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Professor Rudolf Müller befand sich als Kaisergast in der Villa Falconieri. Dort vernahm er das Gräßliche, das die Welt bewegte. Aber so wunderbar wirkte der Aufenthalt in dem leuchtenden Hause, hoch über Roms Campagna, unter den Wipfeln der Steineichen, auf den von den Baldachinen der Pinien überwölbten, von Lorbeer und Laurustinus eingefaßten Wegen, am Rande des Zypressenteichs, daß selbst das Gräßliche, was in der Welt dort unten geschah, gleichsam von Schleiern umwebt ward. Es war, als wäre der Mensch dort oben der Welt entrückt. Eine Weihestätte war's, ein Ort des Waltens gütiger Geister.
Rudolf Müller arbeitete an seinem großen Gemälde für Kaiser Wilhelm: »Die Villa Falconieri bei aufsteigendem Schirokko.« Noch erhob sich der Palast mit seinem tempelartigen Mittelbau und seinen langen, schmalen Seitenflügeln aus einer Fülle scharlachroter Rosen in sommerlich strahlendem Glanz; noch hatten die Olivenwälder unterhalb der Terrassen – sie bestanden zum Teil aus antikem Mauerwerk von dem tuskulanischen Landhause Lukulls – ihren von der Sonne bestrahlten Silberschimmer. Aber schon umdunstete sich die unabsehbare Weite mit dem fahlen Schein des Südwinds, und das Meer zog sich nur noch als weißer Streifen längs des schwarzen Saumes der Buschwälder hin. Nur die Peterskuppel ragte noch aus dem aufsteigenden Qualm hervor, gleich einem zwischen Himmel und Erde schwebenden Dom.
Das Bild sollte des greisen Künstlers Meisterwerk werden: malte er es doch für Deutschlands geliebten Herrscher, dessen Herz jetzt Grimm und Schmerz ob der schändlichen Mordtat von Sarajevo erfüllte. An anderes dachte Sor Rodolfos Kindergemüt nicht: nicht an etwaige politische Folgen des fluchwürdigen Attentats bestochener Verbrecher.
Es störte ihn in seiner Arbeit und es störte den Frieden des Eichenhains, als wirre wilde Gerüchte zu ihm drangen. Sie raunten von Kriegsmöglichkeit. »Krieg.« Das war ja doch ein Wort, welches Europas Kulturstaaten in sämtlichen Sprachen ausgelöscht hatten, Rußlands Herrscher hieß der Friedenszar, und Deutschlands Kaiser – Wie war Deutschlands Kaiser von allen Völkern verhöhnt worden, weil er, der von Gottes Gnaden sich fühlte, selbst Demütigungen ertragen hatte um des Friedens willen, des dreifach heiligen. Auch befand sich hoch oben im Norden eine Stadt, in der Europas Völker einen Friedenspalast erbauten. Wie also konnte das Wort: Krieg! plötzlich aufbrausen? Krieg zwischen Österreich und Serbien diesem Mörderstaat? Mörder mußten gerichtet werden. Alle Staaten Europas würden richten, verurteilen, verdammen.
Österreichs Bundesgenosse war Deutschland. Und beider Reiche Bundesgenosse war Italien. Italien bildete mit Deutschland und Österreich eine unlösliche Dreieinigkeit. Auch waren jene von der Möglichkeit eines Krieges sprechenden Stimmen nur vage Gerüchte. Ein Raunen und Flüstern war's, ein leidenschaftlich erregtes, und das selbst an dieser Tempelstätte, hoch über dem Lärm, dem Staube, dem Jammer, den Greueln der Welt ...
»Die Villa Falconieri bei aufsteigendem Schirokko« –
Etwas wie ein böses Omen lag in dem Titel, den Rudolf Müller seinem für den Deutschen Kaiser bestimmten Gemälde gab. Einstweilen stieg der verderbliche Wüstenwind nur erst am Horizont auf, und noch war die Villa Falconieri, dies Stücklein Deutschland hoch über Rom, das »leuchtende Haus«. Aber das graue Gewölk würde sich ausdehnen; würde weiter und weiter sich erstrecken. Den ganzen Himmel würde es überziehen und mit seinem glühenden Vorhang so dicht verhüllen, bis es auf Erden keinen Himmel mehr zu geben schien, sondern nur noch diese bleierne, fahle, leichenfarbene Decke über einer Welt, deren Leben darunter erstickt war.
»Bei aufsteigendem Schirokko« –
Wenn er blutrot über der Welt aufstieg, erfüllte sein höllischer Odem alle Länder, drückte als Alp auf die Seelen der ganzen Menschheit; kroch in ihr Hirn, brachte die Menschheit von Sinnen.
Toll die Menschheit, die ganze Menschheit! So grauenvoll-gräßlich toll, daß sie in dem Blut der Völker sich badete, von dem Blut der Völker die Erde überschwemmen ließ, mit Leichnamen sie düngte und lachend, grell auflachend, mit Schädeln und Totengebein spielte wie ein Kind mit Marmelsteinen und Blumen.
Doch der Schirokko stieg ja erst auf und das für Rudolf Müller nur auf seiner Leinwand. War die Stimmung der Landschaft nicht von der Art, daß er seine Staffelei aufstellen konnte oder hatte er sich müde gearbeitet, so verweilte er vor dem Hause im Schatten der Steineichen, die wie eine Kuppel sich wölbten, und schaute über die allmählich verlöschenden Gluten der Rosengärten, auf das ferne Sabinergebirge, in dem sein geliebtes Olevano lag. Die Stätte seiner zweiten Heimat selbst, konnte er nicht sehen. Aber nächsten Sommer! Und gewiß noch manches andre Mal! Hatte er doch flehende Hände zu einer gütigen Gottheit erhoben, damit ihm diese ein langes Leben bescherte, um in Rom, in Italien, lange leben zu können und zuletzt unter den Zypressen an dem Aurelianischen Mauerwall, bei der Pyramide des Cestius, seine letzte Ruhestätte zu finden. Schön würde er von einem langen, durch ehrliche Arbeit und reiche Mühsal gesegneten Leben dort ausruhen in Roms ewiger Schönheit ...
Wurde der Tag selbst unter den schattenden Wipfeln zu heiß, so begab sich der Alte in die fürstliche Halle des großen Hauses, das jetzt ein Kaiserhaus war. Dort schauten von der gewölbten Decke Roms und Griechenlands heitere Götter herab. Als die Villa klösterliches Eigentum der Väter von Tre Fontane wurde, mußten sich die Himmlischen für die frommen Asketen schamhaft verhüllen. Aber unter diesen Hüllen durften sie ihr glückseliges Heidentum auch unter den strengen Gesetzen des Ordens der Ewigschweigenden beibehalten: Als dann das Landhaus der Falconieri wiederum in einen weltlichen Besitz sich verwandelte, sanken die Verschleierungen, und Roms Sonne bestrahlte die von hellenischer Anmut umflossenen Leiber von neuem.
Von den Wänden des Saales schauten die Fürsten Falconieri mit ihren Gästen und Pagen auf die unter ihnen Versammelten herab: sie, die längst Gestorbenen, auf die Lebenden, die begnadet waren in dem Hause der Falconieri Festtage zu feiern. Saßen sie in dem schönen Raum, so blickten sie hier durch die Wölbung des von Säulen getragenen Vorbaues auf Roms Landschaft, bis zum Gestade des Tyrrhenischen Meeres – blickten sie dort durch ein heiteres Gemach über eine Terrasse mit Kühlung spendender Fontäne auf silbrige Ölwälder und die blau umdunstete Sabina, als Vordergrund den Riesenbau der Villa Mondragone, des Landhauses Pauls V. mit seinen Terrassen, Loggien, Säulen, Wasserwerken, alles übermächtig und größenwahnsinnig, jetzt alles Vergangenheit und Verfall.
Abends dann: »Man muß es erleben.« sagte Rudolf Müller immer wieder. Abends dann die Streifereien durch die Olivenwälder, die Gehölze, über die Matten und Senkungen der Villa Rufinella bis hinauf zu den tuskulanischen Höhenzügen und das Labyrinth der Ruinen, unter Haselnuß, Lorbeer und Ginster begraben. Unter Ginster! Fluten dieses blühenden Goldes machten verwilderte Pfade fast unzugänglich, schlugen über dem Haupt des Wandelnden zusammen, bedeckten alle Höhen, füllten alle Tiefen, überzogen bröckelndes Gemäuer mit Glanz, umloderten Felsen, wogten in breitem Strome zu Tal. Ein Zauber war's: »Ginsterzauber!« Und in dieser Welt höchster Schönheit sollte der Schirokko aufsteigen; sollte Schirokkowahnsinn die Völker ergreifen; sollte Krieg werden? Völkermordender Krieg!
Aus dem Munde lateinischer Hirten erfuhr es Rudolf Müller: »Krieg! Krieg Österreich-Ungarns und Deutschlands mit Serbien! Krieg mit Rußland! Krieg mit Frankreich! Krieg mit England!«
Rudolf Müller hatte in den letzten Julitagen Ferien gemacht, war in das wilde Algidumtal gewandert und hatte auf den Steppen, die im Frühling unabsehbare Gefilde weißer Narzissen waren, bei dem Hirtenvolk eine Zeit zugebracht. Er kannte dieses Volk seit seiner Jugend, war häufig dort Gast gewesen, liebte die Einsamkeiten jener Hochtäler leidenschaftlich. Sie schienen nicht in Europa, sondern in einem andern Weltteile zu liegen: in Argentinien oder Australien. Es gab dort nur Hirten und Herden. In kalten Tagen hausten die Männer in einem ruinenhaften Kastell des Fürsten Orsini und schlugen bei Beginn der guten Jahreszeit ihre Zelte auf. Ein solches luftiges Obdach wurde dem alten Herrn gastfrei überlassen. Es lag an dem Rand eines kleinen kreisrunden Wasserbeckens, an dessen Ufern einstmals – lang, lang war es her! – der große Krieg, den Rom mit seinen feindlichen Nachbarn führte, entschieden ward. Von der Schlacht am See Regillus hatte der Knabe schon auf der Schulbank gehört. Das Dioskurenpaar Kastor und Pollux hatte den Sieg am See Regillus den Römern auf ihrem Forum verkündet. Im Laufe der Zeit war der See zu einem von Ginster und Schlehdorn umbuschten Sumpf geworden, und jetzt – In diesen ersten Augusttagen des Jahres 1914 riefen an dem Ufer des Sees Regillus lateinische Hirten, auf ungesattelten Pferden heransprengend, ihrem deutschen Gast zu:
»Krieg! Krieg! Krieg Deutschlands und Österreichs mit Serbien und Rußland, mit Frankreich und England! Krieg! Krieg!« Nach einem Schweigen, währenddem Rudolf Müller nach Fassung rang, tat er die Frage:
»Und Italien? Wenn Deutschland und Österreich Krieg führen, so führt doch wohl auch Italien Krieg? Italien ist ja doch Deutschlands und Österreichs Bundesgenosse!?«
Rudolf Müller sprach wie im Traum, wie in halber Betäubung. Jenen andern Hirten wurde vor Bethlehem von Engelslippen verkündigt: »Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Euch ward heute der Heiland geboren.« Und hier? Und jetzt?
In welcher Verwirrung befand sich des Alten Geist, daß er jetzt jener Engelsbotschaft des Friedens auf Erden gedenken mußte, in dem Augenblick, da ihm lateinische Hirten die Botschaft brachten: »Krieg auf Erden und den Menschen ein Grauen! Euch ward heute der Völkermord geboren!«
»Und Italien?« – hatte er in seiner Verwirrung gestammelt. Noch bevor er das Furchtbare recht fassen konnte, hatte er Italiens gedacht; Italiens als treuen Bundesgenossen der beiden kriegführenden Mächte. Die Hirten aber beantworteten seine Frage mit einem Ausbruch jubelnder Begeisterung:
»Krieg! Krieg! ... Evviva la Germania! Evviva Bismarco! Evviva la Germania e l'Italia! Avanti Savoia!«
Doch Österreich –
Der alte Mann wandte sich ab, um seine stürzenden Tränen zu verbergen. Das junge Hirtenvolk aber raste weiter auf ungesattelten Rossen, halbnackt, eine ganze Schar von Dioskuren, Götterjünglingen vergleichbar, um die Kunde weiterzuverbreiten unter den Hirten des Algidum, dieses gewaltigen Schlachtfeldes des einstmals gewaltigen Römerreichs.
Als Rudolf Müller allein war, warf er sich am Strande des Sees von Regillus zu Boden. Er wollte beten; wollte den Herrn der Heerscharen anrufen für sein deutsches Vaterland. Aber von seinen zitternden Lippen kamen nur die Worte, die er soeben aus dem Munde der jauchzenden Jünglinge vernommen hatte: »Evviva la Germania! Evviva la Germania e l'Italia! Evviva Bismarco!«
Ja! Bismarck war nicht tot, Bismarck konnte nicht sterben, Bismarck lebte. Er lebte für sein deutsches Volk; lebte für das große Reich, welches er mit Blut und Eisen in Flammen geschmiedet hatte. Sein unsterblicher Geist lebte in Deutschlands Volk und würde es führen durch Blut und Flammen von Sieg zu Sieg:
»Deutschland, Deutschland, über alles!«
Am Rande des Sees von Regillus, in der Wildnis Latiums, in welcher der Knieende der einzige, der letzte Mensch auf Erden zu sein schien, sang der greise Künstler das Hohelied des deutschen Volkes. Es war in dieser Zeit deutscher Not des deutschen Volkes höchstes Gebet.