Tante Minchen; hast auch Filomena. Beide werden treu für dich sorgen. Ich aber muß dich jetzt verlassen.«
»Das ist jetzt ja wohl deine Pflicht.«
»Ich habe keine höhere. Hoffentlich kann ich dir bald melden, daß man mich zu einer Etappe hinausgeschickt hat.«
»Im Osten steht Heinz.«
»Ich gehe dorthin, wo man mich braucht.«
»Von Heinz kam keine Nachricht?«
»Keine.«
»Solltest du ihn sehen –«
»Er nahm Abschied von mir.«
»Aber solltest du ihn sehen, so sage ihm –«
»Was, lieber Vater?«
»Ich hätte vor den Trümmern seines Werks gestanden und bitterlich geweint. Sage ihm, ich würde erst wieder weinen, wenn nach Deutschlands letztem glorreichem Siege Deutschlands Glocken den Frieden einläuteten. Das würden dann aber Tränen stolzer Freude sein. Sage ihm das.«
»Ja, mein Vater.«
Sie schied ... Sehr bald kam Nachricht von ihr: gute, hoffnungsvolle. Sie konnte helfen; in einem Seuchenlazarett im Osten. Und sie schrieb, der geringste Soldat sei ein Held!
Von Heinrich Weber blieb jede Kunde aus. Dann aber stand sein Name in der Liste – nicht der im Osten Gefallenen oder Verwundeten, sondern in der der Vermißten.
In Rußlands Sümpfen sollte er versunken sein, erstickt in Schlamm.
Das war das letzte, was Rudolf Müller von seinem Liebling zu hören bekam; war das Ende des Mannes, der ein Genius gewesen war, einer von jenen, die von Gottes Gnaden waren.
Gottes Gnade war mit ihm gewesen; denn er hatte für sein Vaterland leiden dürfen. Sogar den Märtyrertod, Immerhin war der Name Heinrich Weber, trotz seines zertrümmerten Meisterwerks, dennoch der Name der Unsterblichen einer: als Sohn Deutschlands, als deutscher Soldat, Krieger, Held.«