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Tante Veronika

Und hier, bevor ich meine erste Kindheit in den Wäldern verlasse, um zu erzählen, wie die »Welt« mich empfing, will ich mit tiefer Dankbarkeit meiner Tante »Veronika« gedenken; denn von allen Menschen außerhalb unsres Hauses hat sie sicherlich den größten Einfluß auf meine Entwicklung gehabt, nicht durch Vorbild oder Erziehung, sondern durch das unmittelbar Wirkende ihres geheimnisvollen Daseins, das mit Aberglauben, Spuk und Märchen bis zum Rande gefüllt war. Sie besaß nicht nur eine Zither, in deren Saiten für mich der Zauberklang des Jenseits rauschte, sie konnte nicht nur die Bibel nahezu auswendig, sondern sie hatte auch die Eigenschaft, am hellen Tag Gestalten zu sehen, die ein gewöhnliches menschliches Auge nicht sah.

Es kam vor, daß wir zusammen bei Neuschnee durch unsre Wälder gingen, und an einer Biegung des Weges konnte sie plötzlich stehen bleiben und mit gedämpfter aber ganz ruhiger Stimme sagen: »Hast du gesehen? Da ging ein Mann über den Weg …« Nein, ich hatte nichts gesehen, aber ich konnte Spuren lesen wie ein alter Jäger, und wenn wir zu der Stelle hinkamen, die sie bezeichnete, war es keine besondere Kunst, zu sehen, daß keine menschliche oder tierische Fährte durch den ungestörten, makellosen Schnee lief. »Sieh hin«, sagte ich, »nichts ist hier gegangen«. Aber sie lächelte nur, ein nachsichtiges Lächeln. »Meine Leute«, sagte sie still, »gehen ohne Spuren über den Schnee …« Und wenn sie sich zur Seite wandte und in die tief verschneiten Wälder hineinblickte, mußte ich glauben, daß sie etwas sah, so von Wahrheit erfüllt waren ihre hellen, glänzenden Augen.

Lange vor der Zeit der »Rückkehr zur Natur« aß sie Haferflockenklopse, und wenn mein Vater rauchte, hob sie ihre Hand und sagte mahnend: »Der Teufel fährt aus deinem Munde!«

Vielleicht war sie nicht ganz der passende Umgang für ein träumerisches, dem Unwirklichen hingegebenes Kind, aber noch heute frage ich mich oft: wäre ich ein Dichter geworden ohne ihre Hand, die zu jeder Stunde mich über die Schwelle führen konnte, hinter der die andere, die unsichtbare Welt begann?

Immer wenn die Fastnacht kommt und da ist und endet, steigt es aus dem Gewesenen empor, das Kinderland in den großen Wäldern. Zur Fastenzeit stehen sie auf, meine guten Toten, die mir Unsterblichen: Tante Veronika mit den blauen ekstatischen Augen, bei der ich alljährlich zur Fastnacht saß … der Kater Immergrün … die schwere Bibel auf ihren Knien … was war es doch, was sie las, damals, als ich ein Kind war? Und ich nehme die Bibel von meinem Bücherbrett und suche … der Prediger Salomo, im dritten Kapitel … da ist sie, die Stelle, die nie vergessene … und ich sehe, wie sie die Brille vor die leuchtenden Augen schiebt und höre, wie sie spricht: »Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde … geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, das gepflanzt ist … würgen und heilen, brechen und bauen, weinen und lachen, klagen und tanzen … Steine zerstreuen und Steine sammeln, herzen und ferne sein vom Herzen …«

Und während ich noch das schwere Buch in den Händen halte, so schwer, als lägen die vierzig Jahre in meinen Händen, die seitdem vergangen sind, stehen sie wieder auf, die großen Worte, die sie in mein Kinderherz hineinsprach, die ich nicht verstand, aber deren Klang so groß und so feierlich war, vom Würgen und vom Heilen, vom Herzen und Fernesein vom Herzen.

Als ich ein Kind war, lebte ich in den großen Wäldern wie ein kleines Tier in seiner Höhle, und kein Fremder klopfte an unser Haus. Der Schnee spann mich ein und die Träume spannen mich ein, und nur bei den großen Wunderfesten stürzte das Licht einer fremden Welt sich in mich hinein. Denn der Weihnachtsmann kam über die Wälder vor unsre Fenster, und am Tag der heiligen drei Könige kamen fremde Kinder aus dem Morgenland mit einem roten Stern, und am Fastnachtabend fuhren wir zu Tante Veronika in die kleine Stadt. Wir fuhren drei Meilen weit durch lautlose Wälder. Man hatte mich in Tücher gewickelt und unter die Pelzdecke gesetzt, und nur meine Augen waren draußen und sahen die dunklen Fichten vorübergleiten, hinter denen der Abendhimmel wie eine Feuerwand brannte. Der Rücken des Kutschers war wie ein Gebirge über mir, und wenn ich leise fragte, ob die Wölfe auf unsrer Spur seien, hob er nur wortlos die Peitsche, daß die Glocken lauter und tapferer klangen, die an den Sielen der Pferde hingen.

So fuhren sie mich ins Märchen, denn Tante Veronika war das Märchen. Meine Eltern setzten mich bei ihr ab und fuhren zum Maskenfest, dem einzigen Fest ihres Jahres. Tante Veronika aber schälte mich aus meinen Tüchern, setzte mich in ihren Sessel, schob die Brille auf ihre Nase und sah mich lange an. »Ein Dichter wirst du werden, Andreas«, sagte sie dann jedesmal bekümmert. »Einen bunten Rock werde ich dir nähen, daß du anders bist als deine Brüder, und daß man dich erkennt, wenn sie dich nach Ägypten verkaufen …«

So geheimnisvoll fing es an, und so war alles andre. Tante Veronika schneiderte für wohlhabende Leute, und auf allen Tischen lagen die bunten Reste der Maskenherrlichkeit. Und auf der Kommode lag die Zither mit den schimmernden Saiten, und der Kater Immergrün, unbeweglich und fremd, saß auf der Ofenbank und träumte mit grünen Augen vor sich hin. Ich wurde gefüttert, als sei ich eben aus Ägypten heimgekehrt, im Ofen brannte das Buchenholzfeuer, hinter den Fenstern rauschte der Übermut der Fastnacht, aber aus der Dämmerung der Ecken traten schon die Zaubergestalten, die Tante Veronika beschwor: Oberon und der Wolf aus den Wäldern, die Schöne mit den sieben Schleiern und der Nachtwächter, der die Haustreppe verzauberte, so daß man nur mit einem Vaterunser über die Stufen kam. Und das Ferne wie das Nahe stand so dicht bei ihr, daß meine Seele erzitterte und in Grauen und Seligkeit verging. »Ist das alles wahr, Tante Veronika?« fragte ich atemlos. »Hast du das alles erlebt?« »Wahr?« erwiderte sie verblüfft. »Ist es nicht wahr, daß ich hier in meinem Sessel sitze? Siehst du, so saß vorgestern der Bürgermeister, den sie vor zwei Jahren begraben haben, an der Friedhofsmauer, als ich vorüberging. Es dämmerte schon, und der Schnee knirschte unter den Sohlen. Er sitzt und schreibt, graues Papier, sehr magere Hände. ›Sie müssen Handschuhe anziehen, Herr Bürgermeister‹, sage ich laut. ›Es sind siebzehn Grad Frost!‹ ›Handschuhe?‹ sagt er. ›Wirst noch ohne Handschuhe mit mir tanzen, Veronika.‹ Und dabei streckt er seine magere Hand nach mir aus. ›Bezahlen Sie erst den Domino‹, sage ich, ›den ich Ihnen vor drei Jahren gemacht habe! Sie sind weggestorben darüber …‹ Und da ist er weg, im Nu, und nur ein kleines Loch ist im Schnee, wie ein Mauseloch … wahr, sagst du? Er saß vor mir wie Immergrün auf seiner Ofenbank …«

So erzählte Tante Veronika. Eine berauschende und betäubende Überredungskraft ging von ihr aus, und nach einer Stunde besprachen wir schon, wie sie mich aus Ägypten holen würde, wenn meine Brüder mich verkauft haben würden. Es gab keinen Zweifel mehr für mich, daß sie die Unterhandlungen bereits begonnen hatten. Und wir beschlossen, daß unser Erkennungswort »Hamulaima« sein sollte. Tante Veronika setzte es mühsam aus alten Zauberbüchern zusammen, schrieb es auf ein weißes Papier und hängte es mir in einem geflochtenen Täschchen um den Hals, denn sie nahm es mit ihren Märchen ernster als mit der Wirklichkeit.

Aber dann, wenn sie den Punsch in die Gläser goß und die Pfannkuchen auf den Tisch trug, mußte sie von den Fastnachtsfesten ihrer Jugend erzählen. Sie strickte an einem langen grauen Strumpf, der von Jahr zu Jahr länger wurde, und von dem ich heimlich glaubte, daß er für den toten Bürgermeister bei siebzehn Grad Frost bestimmt sei. Selbst ihre Stricknadeln hatten etwas Geheimnisvolles, und plötzlich konnte sie eine von ihnen aus der grauen Wolle ziehen, sie hochhalten, den Kopf lauschend zur Seite wenden und leise aber ohne Angst sagen: »Hast du gehört? Der Mann in der Wand hat geklopft … er klopft immer um diese Zeit. Aber ich habe ein Kreuz in den Vorhang gestickt, und er kann nicht heraus … ich glaube, es ist Nebukadnezar …« Ich sah das Kreuz, eine halbe Spanne hoch, mit roter Wolle gestickt, und Tante Veronika erschien mir wie Gott, der Tote auferwecken und den Teufel bändigen kann.

»Ja, die Fastnacht …«, sagte sie. »Da ist soviel unterwegs, siehst du, wovon sie heute nichts wissen. Deine Eltern, nun gut, da fahren sie nun drei Meilen im Schlitten und binden sich eine Maske vor und verkleiden sich als Jäger und Rotkäppchen und tanzen und reden viel und wickeln sich wieder in ihre Pelzdecke und fahren nach Hause. Als ich jung war, vor vierzig Jahren, da gab es keinen Schlitten und keine Pelzdecke für uns. Meine Schwester und ich, wir mußten die Wirtschaft beschicken, die Kühe melken, die Kälber tränken, bis zur Dämmerung. Und dann durften wir gehen. Die Kostüme kamen in einen Wäschekorb, Schuhe, Strümpfe, ein Taschentuch, und was wir brauchten. ›Habt ihr auch die Trompete?‹ fragte mein Vater. Ja, die Trompete hatten wir. Und dann gingen wir los. Zwei Meilen, kleiner Andreas, und der Schnee trieb, daß keine Spur hinter uns blieb. Wir sangen zweistimmig, und nach jedem Lied wechselten wir die Seiten, damit die Hände uns nicht erfroren. Bei langen Liedern ließen wir eine Strophe aus. ›Nun ruhen alle Wälder …‹, das war besonders schlimm. Ich glaube, es hat zwölf Strophen. Drei Stunden gingen wir, kleiner Andreas, und dann tanzten wir die ganze Nacht. Ich war Zigeunerin, und alle jungen Förster ließen sich von mir wahrsagen. Und zurück ging es wieder zu Fuß. Und bevor die Sonne aufgegangen war, mußte schon Feuer im Herd sein, und wir sangen noch, während wir die Kühe molken, nur nicht ›Nun ruhen alle Wälder …‹ Das paßte nicht für den Kuhstall.«

»Und die Trompete?« fragte ich nach einer langen Weile. »Spieltest du in der Kapelle, Tante Veronika?«

Sie ließ die Nadeln ruhen und sah mich an. »Eine Kapelle? Ach, Andreas, in manchen Dingen bist du schon so früh verdorben. Eine Kapelle, sagt er! Wir hatten Musik, aber keine Kapelle. Eine Geige, eine Klarinette und einen Kontrabaß. Mehr werden sie im Himmelssaal auch nicht haben … nein, die Trompete war für die Wölfe«. »Für … Tante Veronika!« »Ja, für die Wölfe. Sie heulten damals in den Wäldern, denn die Winter waren streng, und wenn sie zu nahe kamen, setzten wir den Korb hin, und ich nahm die Trompete und blies. Es muß wohl schlimm geklungen haben, denn sie wagten sich nicht heran. Aber man mußte das Mundstück anwärmen, sonst bekam man die Lippen nicht wieder los … du glaubst es nicht? Komm her … siehst du es nun?« Und ich hielt sie in den Händen, ein erblindetes, verbeultes Instrument, aber der Zauberhauch verschollner Zeiten drang kühl aus dem dunklen Metall in meine Hände, und ich glaubte, dunkle Flecken zu erkennen, das Blut von Wölfen vielleicht oder den Rost von Tränen, die im Wintersturm auf das tröstende Erz gefallen sein mochten.

Und dann legte Tante Veronika die Zither auf den Tisch, und ihre zarten und zerstochenen Finger spielten die Gavotte ihrer Jugendzeit, und aus den zitternden, leise klirrenden Tönen stieg die Welt der Wunder vor meinen Augen wieder auf. »Hamulaima …«, flüsterten meine Lippen, und meine Hand legte sich verstohlen auf das geflochtene Täschchen unter meinem Rock, in dem das Zauberwort sich verbarg. Und dann sang Tante Veronika mit ihrer dünnen, gleichsam seidenen Stimme die Arie aus dem »Oberon«: »O Hüon, mein Gatte …« Und das Feuer erstarb im Ofen, und der Frost schrie im Eise auf dem See. Und wenn ich schon auf der Ofenbank lag und der Raum mit tausend Gestalten sich erfüllte, schlug Tante Veronika die schwere Bibel auf und suchte den Prediger Salomo, das dritte Kapitel, und las die feierlichen Verse, die ich nicht verstand: »Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde: Steine zerstreuen und Steine sammeln, herzen und ferne sein vom Herzen …« Und eine süße Traurigkeit floß aus den alten Versen über mich hin und bedeckte mich und lag wie ein dunkles Wasser über meinen sinkenden Augen.

Bis man mich wieder einhüllte, in schwere Tücher, und unter die Pelzdecke legte, wo eine Steinkruke mit heißem Wasser stand. »Vergiß es nicht!« flüsterte Tante Veronika am Schlitten. »Wenn sie dich verkauft haben … nach Ägypten … Hamulaima …«

 

Gute alte Tante Veronika! Vierzig Jahre später nahm das »Feierabendheim« unsrer Kreisstadt dich für deine letzten Jahre auf, und immer zu Weihnachten schickte ich dir eine Kleinigkeit, daß du dich meiner erinnertest und ein paar Kerzen mehr auf deiner Tanne brennen konnten. Du hattest keine Schätze erworben, denn deine Finger konnten wohl die Blätter der Bibel umwenden und die Zither spielen, aber Rechnungen schreiben konnten sie nicht. Auch dort, unter den Müden und Verbrauchten des Lebens, warst du immer noch ein strahlendes und tröstendes Licht, der Weisheit und der Gesichte voll, und in keinem deiner Neujahrsbriefe vergaßest du, mich zu fragen, wie ich es nun mit dem Heiland hielte. In vielen Städten habe ich deine Geschichte vorgelesen, bis ich sie auswendig konnte, aber niemals ist sie mir alt und abgebraucht geklungen, und immer sind mir die Tränen nahe gewesen, wenn ich die Bibelworte sprach und in der lautlosen Stille des Saales nicht meine, sondern deine Stimme vernahm.

So habe ich dir ein Stück Unsterblichkeit gewonnen, lange bevor diejenige dir zuteil wurde, auf die du gewartet und an die du so selbstverständlich geglaubt hast wie an das Evangelium.


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