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Ahnung und Anfang

Als ich drei Jahre alt war, wurde uns noch ein Bruder geboren, und es scheint mir nach allen Erzählungen unserer Hausgenossen, als hätten wir in seltener Eintracht Hand in Hand die Eroberung unsrer Umwelt begonnen, in guten und bösen Werken, so treu und unzertrennlich, wie es mitunter in Märchen beschrieben ist.

Aber es war nicht etwa die Geburt meines jüngsten Bruders, bis zu der als zu einem ersten Licht in grauer Dämmerung meine Erinnerung zurückreicht. An der Schwelle meines Bewußtseins steht der Tod meines Großvaters in Cruttinnen. Ich sehe mich zur Nachtzeit in dem schmalen Schlafzimmer meiner Eltern. Eine Kerze brennt und ihr flackernder Schein fällt auf ein gelbliches Papier. Es ist ein Telegramm, das man aus dem Dorf gebracht hat, und meine Mutter ringt die Hände und weint. Dann wird das Haus geweckt, es wird angespannt, die Eltern und der Knecht fahren ab, und wir bleiben mit dem Mädchen allein.

Dann versinkt wieder alles, und ein paar Tage später erst taucht das Begräbnis aus der Erinnerung auf. Ich glaube, daß es ein schöner Herbsttag ist, sehr blau und warm. Ich sehe einen Saal – für Kinder gibt es ja viele »Säle« – mit vielen Menschen, und in der Mitte steht der Sarg mit dem Toten. Der Deckel ist nach damaliger Sitte noch nicht geschlossen, und ich kann das vertraute und so schrecklich erstarrte Gesicht lange betrachten. Ich begreife nichts. Ich sehe, daß die Menschen weinen, und sehe, daß das Gesicht sich nicht darum kümmert. Ich höre predigen und singen, aber alles dies geht in dem unter, das langsam und unwiderstehlich aus Kränzen, Tränen und Farben emporsteigt, das mich umhüllt und langsam zu erwürgen beginnt: in einem leisen, schrecklich fremden und schrecklich süßlichen Geruch, der aus dem Sarge aufsteigt und sich über mich stürzt. Und dann werde ich ohnmächtig und werde fortgetragen, und lange Zeit ist wieder alles im Dunklen.

Was sehe ich weiter? Wir müssen eine meilenlange Wagenfahrt gemacht haben, zu einer Stadt an einem großen See, und ich sehe über graublauem Wasser einen Vogel fliegen, eine Möwe wahrscheinlich, und das Bild schmaler Schwingen und des lautlos fallenden und steigenden Fluges, von einem zarten Spiegelbild wiederholt, erfüllt mich mit solcher Seligkeit, daß es haftengeblieben ist bis heute.

Ich sehe die Mutter meines Vaters und ein kleines Mädchen, ihr Enkelkind. Es verlangt, daß ich es auf meinen Schultern trage, und ich tue es, wobei das Gefühl der Schande und des Stolzes einander die Waage halten.

Aus diesen für immer im Dunklen verborgenen ersten Jahren hat man mir auch später nicht viel erzählt, und nur eines habe ich aufbewahrt, weil es nicht eine einzelne Betrachtung, sondern bereits die Summe vieler Erfahrungen enthielt. Danach muß ich ein sehr stilles Kind gewesen sein, immer in einem Winkel schweigsam mit mir beschäftigt, und auch wenn Besuch im Hause war, soll ich auf einer Fußbank in der entferntesten Ecke gesessen haben, den Kopf in die Hände gestützt, in Zusehen und Zuhören verloren. Auch die Anwesenheit vieler Kinder soll daran nichts geändert haben. Mitunter aber, ohne erkennbaren Anlaß, sei ich aufgestanden, auf die Fußbank gestiegen, und von dort aus hätte ich dann lange und glühende Reden an die teils verblüffte, teils begeisterte Versammlung gehalten, gleich einem kleinen Prediger, über den plötzlich der Geist Gottes gekommen sei.

Auch das Räumliche meiner Kinderwelt bleibt lange in Dunkel gehüllt, das Haus, der Garten, der Hof, der Wald. Und nur eines taucht am frühesten aus dem Verhüllten: das Feuer im Küchenherd und darüber der riesige »Mantel«. Das war eine Art von Rauchfang, der in der ganzen Größe des Herdes etwa meterhoch über diesem begann und sich langsam zu der Öffnung des Schornsteins verengte. Er war schwarz und glänzend von Ruß und Rauch, und wenn die Flamme einmal höher hinaufschlug, funkelten rote Lichter in seiner feuchten Schwärze, und einzelne Funken stoben hinauf und verschwanden im bereits Überweltlichen.

Dort habe ich wenn nicht die ersten so doch die eindringlichsten Märchen in mich aufgenommen. Immer war das Bild des ersterbenden Feuers etwas Zauberhaftes für mich, und der klagende und singende Laut verglühenden Holzes war mir vom ersten Bewußtsein an der »Gesang des Feuermannes«. Ging aber der Blick darüber hinaus, in den schwarzen Mantelschlund, in dem der Wind mit schauerlicher Klage stöhnte, so hatten die Teufel, Hexen und Zauberer einen kurzen Weg zu meiner zitternden Seele, und ich glaube, daß die Mächte der Unterwelt früh Besitz von mir ergriffen und an meiner Seele geformt haben.

Und noch ein Letztes muß ich aus jener ersten Dämmerung berichten, das seine Erklärung und Bedeutung zwar erst viele Jahre später gefunden hat, von dem ich aber weiß, daß es mich damals bereits mit dem dumpfen Gefühl eines Unrechts oder einer Gewalttat berührt hat. Es war natürlich, daß wir unsre Dienstmädchen sehr liebten. Für mich, der ich in einem ländlichen Leben aufwuchs, gab es ja weder »Angestellte« noch soziale Unterschiede, und das noch unberührte Herz umfaßte mit gleicher Liebe alle Lebewesen, die den Raum des Hauses erfüllten, Menschen und Tiere, Herren und Knechte.

Unter den Dienstmädchen jener Jahre nun ist mir eines in erster und besonderer Erinnerung geblieben, das Lotte hieß und sehr viele Jahre bei uns war. Und nun ist ein Tag im Herbst, und es ist Treibjagd in unsrem Schutzbezirk. Meine Mutter ist krank und in einer Königsberger Klinik – sie hat ihr halbes Leben in Kliniken zugebracht –, und am frühen Morgen versammeln sich Jäger, Hunde, Wagen und Pferde auf unsrem Hof. Da ist ein sehr beleibter und sehr freundlicher Forstaufseher, der ein Waldhorn über der Schulter trägt, und ich weiß, daß die Herrlichkeit dieses herrliches Tages in seinen Händen allein beschlossen ist. Und noch heute sehe ich die Jagdgesellschaft vom Hofe gehen und höre noch heute den unbeschreiblichen Klang des Waldhorns, mit dem das erste Treiben angeblasen wird. Später bricht die Sonne durch den Nebel, ich höre, immer weiter sich entfernend, Schüsse und Signale, und es müßte dieser Tag also als etwas Strahlendes in meiner Erinnerung bewahrt liegen.

Aber das ist nicht so, denn dieser Tag ist von einer dumpfen Unruhe und Ratlosigkeit beschwert. Ich glaube, daß Lotte krank ist, denn ich habe ein verzweifeltes Gesicht vor Augen und ein leises Jammern treppauf und treppab im Ohr. Die Jäger kommen wieder, um die Abendzeit, aber nichts ist fröhlich wie sonst. Sie fahren fort, in das Wirtshaus des nächsten Dorfes, auch das Waldhorn verschwindet, dieses sicherlich aus dem Himmel Stammende und golden Glänzende, und in einem dunklen, traurigen Nebel schließt die Erinnerung des Tages sich zu.

Aber dann kommt meine Mutter wieder, und es ist irgendein Unglück geschehen. Es gibt laute und harte Worte, Tränen und Verstörung, und plötzlich ist Lotte fort. Und auf eine unverständliche Weise geht die Tatsache in mein Bewußtsein über, daß Lotte an dem Abend jenes Tages zwei Kinder geboren hat. Ich kann mir nichts dabei denken, und ich verstehe nur, daß ein von mir geliebter Mensch plötzlich fort ist, unglücklich, verstoßen, ausgelöscht.

Ich könnte sagen, daß hier zum erstenmal die »soziale Frage«, wenn man in diesem Fall so sagen darf, in meinem Leben aufgetreten sei, und es scheint, daß der dumpfe Instinkt des Kindes sie bereits in der gleichen Weise beantwortet hat wie Verstand und Erfahrung späterer Jahre lang nachher; als ich bereits erkannte, worum es sich hier gehandelt hatte, hat dieses Ereignis wie ein Schatten über der Liebe zu meiner Mutter gelegen, weil ich nicht dulden wollte, daß auf den Glanz eine Trübung fiel, in dem ihre Gestalt mir erschien.

Und dieses konnte ich nicht verstehen und verzeihen. Ich dachte ja nicht daran, daß Arbeit und Alltag eine andre Lösung wahrscheinlich gar nicht zuließen. Ich hörte zum erstenmal das Wort »Schande« und sah zum erstenmal, daß die Schande alles auslöschte, was gewesen war, Arbeit und Treue, und daß sie den Betroffenen in Unglück und Elend stieß.

Ich habe Lottes Nachfolgerinnen ebenso liebgehabt wie diese, aber ich weiß, daß ich lange Zeit nachher jeden Abend gebetet habe, sie möchten doch keine Kinder bekommen und mir so wieder entrissen werden. Was dann wohl auch, wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht, nicht mehr eingetreten zu sein scheint.

Erst mit dem Auftreten des »Geistes« beginnt in meiner Erinnerung die mattschimmernde Kette der Begebnisse sich Glied an Glied zusammenzuschließen, das heißt, der Tag, an dem wir mit unsrer ersten Erzieherin zum erstenmal am Schultisch in der Oberstube saßen, ist auch der Beginn meines eigentlich bewußten Lebens. Aber vorher glaube ich noch ein paar traumhafte Erinnerungen erwähnen zu müssen, weil in ihnen mehr als etwas zufällig Bewußtes enthalten ist: meine erste Liebe und meinen ersten Haß, mein erstes Grauen und meine erste Berührung mit der Kunst.

Ich habe viel geliebt als Kind. Meine erste Liebe nun war eine Frau aus jener Familie polnischen Ursprungs, die ich bereits erwähnt habe. Sie war, wenn ich mich richtig erinnere, mit einem Kaufmann verheiratet, ist später ins Reich gezogen und hat ein schweres Leben gehabt. Ich habe sie nur ein oder zweimal gesehen, und zwar im Hause meines Großvaters in Cruttinnen. Sie soll eine sehr schöne Frau gewesen sein, aber ich habe nur ein bleiches, stilles Gesicht in der Erinnerung, mit einer goldenen Kette um den Hals, sehr sanfte Augen, und ich weiß, daß ich sie ganz tief in meiner Seele »marmorn« nannte. Ich hatte niemals ein Stück Marmor gesehen und weiß auf keine Weise, wie ich dazu kam, mich so früh eines altertümlichen poetischen Vergleiches zu bedienen, aber ich weiß, daß ich stundenlang kein Auge von ihr wandte und daß mein Leben für viele Monate in ihrem Dasein beschlossen war.

Vielleicht war es ein natürlicher Ausgleich meiner frühen Liebesfähigkeit, daß auch der Haß schon meine Seele erfüllen konnte, als ich noch gar nicht wußte, was das Wort bedeutete. Zu meiner Kinderzeit lebte der größte Teil der einsamen Dörfer unsrer Landschaft von der Waldarbeit, und es geschah oft um die Abendzeit, wenn wir etwas entfernter vom Hause noch mit unsren Spielen beschäftigt waren, daß die heimkehrenden Waldarbeiter an uns vorüberkamen, von denen wir jeden kannten und die uns immer ein freundliches Wort zuriefen. Unter diesen nun war einer, dessen Namen und Aussehen ich längst vergessen habe, aber der niemals an uns vorüberging, ohne daß er uns etwas Unsauberes an Wort oder Gebärde zuwarf. Es war bemerkenswert, daß wir weder das eine noch das andre verstanden. Da wir mit anderen Kindern keinen Umgang hatten und auch unsre Dienstboten eine natürliche Achtung vor unsrer Unschuld gehabt haben mochten, so wußten wir sehr lange nicht, was gut und böse ist, aber es schien sehr früh ein feines Schamgefühl in uns lebendig zu sein, und wir wußten, vielleicht nur aus dem Gesichtsausdruck eben dieses Waldarbeiters, daß eine unreine Freude ihn dazu trieb, alles Reine zu trüben, das ihm begegnete.

Und gegen diesen Menschen empfand ich meinen ersten Haß, der so weit ging, daß ich ihm den Tod wünschte. Dieser kindliche Wunsch hat über sein Leben keine Macht gehabt, aber ich weiß, daß seine Gestalt lange Zeit wie ein Schatten über unsren Spielen gelegen hat und daß eine ganz tiefe Glückseligkeit uns erfüllte, wenn wir an manchem Abend in der tröstlichen Gewißheit einander ansahen: »Heute hat er nichts gesagt«.

Auch mein erstes Grauen reicht weit zurück, weiter noch als meine erste Erkenntnis des Todes, und doch war es mit diesem verbunden. Es war damals wie überall auf dem Lande üblich, daß die winterlichen Hausschlachtungen von einem Fleischer der Umgegend vorgenommen wurden, und dieses Mannes wie seines blutigen Handwerks erinnere ich mich mit einem dumpfen Gefühl, das ich nicht anders als grauenvoll nennen kann. Es kann nicht allein der Tod eines Tieres gewesen sein, denn niemals hat ein totes Wild, das mein Vater heimbrachte, dieses Gefühl in mir erweckt. Es muß die Zurüstung zum Töten gewesen sein, eben das Handwerksmäßige, und wohl auch der Einbruch des Todes in den friedenvollen Bezirk häuslicher Gemeinschaft, zu der ja auch die Tiere gehörten, was mir den Vorgang nicht als etwas Natürliches, sondern als einen Mord erscheinen ließ.

Aber ich will mich nun zu einer freundlicheren Erinnerung wenden, damit man nicht denke, alles Erste meines Lebens sei in Dunkel und Angst getaucht. Die erste Beseligung durch die Kunst habe ich von der Musik und, etwas später, glaube ich, von der Zeichenkunst erfahren, während die Dichtung erst in mein Leben trat, als mit der ersten Erzieherin auch die ersten Werke der Dichtkunst in unser an Büchern sehr armes Haus kamen.

Es ist mir immer seltsam erschienen, daß der Mensch, aus dessen Flötenspiel ich eine bis zu Tränen reichende Erschütterung gewann, ein schlechter Mensch war. Es war ein Schwager meines Vaters, ein Zollbeamter von der russischen Grenze, verschuldet und dem Trunke ergeben, und ich erinnere mich, daß er später versucht haben muß, meinen Vater zu einem unehrlichen Handel zu bereden, vielleicht zu einer falschen Angabe in einem Erbschaftsstreit, der unsrem Verwandten zu einem unredlichen Gewinn verholfen haben würde. Er hat unser Haus dann, als mein Vater sich weigerte, mit einem tiefen Haß bedacht, und es muß sich ein Prozeß daran geschlossen haben, den mein Vater zuerst gewann und dann verlor und dessen Folgen als ein finsterer Schatten lange über unsrem Hause gelegen haben.

Ob er sehr schön gespielt hat, weiß ich nicht. Aber ich weiß, wie unvergeßlich es war, als er in einer Dämmerstunde zum erstenmal die Flöte in den Händen hielt, ein Instrument, das schon in seinem Äußeren mit dunklem Holz und silbernen Klappen von seligen Geheimnissen erfüllt war. Und als dann die erste Melodie unter seinen Händen geboren wurde und sich aufhob und den ganzen Raum mit ihrer dunklen Schönheit erfüllte, erbebte etwas in mir, das ich bis dahin nicht gekannt hatte und vor dem es eine Rettung nur in dem geben konnte, was ich die ersten »seligen Tränen« nennen möchte.

Ich glaube nicht, daß man mich verstand, ja ich erinnere mich, daß man mich tadelte und verspottete, weil meine träumerische und weiche Art meine Eltern mit früher Sorge erfüllen mochte. Und doch war etwas Großes geschehen: eine neue Welt hatte zum erstenmal ihre Tore vor mir aufgetan, und niemand wußte, daß ich ihr verfallen bleiben würde.

Um etwa die gleiche Zeit ist die Musik noch einmal, und zwar in einer vielfach verstärkten und berauschenderen Form in mein Leben getreten. Es muß damals ein Orchester aus einer entfernten Stadt durch unsre Landschaft gezogen sein und auch in Dörfern, in denen ein Saal vorhanden war, Konzerte gegeben haben. Und wiewohl ich alle mit meinem Leben nur flüchtig verbundenen Namen in kurzer Zeit zu vergessen pflege, so weiß ich doch heute, nach mehr als vierzig Jahren, daß der Leiter dieses Orchesters Poppek hieß. Ein gewiß gänzlich ungenialer Name, doch reichte er aus, um mich in eine Verzauberung ohnegleichen zu ziehen.

Bei diesem Konzert, zu dem meine Eltern mich mitnahmen, erfuhr ich zum erstenmal das Berauschende des Klanges, und auf eine gleich unwiderstehliche Weise muß das Bild der Instrumente auf mich gewirkt haben, die ich in den Pausen auch aus der Nähe sehen durfte. Und wiewohl der Glanz und die zum Teil mir ungeheuerlich erscheinenden Formen der Blasinstrumente mir fast den Atem nahmen; obwohl die bescheidene Gestalt der Flöte nun weit hinter den prächtigeren Gestalten der Klarinetten, Oboen und Fagotts versinken mußte; obwohl die ernste Würde des Cellos und die fast drohende Majestät des Kontrabasses mich mit einem Schauer der Ehrfurcht erfüllten: so erinnere ich mich doch, daß meine glühende und verzauberte Liebe den Geigen gehörte, die auf eine so zärtliche und behutsame Weise an die Brust gedrückt wurden und aus deren Saiten Töne gelockt wurden, die ich noch niemals vernommen hatte, und von denen ich glaubte, daß nur vom Himmel Herabgestiegene sie spielen könnten.

Es ist mir, als hätte ich jahrelang von der Erinnerung an dieses Konzert gelebt, das heißt, daß mein äußeres Leben wohl fortgefahren sei, die alltäglichen Kinderwege zu gehen, aber daß meine Seele sich nur von dem Nachklang dieser Töne genährt und eine unendliche Sehnsucht in mir zurückgelassen hätte. Und daß alle Kunst »Nachahmung der Natur« sei, habe ich dann früh auf eine kindliche Art zu beweisen versucht. Es war natürlich, daß ich mit Tränen und Beschwörungen meine Eltern zu bewegen versuchte, mir eine Geige zu schenken. Aber der Kauf einer Geige wäre für sie wohl dasselbe gewesen wie für mich heute der Kauf eines Ozeandampfers. Und da Kinder und Liebende immer der Meinung sind, ohne bestimmte Dinge nicht weiterleben zu können, so machte ich mich eben daran, mir selbst eine Geige zu bauen. An Zigarrenkisten war kein Mangel in unsrem Hause, und wahrscheinlich hat ein gutmütiger Knecht mir geholfen, den Hals der Geige mit ihrem etwas primitiven Leib zu verbinden. Alles andre gelang meinen eignen Kräften; denn Pferdehaare zu Saiten zusammenzudrehen, war eine geringe Kunst, und unsre alten Kirschbäume waren gern damit einverstanden, daß ihr Harz zur Abwechslung nicht von mir gegessen, sondern, in erhärtetem Zustande, als Kolophonium benutzt wurde.

Ich weiß nicht, wann Stolz, Seligkeit und Zweifel größer gewesen sein mögen, ob in der Stunde, als ich die Handschrift meines ersten Romans beendete, oder in dem Augenblick, als ich meine erste Geige unter das Kinn hob und zum erstenmal den Bogen über die dunklen, geflochtenen Saiten gleiten ließ. Nur die Wirkung auf das Publikum scheint in beiden Fällen nicht den Erwartungen des Schöpfers entsprochen zu haben. Denn kaum hatte ich eine Weile auf der Schlafbank in der Küche gesessen und aus meinem Zauberkasten unvergängliche Melodien hervorgelockt, als unser Mädchen Amalie, das einen besonders vertrauten Platz in meinem Herzen einnahm, von einer natürlichen Erschütterung ergriffen wurde, nur daß diese sich nicht in Tränen, sondern in einem immer zunehmenden Gelächter äußerte.

Zuerst habe ich wahrscheinlich fassungslos den Bogen sinken lassen, dann aber, im Kern meines künstlerischen Wesens getroffen, habe ich es wohl darauf ankommen lassen, ob der Glut meiner Seele nicht gelingen würde, den Widerstand der stumpfen Welt zu besiegen und in die Augen einer ländlichen Dienstmagd dieselben Tränen zu drängen, die die meinigen zu erfüllen begannen. Dann aber, als ihr verruchtes Gelächter nicht aufhören wollte, erfaßte mich zum erstenmal der heilige Zorn des Genies, und ich verdammte sie mit den schwersten Worten, die mir aus der Kenntnis der Bibel zu Gebote standen. Ja, ich erinnere mich, daß ich mehrmals hintereinander ausrief: »Ich verfluche dich!«, wobei sich der Schauder über eine solche Verdammung mit dem trostlosen Schmerz über eine völlige Niederlage meines Wesens auf eine höchst gramvolle Weise vermischte.

Ich habe dann meine Geige genommen und bin in den Wald gegangen. Dort lächelte niemand, dort hielt sich niemand die Ohren zu. Und als ich dann ganz still in den Alltag zurückkehrte, war ich wohl etwas unglücklicher, aber auch etwas bescheidener in meinem Anspruch auf den Kranz unter den Sternen geworden.

Schließlich muß ich, da von der Musik die Rede ist, noch mit Dankbarkeit der »Böhmischen« gedenken, die im Sommer ein- oder zweimal aus den Wäldern auf unsrem Hof auftauchten, drei oder vier Stücke spielten, mit viel Brot und wenig Geld gelohnt wurden und dann wieder in den Wäldern untertauchten, so wie die Engel zu ihren Himmelswohnungen zurückzukehren pflegen. Sie hießen die Böhmischen in alter Erinnerung an Zeiten, in denen die Musik meiner Landschaft nur von kleinen Wanderkapellen jenes musikbegnadeten Volkes vermittelt wurde. Auch zu meiner Kinderzeit gab es noch dunkel und fremd anmutende Gestalten unter diesen Musikanten, aber die meisten stammten wohl aus einer braven Kleinbürgerstadt unsres Vaterlandes, und nur der Name war ihnen geblieben, der Zauber des heimatlos Schweifenden und des Zuhauseseins im Reich der Töne.

Mitunter war ein Mädchen oder eine Frau bei ihnen, die die Harfe spielten, meistens verwitterten wenn nicht verwüsteten Aussehens, aber ich fürchte, daß die unendliche Trauer, mit der ich sie alle wieder in den Wäldern verschwinden sah, nicht nur den Klängen galt, die mit ihnen verstummten und versanken, sondern auch diesem Frauenbild, das für mich wahrscheinlich in einer göttlichen Schönheit leuchtete.

Auf dem Gebiet der »bildenden Kunst« ist meine erste Erinnerung an die Erscheinung des Todes gebunden. Die Frau unsres Oberförsters war in jungen Jahren gestorben, und da er uns Kindern immer mit einer besonderen Freundlichkeit zugeneigt war, so trug ich auch eine tiefere Trauer um sein Leid, als es sonst wohl der Fall gewesen wäre. Die Beerdigung fand an einem kalten und hellen Wintertage statt, meine Eltern waren im Schlitten nach dem Trauerhaus gefahren, und ich sehe mich plötzlich an dem Tisch in unsrer Wohnstube sitzen, eine große doppelseitige Abbildung aus der »Gartenlaube« vor mir, die die Aufbahrung Kaiser Wilhelms des Ersten darstellt, und mich mit Leidenschaft und einer gewiß seligen Hingabe bemühen, auf einen weißen Bogen zu übertragen, was dort als eine düstere und glänzende Verklärung des Todes vor mir stand.

Bei aller Traurigkeit des Tages und auch des gewählten Gegenstandes muß mich doch eine tiefe und ganz reine Beglückung erfüllt haben, ähnlich dem Gefühl dessen, der das Tor zu einem unbekannten Land der Verheißung aufschließt, denn noch heute erinnere ich mich der fast atemlosen Seligkeit, mit der ich mein Blatt sich mit Formen und Gestalten füllen sah. Kein Zweifel, daß ich mein Werk für ebenso vollkommen hielt wie die Vorlage, und kein Zweifel auch, daß mir hier, auf eine kindliche und unbewußte Weise gelang, mich durch die Hingabe an ein Kunstwerk über das Zerstörende der Todeserscheinung hinwegzuretten, ja, aus ihr eine freudige Tröstlichkeit zu gewinnen.

Dies also, alles in allem, ist das erste Bild meiner selbst, das ich aus Dunkelheit und Ahnung herauszuheben vermag. Ein enger Kreis des täglichen Lebens, in dem ein stilles Kind sich still bewegt. Weder Größe der Ereignisse noch der Verhältnisse, noch der Menschen. Eingebettet in die grenzenlosen Wälder, in den Lauf der Jahreszeiten, in die Liebe einer kleinen Gemeinschaft, früh dem Leid und den Träumen hingegeben, früher Erschütterung fähig, fromm und noch sündenlos. Aber alles schon leise beschattet von einer gegenstandslosen Sehnsucht, dem Alltag nicht immer gewachsen, kein Held und kein Eroberer, mehr betrachtend als tätig, früh geneigt, Besonderes zu verklären und vor dem Wirklichen in das Unwirkliche zu flüchten. Noch zwingt ein behütetes Leben nicht zu Entscheidungen, keine Spielgefährten zu tapferer Behauptung, kein Schicksalsschlag zu früher Bewährung. Noch kann die Pflanze wachsen, wie ihr inneres Gesetz befiehlt, und manches treibt schon ins Uferlose, was später in harter Zucht beschnitten werden muß. Aber noch ist dies alles ungewußt und also ohne Schatten, und erst der Beginn der Schule bringt eine fremde Welt an die Grenzen der Kinderwelt heran, stellt Pflicht, Lohn und Strafe vor die verwunderten Augen und öffnet den Blick in ein neues Land, über dem in der Erinnerung eine neue Sonne aufzugehen scheint, der wir entgegengehen, immer schneller und ungeduldiger, und die doch wie die alte Sonne jeden Abend untergeht, ohne daß es gelungen ist, die Hand an ihren glühenden Saum zu legen.


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