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»Jule« und andere Gefährten

Ich mußte früh schon erfahren, daß, wer seinen Fuß in eine neue Welt setzt, auf eine zwingendere Weise genötigt ist, sich seinen Gefährten anzuschließen oder gar anheimzugeben als derjenige, der im gewohnten Kreise seine Schritte machen darf.

Nun waren wir in der Fremde schon deshalb nicht ganz allein, weil ein paar Jungen aus unsrer Landschaft dieselbe Schule und zum Teil dieselbe Klasse besuchten. Von ihnen war der eine als der Sohn eines benachbarten Forstaufsehers uns wohlbekannt, und er ist mir, obwohl er die Schule früh verließ, lange durch eine mit vielen fremdartigen Briefmarken beklebte Karte aus Iquique im Gedächtnis geblieben. Er hat eine schwere Jugend als Schiffsjunge gehabt, ist dann Kapitän eines großen Überseedampfers geworden und somit eine seltene Erscheinung unserer Waldlandschaft gewesen.

Die anderen, drei Brüder, waren noch tiefer als wir in der Johannisburger Heide zu Hause, auf einem Gut. Der Älteste ertrank eines Sommers in den großen Ferien, und die beiden andern sind mir allmählich aus Leben und Gedächtnis verschollen, wie es uns ja mit den meisten Mitschülern zu ergehen pflegt.

Doch bewahre ich eine deutliche, wenn auch nicht allzu freundliche Erinnerung an die beiden Jungen, die mit uns dieselbe Pension und in den ersten Jahren sogar das gleiche Zimmer teilten. Auch sie waren im weiteren Sinne »Landsleute«, denn der eine war ein Lehrerssohn aus der Lycker Gegend und hieß mit Beinamen »Iltis«, was sowohl von seiner verschlagenen Gemütsart als auch von dem Duft herrührte, der ihn zu begleiten pflegte. Der andere stammte aus dem Südwesten der Provinz, aus einer kleinen Stadt, und wurde »Jule« genannt wegen der altjüngferlichen und leise angesäuerten Art seiner Bewegungen, seiner Sprechweise und seiner gesamten äußerlichen wie innerlichen Erscheinung.

Beide waren in der mir vertrauten Welt fremdartige und bis dahin unbekannte Wesen. Sie stammten aus Verhältnissen, in denen sie durch Umgang mit vielen anderen Kindern das Ursprüngliche eigenen Daseins bereits verloren hatten und in denen sie auf eine uns gefährliche Art bereits »abgeschliffen« worden waren, und obwohl sie beide wahrscheinlich rechtschaffene Eltern hatten, so ruhten sie doch in ihnen und in ihrer Welt nicht mehr ausschließlich wie wir, sondern hatten früh ein eigenes und gleichsam heimliches Dasein gewonnen, in dem sie sich in einer rattenhaften Art zudringlich und furchtlos bewegten.

Der »Iltis« Genannte besuchte eine Realschule und stand auf der Stufenleiter des Geistes also noch tief unter uns, was er durch ungeheuerliche Erzählungen von der Vollkommenheit seiner Lehrer und Mitschüler, des Lehrplans, der Leistungen und so weiter wettzumachen suchte. Auch pflegte er anzuerkennen, daß die Förster dicht an die soziale Ebene heranreichten, auf der sich die Volksschullehrer bewegten, und wenn sie auch deren geistige Gründlichkeit und Beweglichkeit nie zu erreichen vermöchten, so hätten sie doch dafür den Vorteil, sich in einem freieren Dienstverhältnis und in gesünderer Luft bewegen zu dürfen.

Versuchte er so mit Freundlichkeit den sozialen Abgrund, der nach seiner Meinung zwischen unsren Elternhäusern klaffte, großherzig zu überbrücken, so zeigte er sich auch auf anderen kindlichen Gebieten zur Nachgiebigkeit bereit. Auch bei uns wurden wie bei primitiven Völkern die Leistungen des Geistes nicht übermäßig hoch geschätzt, sondern auf den Klassen von Sexta bis etwa Untersekunda war die wichtigste Frage die, wer der »Stärkste« sei. Während aber bei normaler Veranlagung diese Frage bald auf eine praktische Weise beantwortet und entschieden wird, ließ unser Freund Iltis bei seiner diplomatischen Lebenseinstellung dieses Problem offen, soweit es seine und meine Person betraf, das heißt, er wich dem natürlichen Zweikampf aus und verbreitete sich statt dessen in homerischen Reden über den seltenen Fall, daß zwei Jungen so unerhört gleich stark seien wie wir, und wenn es einmal zum Kampf zwischen uns käme, pflegte er zu sagen, so würde bei diesem unglaublichen Gleichmaß der Kräfte wahrscheinlich »das ganze Haus in Trümmer gehen«, ehe ein Teil den Sieg erränge.

Mitunter heilte mein Bruder ihn durch eine wohlverdiente Tracht Prügel von der Illusion, das »Gleichmaß der Kräfte« beziehe sich nicht nur auf uns beide, und mitunter benutzten wir seine ungeheure Prahlsucht, um ihn durch die »Kellerjugend« unsrer nicht sehr vornehmen Straße etwas dämpfen zu lassen. Da er als Tertianer bereits einen Rock mit Schößen trug, was er entweder seinem hohen Selbstgefühl oder den Schneiderkünsten einer Tante verdankte, so bot seine aus solchen Kämpfen fliehende Erscheinung dann ein sehr heiteres Bild, und die siegreiche Straßenjugend pflegte seine Flucht dann mit dem Hohngeschrei zu begleiten: »Kiek mal, wie de Scheeskes fleige!«

Nach dem frühen Tod seiner Mutter heiratete sein Vater noch einmal, und beide Eltern haben dann ein schreckliches Ende gefunden, indem aus nie ganz geklärtem Anlaß die Stiefmutter seinen Vater erschoß und sich dann selbst vergiftete. Er selbst aber hat das Gesetz erfüllt, nach dem er angetreten. Er verließ die Schule mit dem »Einjährigen«, versuchte es mit dem Postdienst, wurde aber bald wegen irgendwelcher Unregelmäßigkeiten entlassen. Dann fand er eine Zeitlang ein Unterkommen bei einer angesehenen ostpreußischen Zeitung, und aus seinen Erzählungen ging hervor, daß er mit dem Chefredakteur die Zeitung eigentlich leitete. Dann glitt er in die Versicherungs-»Branche« hinab, und dann ist er verschollen. Vielleicht hat der Krieg ihm noch eine gnädige Gelegenheit gegeben, ein vertanes Leben mit einem anständigen Tode zu schließen. Und so würde die große Gerechtigkeit des Lebens das Beste getan haben, was zu tun ihr immer möglich ist: das Mißlungene unter den Acker zu pflügen, in der Hoffnung, es könnte auf diese Weise wenigstens in dem unbestechlichen Haushalt der Natur noch einmal verwendet werden.

Lernte ich also in diesem Gefährten schon eine mir fremde Menschenart früh kennen und sogar erkennen, so erweiterte der andere, »Jule« genannt, diese Kenntnis nach einer andern Seite. Jule stammte aus einem kleinen Kaufladen einer kleinen Stadt, und das emsig Bewegliche, sich Anschmiegende und vorsichtig Abwartende seiner Bewegungen wie seiner ganzen Seelenhaltung mag aus dieser Atmosphäre ein wenig erklärt werden können. Er war klein, hager und schwächlich, mit sehr langen Armen, und es ist mir unvergeßlich, wie er bei nicht mehr zu vermeidenden Kämpfen den Knöchel seines Mittelfingers aus der geballten rechten Faust hervorstehen ließ, um mit ihm seine »Bauch- und Nierenschläge« wirksamer zu machen, in denen er durch seine Affenarme Meister war, und mit denen er also eine besondere Eigenschaft seines Körpers schnell und praktisch zu benutzen wußte.

Er hatte ohne Zweifel Ähnlichkeit mit einer Ratte, und auch von einem Anteil an der Bösartigkeit und schmutzigen Giftigkeit dieser Tiergattung kann ich ihn leider nicht freisprechen. Denn es muß schon gesagt werden, daß wir alle ihm viel Schweres in unsrem jungen Leben zu verdanken hatten. War er doch derjenige, dem bestimmt war, unsre Reinheit zu zerstören und uns auch aus dem Paradiese zu vertreiben, das uns nach dem Verlust unsrer Waldheimat noch geblieben war, dem Paradies der Unschuld.

Zwar waren wir in einem ländlichen Leben aufgewachsen und somit nicht unbekannt mit den Erscheinungen, mit denen die Natur für die Erhaltung ihrer Art zu sorgen pflegt. Doch war das Geheimnis und der Sinn der Vorgänge uns immer verborgen geblieben, da niemand sich für berechtigt oder verpflichtet hielt, den Schleier mit weiser Hand vor uns aufzuheben. Es galten ja zu den Zeiten meiner Kindheit alle diese Dinge für böse und schmutzig, und jedermann weiß, wieviel Leid dem heranwachsenden Geschlecht daraus erwachsen ist, daß man die Augen mit beiden Händen zumachte, in der unklaren Hoffnung, das Leben werde »zu seiner Zeit« schon für das Nötige sorgen.

Es ist mir in der Erinnerung, als hätte Jule mit Ungeduld nur darauf gewartet, sein Wissen auf eine hastige, heimliche und schmutzige Weise unsrem Kreise mitteilen zu können. Und sicherlich war nicht die »Erkenntnis«, die er vermittelte, das Verstörende und das ganze Weltbild jäh Verändernde und Zerreißende, sondern die Art, in der er sie vermittelte. Denn das »Begrinsen« der Geheimnisse war für uns das Schlimmste, was das Schicksal uns bereiten konnte. Das Geheimnis hätte uns ja auch als etwas Heiliges enthüllt werden können, das es ja in Wirklichkeit war, und aus einer neuen und unerhörten Erkenntnis hätten wir ohne Scham den Weg in den Alltag zurückfinden können. So aber stürzten wir in einen Abgrund von Scham, und der Zerstörer unsres Paradieses unterließ nicht, uns in einem unzerreißbaren Netz von Mitschuldigkeit zu verstricken, uns mit immer neuen Enthüllungen weiter zu locken und so allmählich alle Gründe erzittern zu lassen, auf denen unser junges Dasein ruhte.

Ach, wie vieles brach zusammen und ging für immer verloren! Und am schmerzlichsten war der Verlust der heiligen Unbefangenheit, mit der wir auf Menschen und Dinge geblickt hatten. Nun war es nicht mehr dasselbe, wenn wir unsrer Mutter vom Leben in der Stadt erzählten, wenn wir ein Mädchen ansahen, wenn wir abends unser Gebet sprachen. Der Spiegel war getrübt, der in den Märchen anzeigt, daß der fern Wandernde gesund und treuen Herzens ist, und keine Macht des Himmels und der Erde war imstande, das Zerstörte zu heilen.

Als ein sehr empfindsames Kind habe ich auch diesen Sündenfall wohl auf eine schmerzlichere Weise erleben müssen als andere Kinder, und so bitterlich bewegte ich das Ganze in meinem Herzen, daß die Schatten dieser Zeit lange mein Leben verdunkelt haben. Und als dann später, wie ja nicht zu vermeiden war, alles an das Tageslicht kam, habe ich keine Hand gehabt, die sich schützend und verstehend über mich legte, sondern nach der Sitte jener Zeit verdeckte man das eigene Unrecht damit, daß man ein Wehegeschrei über alle Beteiligten erhob und die ohnehin Verstörten nun vollends in einen Abgrund der Scham und Sünde stürzte. Ja, mit Bitterkeit habe ich lange Zeit derer gedacht, die damals mein Leben leiteten. Sie glaubten, recht zu handeln, und kein Vorwurf soll sie mehr treffen, aber Jahrzehnte hat es mich gekostet, um die Zerstörung meines Selbstgefühls und meines Vertrauens wieder zu heilen, die ich damals erfahren habe.

Nach ein oder zwei Jahren verschwand also Jule aus unsrem Kreise, wahrscheinlich, um an einer andern Stelle für das Licht der Wahrheit zu kämpfen, und ich erinnere mich, daß seine Mutter ihn voller Empörung aus unsrer Pension führte, nicht etwa voller Empörung über die zweifelhafte Frucht, die sie der Welt geschenkt hatte, sondern über uns und unsre Angehörigen, die es wagten, ein Kind für Unreines verantwortlich zu machen, das doch schon durch seinen zarten Beinamen seine mädchenhafte Reinheit bewies.


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