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Aber ich vergesse eines, während ich mich der Erinnerung an diese trüben Jahre hingebe: daß dies alles ja nicht mein Leben war. Daß ich zwar dort sein mußte, in Schule, Pension und Stadt, daß ich lärmte und mich verleugnete, aber daß mein Herz zu allem diesem klopfte, wie es zu unsrem Atmen klopft, fast unbewußt und fast außer uns. Denn dieses war ja nicht meine Heimat. Ich konnte vieles verleugnen, aber nicht meinen Ursprung. Und wenn auch die Schule oder die Kirche mich nicht davor bewahren konnte, mitzulärmen in der Rotte, so haben die Wälder mich doch davor bewahrt, unterzugehen in ihr und in ihr mich zu Hause zu fühlen. Das Schicksal hat mir in allen jenen Jahren etwas Großes geschenkt: daß ich viermal im Jahr mich reinwaschen konnte von dem Schmutz, mit dem das Leben mich nicht verschonte.
Denn mit dem Augenblick, in dem der dunkle und ernste Streifen unsrer Wälder am Horizont erschien, war das andre alles versunken, ausgelöscht und nie gewesen. Ich kehrte heim, als sei ich niemals fortgewesen. Ich fand mich wieder, das Kind, wie ich es verlassen hatte. Es fragte nichts, es machte keine Vorwürfe, es dachte an keine Zukunft. Es wartete nur, wie im Märchen gewartet wird, still und ohne Frage, und nahm mich wieder bei der Hand, und bei dieser Berührung war alles, wie es immer gewesen war.
Ja, mehr war mir Heimat als der Ort, an dem ich aufgewachsen war. Als ein Heimatloser hätte ich verlorengehen können, weil ich ohne Wurzeln hätte wachsen müssen. Nun aber, auch wenn ich die Augen der Eltern hätte vermeiden wollen, konnte ich vor diesen ernsten großen Augen nicht ausweichen. Ich mußte fliehen oder mich reinigen. Es ist nicht nur ein von den Pantheisten gebrauchtes Bild, daß der Wald eine Form Gottes sei. Und wenn ich das Gedicht der Kinderzeit vergessen hatte, daß Gottes Augen überall seien, hier war es wieder da. Es gab keine Lüge im Wald, keine Eitelkeit, keinen Lärm. Ich war ein Kind damals, aber manchmal hob ich die Arme auf wie der Jäger Michael. So groß war die Heimat, die mich wieder umfing.
Damals war die neue Bahn gerade fertig geworden, die von der Hauptstadt bis in die Johannisburger Heide lief, und immer zu Ferienanfang war ein halber Wagen der vierten Klasse mit den »Waldleuten« gefüllt, die heimkehrten. Wir hatten einen Reisekorb, wie die Dienstmädchen ihn noch heute haben, und manchmal einen Kopfkissenbezug mit gebrauchter Wäsche, und manchmal noch einen Pappkarton dazu. Wir waren nicht sehr vornehm.
Auch waren die Wagen vierter Klasse nicht sehr luxuriös damals. Wer kein Geld hatte, galt nicht viel im alten Vaterland. Sie waren nicht viel anders eingerichtet als Viehwagen, das heißt, sie hatten viel Platz. In einer Ecke stand ein eiserner Ofen, den wir im Winter heizen durften, und die Fahrgäste saßen auf Körben und Bündeln, und manchmal lagen sie auch auf der harten Erde. Meistens fuhren wandernde Musikanten für eine Stunde mit, die in zerrissenen Hüten sammelten, und wenn Markt in einer Stadt gewesen war, so lagen versteckt in den Ecken graue Säcke, die sich bewegten, denn auch die Ferkel, die man gekauft hatte, machten die Reise mit.
In den ersten Jahren war dies alles sehr aufregend. Zuerst mußte der Gepäckträger pünktlich in die Pension kommen, ein alter, einäugiger Mann, der mitunter, auf seiner Karre sitzend, den »Faust« las. Wenn er nun nicht käme, so würden wir den Zug versäumen und ein ganzer Tag würde verlorengehen. Er kam immer zur Zeit, aber ich hatte viele Schmerzen zu leiden, bis er wirklich da war. Und dann kam die Fahrt mit der Pferdebahn und der Fahrkartenkauf und die ungeheure Frage, ob wir auch den richtigen Bahnsteig und den richtigen Zug erreichen würden. Aber schließlich waren wir doch alle zusammen, zehn oder zwölf aus den großen Wäldern, und die Lokomotive flog wirklich nicht in die Luft, und wir verloren die Fahrkarten nicht, und niemand stahl den Reisekorb.
Und dann saß mein Vater wirklich im Wagen, weil die Pferde immer unruhig waren bei dem Teufelswerk, das auf Schienen ging, und winkte uns. Zuerst war es noch ein schöner gelber Jagdwagen mit zwei Pferden, und dann wurde es ein Einspänner, weil wir unsre Landwirtschaft verkleinerten. Und mir ist in der Erinnerung, als sei auch mein Vater immer müder und gebeugter geworden, nicht so sehr beim Empfang als vielmehr beim Abschied, wenn er uns wieder zur Bahn brachte. Wahrscheinlich ist das eine Täuschung, aber der innigste Teil meiner Liebe zu meinem Vater ist an dieses Bild gebunden, wie er vom Wagen uns zuwinkt oder, mehr noch, wie das Fuhrwerk mit ihm wieder verschwindet, auf der schmalen Straße, den Wäldern zu, indes der Zug noch rangiert und wir ihm nachblicken können. Es gibt keine Zärtlichkeit zwischen uns, dazu sind wir alle zu scheu, aber ich glaube, daß auch seine Augen von heimlichen Tränen verdunkelt werden, wie er nun wieder heimfährt, in die große Einsamkeit, und für ein Vierteljahr ist alles wieder zu Ende.
Viel später erst habe ich begriffen, was meine Eltern geopfert haben, um mich das werden zu lassen, was ich geworden bin. Auf wieviel sie verzichteten, in wievielem sie sich beschränkten, ja, wie sie Not litten, damit ich nicht in Not zu sein brauchte. Und wie bitter es war, Geld zu verlangen, ja überhaupt vom Gelde zu sprechen. Denn wir verachteten es, weil es unser unwürdiger Herr war. Wir streuten es aus, wenn wir es besaßen, und wenn wir keines besaßen, so fügten wir uns ingrimmig dem Zwang, es beschaffen zu müssen. Aber wir hatten nicht viel Gelegenheit, es auszustreuen.
Ja, die Ferien aller dieser Jahre und noch weit darüber hinaus stehen wie ein Paradies in meiner Erinnerung, ein wiedergewonnenes, das ja um vieles kostbarer war als das nie verlorene. Ich kann es nicht beschreiben, wie es war, wenn wir in den hohen Kiefernwald einfuhren, wenn der erste Raubvogelschrei über die Wipfel fiel, unser Roggenfeld in der Sonne wogte, das rote Dach hinter der Esche erschien. Vielleicht war es im Kriege so, als ich zum erstenmal in der Morgenfrühe aus Rußland über die Grenze kam und am Memelstrom schlugen tausend Nachtigallen; vielleicht ist es so, daß nur die Musik das darzustellen vermag, wenn eine Dissonanz sich löst und aus dem zerrissenen Abgrund hebt eine Cellomelodie sich ruhig und ihrer Ewigkeit gewiß immer leuchtender in die Höhe. Dann vermag das Herz noch ebenso zu erbeben wie damals, wenn die Heimat sich aufhob und ich am ersten Abend am Waldrand stand und das großartige Schweigen der ländlichen Erde sich bis zu den Sternen hob.
Und dann kehrte ich zurück in den alten Kreislauf vergangenen Lebens, zu den adligen Berufen, die der einfache Mensch sich noch bewahrt hat, zu denen des Hirten, des Fischers, des Jägers. Lächerlich und ganz und gar zu verachten war der Ehrgeiz eines städtischen Lebens, die Rangordnung, das Zeugnis, der kümmerliche Kranz des geistigen Ruhmes. Die Flöte, das Netz, die Büchse waren die Dinge, die Gott geschaffen hatte, und ihnen gab ich mich wieder mit aller Leidenschaft hin, die ein zärtliches Herz für die erste Geliebte empfindet.
Zwar war das Amt des Hirten von allen erwähnten das am wenigsten geliebte, weil es neben seiner Freiheit und Größe am meisten mit Sorge belud. Aber wenn unser Hütejunge zum Konfirmandenunterricht ging, was er zweimal in der Woche tun mußte, und wozu er den ganzen Tag brauchte, denn der Weg zum Pfarrer betrug zwei Meilen hin und zwei Meilen zurück, so fiel sein Amt auf uns, und manchmal war es ein tränenvolles Amt. Wir hatten eine große Viehherde, manchmal bis zu fünfzehn Stück, und immer war ein böser Stier dabei. Und auch wenn er nach damaligem Brauch ein Brett vor der Stirn trug, so fiel ihm doch manchmal ein, die Erde mit den Vorderhufen zu bearbeiten, unter dumpfem Gebrüll, das gleich dem eines Teufels klang, der nach gebratener Speise verlangt.
Und außerdem besaßen wir das Recht der Waldweide, ein sehr kostbares Recht, weil der Milchertrag davon abhing und von diesem ein Teil unsres Lebens in der Stadt. Aber der Wald war groß, und erst wenn man bei Sonnenaufgang auszog, einen Stock in der Hand, einen Sack mit Brot über der Schulter, erkannte man erzitternden Herzens, wie ungeheuer groß er war. Und an schwülen Tagen hob eine Wolke von Bremsen und Stechfliegen sich aus den feuchten Brüchen und stürzte sich auf die Herde. Dann begann es immer so, daß endlich die erste Kuh den Schwanz hob und mit einem Schmerzensgebrüll davonstürmte, und nach dem ostpreußischen Sprichwort: »Wenn eine Kuh den Zagel hebt, so heben sie ihn alle«, ist leicht vorzustellen, wie ich weinend und voller Verzweiflung kilometerweit die Abtrünnige verfolgen mußte, und wie es manchmal damit endete, daß ich allein und verlassen dastand, wie das Männlein im Walde, aber nicht »still und stumm«, und Kühe, Hirtenamt und Wald verfluchte. Und kam ich dann manchmal nach Hause geschlichen, ohne Herde, ein pflichtvergessener Hirte, so konnte es sein, daß die Tiere, klüger als ihr Wächter, schon friedlich an dem Tränktrog neben der Pumpe standen, und somit war die ganze Tragödie umsonst gewesen.
Und doch hat auch dies wohl seinen Anteil an dem »Haushalt meiner Natur« gehabt. Nicht nur war das frühe Amt ein guter Erzieher, sondern an solchen Tagen tat das Geheimnis des Waldes sich auch tiefer auf als sonst. Nicht nur die Horste der Raubvögel und die Wechsel des Wildes, die Stille, in der das Harz zu Boden tropfte, die große und gestaltlose Sehnsucht, die mich überfiel, wenn über dem Hochwald der hohe Himmel stand und zwischen den Stämmen lautlos das zurückwich, was ich niemals erreichte.
Gut war es mir, barfuß meinen Lebensweg zu beginnen und die Kühe zu hüten. Weil ich in der Stille anfing, konnte ich dem Lauten nie ganz verfallen. Weil ich als Kind die Wälder schweigen und wachsen sah, konnte ich immer ein stilles Lächeln für das aufgeregte Treiben haben, mit dem die Menschen ihre vergänglichen Häuser bauten. Es war, als trüge ich andre Gesetze und Maßstäbe in mir, größere und strengere. Ich konnte nie mehr ganz aus dem Kreis der Natur herausfallen, und immer hielt ein letztes Band mich noch am Willen der Schöpfung fest, wenn auch rings um mich die Menschen schon längst vergessen hatten, daß auch sie Geschöpfe und nicht Schöpfer waren und an ihren babylonischen Türmen bauten, als sei es ihnen und nur ihnen allein vorbehalten, die Achse der Welt in sich zu tragen.
War dieses adlige Amt also mit einigen Schmerzen verbunden, so war das des Fischers wohl ab und zu mit Sorgen beladen, aber in meiner Erinnerung steht es als ein schöner Anfang aller Männlichkeit, der Selbständigkeit und einer ganz reinen Verbundenheit mit der Natur. Ich habe schon erzählt, daß der bei unsrer Försterei gelegene See uns vom Forstfiskus in Pacht gegeben war, und bald war ich von meinem Vater und einem alten Fischer so weit erzogen, daß der Fischfang mir allein übertragen wurde. Der See war nicht groß, kaum tausend Meter in der Länge, mit verschilften und sumpfigen Rändern und moorigem, krautbewachsenem Grund. Aber er war sehr fischreich, und neben alten Hechten und minderwertigen Weißfischen besaß er als Kostbarkeit eine nie abnehmende Menge von Schleien, die durch ihren Wohlgeschmack in der ganzen Gegend berühmt waren.
Wir hatten etwa zwanzig Paar Reusen und ein paar feinmaschige Stellnetze, die quer vor die verschilften Buchten gelegt wurden. Am späten Nachmittag machte ich mich dann auf, barfuß, mit einem alten Mantel, der von getrocknetem Schlamm und Fischschuppen starrte. Die Netze mußten sehr sorgfältig zusammengelegt und im Flachkahn untergebracht werden, und dann kam es darauf an, an jedem Abend die Stellen mit dem Gefühl zu erkennen, die eine gute Beute versprachen. Es war vieles dabei zu bedenken: die Windrichtung, die Witterung, die aufsteigenden Luftblasen, die anzeigten, daß ein großer Fisch soeben im Kraut verschwunden war, und vieles andere. Aber das meiste hing von einer Art von Instinkt ab, von dunklem, vererbtem Wissen, wie ja auch der Fischadler nicht jeden Tag dasselbe Jagdgebiet hatte.
Am Morgen war ich dann bei Sonnenaufgang schon am See. Über dem schwarzen Wasser standen bewegungslos die Stangen, mit denen die Reusen am Grunde befestigt waren. Lautlos mußte der Kahn, ohne seine Schatten auf die Netze zu werfen, an die Stangen herangleiten. Stiegen dann Blasen aus dem Grunde auf und rührten die Stangen sich leise, so war es ein gutes Zeichen, und jedesmal war der Griff nach der Reuse von Herzklopfen begleitet. Hatte in der Nacht ein Gewitter über der Landschaft gestanden, so war die reichste Beute zu erwarten, weil die Fische, unruhig, die ganze Nacht gewandert waren. Dann waren die Netze so gefüllt, daß man sie kaum in den Kahn heben konnte, und einmal habe ich unter bitteren Tränen erlebt, daß das Garn unter dem Gewicht des Fanges riß und die ganze Last wieder in der Tiefe verschwand.
Manchmal tobte ein armlanger Hecht im Netz, der mit aller Vorsicht geborgen werden mußte, manchmal hob ich eine Schildkröte empor, und ab und zu ein Wasserhuhn, ertrunken, das ein Opfer seiner Raubgier geworden.
Immer schwerer wurde der Kahn, denn die Fische mußten in der mittleren Abteilung des Bootes vom Wasser bedeckt liegen, damit sie nicht starben, und die nassen Netze drückten den Kahn immer tiefer hinein. Kam dann Wind auf, so war es eine harte Arbeit, vom Ende des Sees heimzukommen, und nachdem die Hechte und Schleie im Fischkasten untergebracht waren, der im tiefen Wasser schwamm, begann erst die schwerste Arbeit, das Aufspannen der Netze zum Trocknen. Ging es dabei mit den Reusen nicht allzu schwer, so verlangten die Stellnetze jeden Morgen eine neue Probe aller meiner Fertigkeiten. Da sie dreimaschig waren, ein feines Gewebe, das auf beiden Seiten ein gröberes und weiteres Garn hatte, und da in ihnen sich fast nur Hechte und Barse fingen, wilde und stachlige Gesellen, so hing fast jeder Fisch in einer fast unlöslichen Wirrnis der Fäden, die hundertmal durcheinandergeschlungen waren und mit unendlicher Geduld auseinandergelöst werden mußten, ohne daß eine Masche des teuren Netzes zerrissen werden durfte. Und lernte ich dabei auch sehr früh auf eine gotteslästerliche Weise fluchen, wie es eben zu solchen männlichen Berufen gehört, so lernte ich auch eine frühe Geduld und Gewissenhaftigkeit, die mir mit der Mühe nicht zu teuer bezahlt schien.
Auch bei diesem Handwerk fehlte es nicht an Schicksalsschlägen. So wenn jemand aus dem Wilddiebsdorf in der Nacht den Fischkasten leerte oder wenn nach einem schweren nächtlichen Gewitter zwei Zentner Schleie im Fischkasten gestorben waren und vergraben werden mußten. Dann half eben keine Träne des Zornes oder der Enttäuschung, sondern es mußte wieder von vorn angefangen werden.
Doch trug die Fischerei ihren Zauber nicht nur in sich allein, sondern sie war verbunden mit dem Zauber jagdlicher Abenteuer und einer herrlichen Einsamkeit, in der ich früh auf mich allein gestellt war, und in der Auge, Ohr und Hand eine andere Bedeutung hatten als in der Schule.
So wie ich mit sieben oder acht Jahren zu rauchen begonnen hatte, sehr heimlich und mit unvergeßlichen Folgen, so hatte ich auch um dieselbe Zeit zu schießen begonnen, und eine strenge Ausbildung hatte mich in allen Dingen der Jagd früh dahin gebracht, daß mein Vater auf diese meine Fähigkeiten wahrscheinlich stolzer war als auf meine guten Schulzeugnisse. Damals konnte ich auf hundertfünfzig Meter einen Haubentaucher mit der Kugel schießen, konnte Wildenten, Sperber und Tauben aus dem Fluge herunterholen, und noch viel später, als ich in Frankreich die Scharfschützen der Division mit dem Zielfernrohr ausbildete, stand neben mir nicht die Gestalt irgendeines Kommandeurs, sondern die meines Vaters, der Lob und Tadel still, aber mit unvergeßlicher Wirkung austeilte.
Der See aber war für mich dasselbe, was Amerika für die ersten Trapper war. Nur mußte man bescheiden im Vergleichen sein, und daran fehlte es mir nicht. Damals waren seine Ufer noch mit alten Erlen bestanden, ehe ein reicher Mühlenbesitzer die Ufer pachtete, sie in Wiesen zu verwandeln versuchte und alle Bäume herunterschlagen ließ, der erste Einbruch sinnloser »Zivilisation«, den ich in meiner Heimat erlebte. Und während im Schilf Wildenten, Taucher und Fischreiher hausten, ab und zu sogar eine Rohrdommel, waren die alten Bäume und Grenzpfähle der Standort der Raubvögel, denen nach einem ungeschriebenen Gesetz der See und seine Ufer als Jagdgebiet gehörten: Bussarde, Hühnerhabichte, Gabelweihen, Rohrweihen und, als die Krönung des Ganzen, der königliche Fischadler.
Dieser Vogel hat in meinen damaligen Tagen und Träumen eine besondere Rolle gespielt. Er horstete weitab in den Wäldern, die den andern uns gehörigen See umgaben, und ein paarmal am Tage kam er herüber, um aus diesem seinem zweiten Jagdgebiet seine Beute zu holen. Vielleicht sind an sein herrliches Bild meine ersten kaum bewußten Dichterträume geknüpft, denn oft, wenn ich in den Schonungen jenseits des kleinen Dorfes war, sah ich ihn von unsrem See zu seinem unbekannten Horstbaum fliegen, himmelhoch, aber doch war die Beute in seinen Fängen noch zu erkennen. Und dort, wo ich stand, ließ er immer seinen Schrei über die unendlichen Wipfel zu mir herunterfallen. Einen klagenden, einsamen und mich auf eine unbeschreibliche Weise ergreifenden Schrei. Dann starrte ich ihm nach, solange ich das Bild seiner schmalen riesigen Schwingen erkennen konnte, und eine unendliche Sehnsucht ergriff mich, das auf irgendeine Weise zu sagen, zu singen, mir vom Herzen zu lösen.
Und vielleicht war es deshalb gut, daß ich diesen Adler niemals geschossen habe. Nach keiner Beute hat mich in meinem Leben leidenschaftlicher verlangt als nach ihm. Jedesmal hörte mein Herzschlag auf, wenn in unendlicher Höhe der Adler plötzlich seine Flügel anzog und in fast senkrechtem Sturze auf den Fisch hinabstieß, den er gesehen hatte. Wie ein weißfunkelnder Blitz schoß er hernieder, eine Schaumwolke brauste auf, und langsam, schwer und majestätisch hoben sich seine Schwingen aus ihr auf, während in seinen Fängen der riesige Fisch sich noch wand, den er geschlagen hatte. Jedesmal zielte meine Büchse nach der Stelle, an der er wieder auftauchen mußte, und jedesmal ließ ich sie wieder sinken, vielleicht weil ich fürchtete, ihn zu fehlen, vielleicht, weil ich fürchtete, ihn zu treffen. Auch seinen Horst habe ich nie entdeckt, und so ist er in meiner Erinnerung das Stolzeste und Unerreichbarste geblieben, das meine Heimat besaß und das sie auf eine gütige Weise mir vorenthielt, damit die Hand nicht entweihte, was nur der Seele gehören sollte.
Ja, ein großer Jäger war ich damals, und selten wohl war der Wald so sehr einem Kinde Haus und Hof wie mir. Moore lagen in ihm, deren fremdartige Namen schon etwas Lockendes und Verzauberndes für mich hatten: die Padolisken, die Jeschurkobrücher, der Jektscharek, das Baranij Bjell. Zum Teil waren sie unbetretbar, immer kleiner wurden die Kiefern und Birken an ihrem Rand, und in ihrer Mitte stand Schilf und hohes Riedgras um unbewegliche Wasserblänken. Kraniche brüteten dort, und manchmal nahm ich heimlich zwei Bretter von Hause mit, um auf ihnen, Schritt vor Schritt, in die schwankende Welt vorzudringen, die so viel Geheimnisvolles hinter dem Festen der Erde verbarg. Aber dann zitterte der Boden unter meinem Fuß, die niedrigen Sträucher bewegten sich, Wasser stieg dumpf und drohend zwischen den Halmen in die Höhe, und niemals gelang es mir, zu meinem Heil wahrscheinlich, in das Unbetretbare vorzudringen. Aber so getreulich hat die Seele das alles bewahrt, daß ich bei dem Versuch, das Land des Totenvogels in der »Majorin« zu beschreiben, nur die Augen zu schließen brauchte, um das alles wieder aufsteigen zu lassen: den bitteren Geruch der Sumpfpflanzen, die schweigende Öde, das bang und verzaubert schlagende Herz.
Auch die Horste des Hühnerhabichts und der Gabelweihe lagen dort, und Tag um Tag saß ich verborgen am Moorrand, bis ein glücklicher Schuß den Vogel vor meine Füße warf. Damals kannte ich weder Müdigkeit noch Zeit und Verdruß. Und der Abend eines solchen Tages sah mich schon wieder im Schilf des Sees, bis zu den Knien im Sumpfwasser, um auf die ziehenden Wildenten zu warten. Rein und gesund war der Schlaf nach solchem Handwerk, indes der Kauz in den Fichten des Gartens schrie und die Wiesenschnarre den ganzen Kreis der Erde mit ihrem eintönigen Ruf erfüllte, bis vor Sonnenaufgang der Kuckuck oder der Wiedehopf mich weckten. So mag ich nicht unähnlich den Menschen einfacher Völker gelebt haben, mit allen Sinnen den Erscheinungen hingegeben, fern aller Spekulation, und auch bei ihnen mag aus einer Stimme ihrer Landschaft der leise Schauer durch ihr Herz frösteln, der auch mich bewegte und der keine Angst, sondern nur die Ahnung war, daß hinter der Erscheinung noch etwas anderes stehen müßte und hinter dem Glück der Tat noch ein zweites Glück, das unerkennbar war, aber von dem es mitunter herwehte wie von der unbeschrittenen Tiefe des Moores.
Auch war es nicht der Sommer allein, der mich so verzaubernd umfing. Denn da ich als Fremdgebliebener aus den Städten kam, so war ich jeder Jahreszeit geöffnet, und der Schrei der Wildgans oder der Kranichruf, der im Frühling und Herbst über unsre Felder ging, war nicht geringer als der Falkenschrei, der über den Sommerwäldern stand. Und waren die Straßen tief verschneit, so baute ich Marderfallen im Wald und ging den Fährten nach, und manchmal stand ich damals schon um die Zeit des Abendrots auf den Lichtungen der bewaldeten Hügel und blickte lange nach Westen, wo hinter den Wäldern eine fremde Welt begann, und wußte nicht, weshalb auf das Glück der kindlichen Tage ein Schatten fiel, weshalb es so schmerzte, in den brennenden Himmel zu sehen, weshalb bei aller Fülle das Herz so bitter leer war und die Träne immer so nahe. Wußte es nicht, weil ich nicht wissen konnte, daß schon eine ferne Stimme mir rief, als ich am glücklichsten war; daß ich unter meinen ersten Versen schon erzitterte, lange bevor ich wußte, was ein Vers ist; und daß die Sonne mir schon schmerzlich unterging, als doch eben erst mein Leben begann …
Und wieder fühle ich, wie vergeblich es ist, dies alles beschreiben zu wollen. »Die Wälder rauschen …« Wieviel müßte gesagt werden, damit diese Überschrift Wahrheit würde, und wie wenig kann ich doch dazu sagen. Und es fällt mir ein, daß es vielleicht besser wäre, statt dessen von dem Kranich zu erzählen, den ich besaß, den ich wie einen Bruder liebte und vielleicht mehr als einen solchen. Und daß aus der Erinnerung an ihn das Bild meines Lebens klarer sich erhebt als aus allen Überschriften und dem, was man zu ihnen sagen kann.
Ein Waldarbeiter hatte ihn gefangen, am Rand der Moore, von denen ich erzählt habe. Er war nicht höher als meine Hand, als ich ihn bekam, und ebenso groß wie ich, als ich ihn wieder verlor. Er lebte in unsrem Garten, und auch im Garten Eden konnten Mensch und Tier nicht zärtlicher zueinander gewesen sein als wir beide. Jeden Morgen und Abend brachte ich ihm kleine Fische vom See, und er nahm seine Speise aus meiner Hand. Wir erwachten, wenn die Sonne aufging, und begrüßten einander, wie zwei Geliebte einander begrüßen. Scheint nicht der Lauf jener Tage und jener Liebe mir wie der Lauf eines goldenen Rades? Wir legten die Hände spielend in seine Speichen, und leuchtend rollte es vom Aufgang zum Niedergang. Ich rief nach meinem Vogel, und mit ausgebreiteten Schwingen kam er zu meinen Knien. Ich ging vom Hof, und er stand am Zaun und klagte seine Einsamkeit. Ich kam wieder, und seine herrlichen blaugrauen Schwingen schienen mich umarmen zu wollen.
Aber um die Mittagsstunde waren wir der großen Einheit am nächsten. Ich lag auf dem Rasen und rief nach ihm. Er kam und blieb zu meinen Füßen stehen. Er spielte mit meinen Schuhen, meinen Knöpfen, meinen Händen. Und dann trat er zwischen meinen linken Arm und meine Brust. Er blickte sich noch einmal um, mit seinen wundervollen Augen, denen nichts entging. Dann ließ er sich in die Knie sinken. Noch einmal hob sich sein schlanker Hals, als liege er auf dem Moor und müsse nach seinen Feinden sehen. Dann legte er sich nieder, so daß sein Leib zwischen meinem Arm und meinem Herzen lag, und verbarg seinen Kopf an meiner Brust. Ein leise träumender Ton kam unaufhörlich aus seiner Kehle, unsäglich geborgen und glückselig. Meine Hand strich über sein bläuliches Gefieder wie über die Wange eines Kindes. Sein Auge öffnete sich noch zuweilen und blickte mich an, und dann schliefen wir ein, während die Bienen über uns summten und der Pirol vom Walde rief.
Mir aber ist, als wäre ich dem Herzen Gottes niemals näher gewesen als in den Stunden, in denen meine Hand über das Gefieder des Kranichs glitt, und er an meinem Herzen lag, als hätte dieselbe Mutter uns geboren.
Als ich im nächsten Sommer wiederkam, war der Kranich nicht mehr da. Man sagte mir, er sei verkauft worden, in den Tiergarten einer großen Stadt, und sicherlich war es geschehen, um Geld für mich zu verdienen. Ich verstand das nicht. Ich verstand nur, daß er fort war und daß Garten, Feld und Wald leer waren ohne ihn.