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Auch wenn es in der Erinnerung schwer zu sagen ist, wann mein Erwachen zu einem bewußten geistigen Leben beginnt, das heißt zu einem solchen, das nicht fremd und untergeordnet neben meinem Waldleben steht, sondern gleichgeordnet und sich mit ihm verflechtend, so glaube ich doch, daß mit dem Beginn der »Oberstufe« auf der Schule eine neue und entscheidende Entwicklung bei mir ihren Anfang nimmt. Wahrscheinlich ließ ich damals ohne viel Widerstand alles Äußerliche meines Lebensweges mit mir geschehen, und nachdem mein brennender Wunsch, Förster zu werden, an dem unbeugsamen Widerstand meines Vaters gescheitert war, werde ich wohl mit erträglich guter Haltung in meinen neuen Lebensabschnitt geschritten sein.
An seiner Schwelle stehen zwei Ereignisse, die gleich der letzten Dünung eines trüben Meeres anzeigen, daß der erste Sturm zu Ende ist und eine neue Fahrt beginnen soll. Das eine ist die gänzlich mißglückte Flucht meines Bruders nach Afrika, das andre ist meine Konfirmation. Und beide sind in der Erinnerung mit einigen Schmerzen verknüpft.
Mein Bruder, der während der ersten Schulzeit seinen Platz getreulich neben mir gehabt hatte, war allmählich in der äußeren Rangordnung der Klasse immer tiefer geglitten. Ich kann heute nicht mehr sagen, welches die Ursachen dazu gewesen sind. Wahrscheinlich war es so, daß er einen andern Weg in die bunte Vielheit des Lebens einzuschlagen begann, indes ich immer noch glaubte, unsre Wege müßten dieselben bleiben, und es müßte aus derselben Wurzel auch derselbe Stamm wachsen und ungeteilt für alle Zeiten bleiben. Aber da das innerliche Erbteil, das wir von unsrer Mutter empfangen hatten, bei mir sicherlich größer war als bei ihm, so fiel es mir wohl auch ohne mein Zutun leichter, bei einer Aufgabe ernst und gewissenhaft zu verweilen, während die Lockungen des heiteren Lebens zu ihm allmählich immer stärker sprachen. Und mit derselben fröhlichen Schnelligkeit, mit der er einst die erste Frage des »Löwen« beantwortet hatte, erwiderte er auch später die Fragen, die das tägliche Leben an uns richtete, wie er im ganzen dem tätigen und unspekulativen Dasein zugeneigter und auch geöffneter war als ich. Und so teilte und verschob sich langsam unsre ursprüngliche Gemeinsamkeit, indem er im Spiel, im Kampf, im Abenteuer das ihm gemäße Feld zu finden begann, indes bei mir sich langsam die Vereinsamung und Versponnenheit einstellte, die den »Betrachtenden« im Gegensatz zum »Handelnden« kennzeichnet.
Dazu kam, daß bei meinem Bruder sich allmählich das Leiden verstärkte, das in der Bibel eine »schwere Zunge« genannt wird, zumal wenn Unsicherheit und Erregung ihn erfüllten, und da die Lehrer unsrer Zeit nicht immer so zartfühlend waren, das zu achten und zu schonen, sondern im Gegenteil sich bei entsprechender Laune darüber lustig machten, so wurden die Antworten meines Bruders in den Schulstunden immer spärlicher, und die wahrhaft olympische Schweigsamkeit, die ihn heute auszeichnet, begann damals ihren Anfang zu nehmen.
Wenig verstand man in damaliger Zeit von den innerlichen Leiden eines Kindes, und auch zu Hause fragte man wenig nach den wahren Ursachen seiner immer schlechter werdenden Zeugnisse. Die erstarrten Kategorien »Aufmerksamkeit« und »Fleiß« dienten trägen und unwissenden Erziehern dazu, mit diesen Prädikaten alles zu erklären, was man nicht verstand und was zu verstehen man sich auch keine Mühe gab. Und da die höhere Schule auf dem Lande eine unbegrenzte Achtung genoß, so sahen auch meine Eltern nur mangelnden guten Willen, wo doch so viel verborgene Schmerzen hätten erkannt werden müssen. Und da der Begriff der Strafe in unsren einfachen Lebenskreisen eine verhängnisvolle Rolle spielte, so glaubte man mit ihr am einfachsten zu erreichen, was erreicht werden sollte: den Wiederaufstieg eines in Unordnung gekommenen Lebenslaufes.
Noch heute erinnere ich mich mit Schmerzen des letzten Sommers, der der Flucht meines Bruders voraufging, und nicht ohne Scham meiner eigenen Haltung dabei. So wie man früher ein ungezogenes Kind damit »bestrafte«, daß man ihm das Abendbrot entzog oder es bei der Weihnachtsbescherung leer ausgehen ließ, so wurde mein Bruder damit bestraft, daß man ihn von allen den zahlreichen und großen Freuden unsres Waldlebens ausschloß. Er durfte keine Flinte führen, keine Entenjagd mitmachen, an unsren Spielen nicht teilnehmen, unser Leben gleichsam nur aus der Ferne betrachten. Wenn man mit ihm sprach, so geschah es nur mit einem kühlen Abstand. Wenn er etwas bat oder wünschte, so erinnerte man ihn mit einer schmerzenden Bemerkung daran, daß er wohl vergessen habe, was er Böses getan, und daß er doch eigentlich ein Mensch untergeordneten Ranges sei.
Und ich, statt an seiner Seite zu stehen und die Freuden zurückzuweisen, die ihm entzogen und mir infolgedessen doppelt reichlich zugemessen wurden, ließ ihn im Stich, sprach und tat nichts zu seinen Gunsten, nahm, was man mir gab und was mir doch kaum zur Hälfte gehörte, und sonnte mich in der elterlichen Gunst, zwar mit einem Gefühl des Unrechts und der Scham, aber doch ohne die Kraft, der Verlockung zu widerstehen.
Noch heute sehe ich meinen Bruder am Gartenzaun stehen, von Büschen gedeckt, und stumm über die Felder und Wälder blicken, die ihm nicht mehr gehörten. Noch heute sehe ich ihn auf den Waldwegen uns von ferne begegnen, die wir andern fröhlich gingen, und bei unsrem Anblick sich zur Seite wenden wie ein Wild und im Buschwerk verschwinden. Er trug sein Leid ohne Anklage und ohne Tränen, mit einer musterhaften Tapferkeit, und es zeugt von der Güte seines Wesens, daß er damals nicht ein böses Kind wurde, sondern es uns nicht nachtrug, was wir alle ihm antaten. Doch rührt aus jenen Zeiten die beispiellose Verschlossenheit seines Inneren, die ihn noch heute auszeichnet, unter der er selbst am bittersten leidet, aber die zu überwinden ihm nicht mehr möglich ist. Es ist wie ein Bruch in seinem Wesen, den man nicht sorgfältig genug geschient hat. Es ist alles wieder geheilt, aber das aufmerksame Auge erkennt ein kaum wahrnehmbares Gebrechen, und keine Kunst kann es mehr beseitigen.
In jenen Wochen wird in meinem Bruder der Plan gereift sein, den er zu Beginn des nächsten Winters auszuführen versuchte: diesem Leid, dem er auf die Dauer nicht gewachsen war, sich durch die Flucht zu entziehen. Damals bewegte der Burenkrieg auch die kindlichen Gemüter und sie vielleicht am leidenschaftlichsten, weil das Gefühl für Gerechtigkeit in ihnen am wenigsten entstellt war. Die Gewalt, wiewohl von Kindern mitunter angewendet, bedrückte sie doch mit einem Gefühl der Scham, ja des Grauens, und auch damals wurde ein Volk im Namen »christlicher Kultur« zur Rechenschaft gezogen, das heißt, seine Männer wurden getötet, seine Frauen und Kinder durch Hunger ermordet, und diesem Volk zu helfen, schien meinem Bruder nicht nur eine Pflicht der Tapferkeit, sondern auch ein Weg, den das Schicksal ihm zeigte, um ihn aus seinen Schmerzen zu führen und uns zu beweisen, daß der Kranz des Ruhmes auch um die Stirn geflochten werden könne, die nicht imstande oder willens war, die Weisheit der Schulen aufzunehmen.
Zweierlei hielt mein Bruder für ausreichend zu der Fahrt in den Krieg, Ruhm und Heldentod: eine Fahrkarte vierter Klasse nach Berlin und einen Revolver für drei Mark, dessen Trommel sich am nächsten Tage schon nur mit Mühe bewegen ließ. Ich habe ihn noch, und man wird verstehen, daß ich ihn nicht ohne Rührung betrachten kann und daß ein eindringlicherer Glanz mir aus seinem leise rostenden Metall aufzusteigen scheint als aus allen vollkommenen Gewehren oder Pistolen, die ich besitze.
Ich hatte von allen heimlichen Vorbereitungen nichts bemerkt, aber ich weiß noch wohl, wie trübe, nebelverhangen und trostlos der Novemberabend war, an dem mein Bruder mir mit verschlossenem Gesicht mitteilte, es liege in seinem Schrank ein Zettel für mich, aber ich sei verpflichtet, ihn nicht vor dem nächsten Morgen zu lesen. Das schärfte er mir mehrmals ein, und dann nickte er mir zu und ging aus dem Hause. Er trug einen langen grünen Mantel damals, von einem so besonderen und auffallenden Grün, daß es der Polizei seine Auffindung wahrscheinlich sehr erleichterte.
Ich blieb in einem unbeschreiblichen Zustand zurück. Es ahnte mir, daß etwas Verhängnisvolles sich vorbereitete. Die ganze Last meiner Schuld warf sich plötzlich über mich, und als der Gedanke, daß mein Bruder sich ein Leid antun könnte, mich mit einer schrecklichen Gewalt überfiel, vergaß ich mein Versprechen und öffnete den Schrank. Da lag der Zettel, aus einem Schulheft gerissen, und auf ihm stand zu lesen: » I go to Africa. Never say!«
O selige Kinderzeit, in der man noch die Unbefangenheit besitzt, solche Wendungen seines Schicksals in schlechtem Englisch so lakonisch auszudrücken! Vor meinen Augen aber standen diese Worte wie ein Gericht, und so heldenhaft sie mir schienen, so wußte ich doch, daß kein Mensch sein Schicksal für sich allein herumträgt, sondern daß es verflochten ist mit vielen anderen und daß es in diesem Fall viele Schmerzen für meine Eltern bedeutete.
Doch schien es mir unehrenhaft, Alarm zu schlagen und so ein Heldentum gleichsam schon in der Knospe zu knicken. Machte mich also in aller Eile zum Bahnhof auf, um dort meinen Bruder vielleicht noch zu finden. Nun muß man wissen, wie ein Bahnhof in unsrer östlichen Landschaft an einem nebligen Novemberabend aussieht und wie insbesondere der unsrer Hauptstadt damals beschaffen war. Ich glaube, daß der Eingang zum Totenreich, wenn man alte Vorstellungen auf unsre Zeit übertragen wollte, so aussehen müßte: graue Mauern, von Ruß bedeckt, in Finsternis ertrinkende Bögen, ein Geruch aus Nässe, Kohle und Abfällen, graue Schatten, die hin und her wandern oder vor schmutzigen Maueranschlägen wie eingeschlafen stehen, der feucht blinkende Helm eines Polizisten, und darüber, von Strahlenkränzen umschleiert, die großen Bogenlampen, deren leichenhaftes Licht von Zeit zu Zeit knisternd aufflammt, um dann wieder zu fahler Mattigkeit zu ersterben.
Dort also, verborgen hinter einem Pfeiler und mit abweisendem Gesicht, fand ich nach einigem Suchen meinen Bruder. Er machte eine kurze und harte Bemerkung über meinen Wortbruch, aber seine Augen waren schon über mich hinaus auf einen andern Erdteil gerichtet, und auch seine Worte waren schon fremd und widerwillig, als lohne es nicht mehr, der Enttäuschung über das zurückbleibende Heimatland Ausdruck zu geben. Ich begann ihn zu bitten, doch von seinem Vorhaben abzulassen, ja ich beschwor ihn, doch an den Kummer zu denken, den er bereiten würde, und an die vielen Hindernisse, die es ihm unmöglich machen würden, sein Ziel zu erreichen.
Er hörte mich wohl, aber er schüttelte nur den Kopf. Er mag wohl gedacht haben, daß es klüger von uns allen gewesen wäre, dies früher zu bedenken, und daß auch wir nun den Lohn für unsre Härte empfangen könnten. Sicherlich aber hat diese letzte Begegnung vor seiner Fahrt das mühsam errichtete Gebäude seiner Pläne schon erschüttert und die Unbedingtheit seiner Kraft schon am Anfang gebrochen. Vor der schwersten Entscheidung seines Lebens hatte diese letzte Mahnung ihn wohl schon zurückgeworfen und ihm wieder aus den Händen gerissen, was er mit so viel Schmerzen in einsamen Nächten errungen hatte: die schlafwandlerische Sicherheit eines Entschlusses.
Schon damals fühlte ich, daß ich derjenige war, der die schwerste Last auf die Schultern des Fliehenden legte, und obwohl ich in meiner Not schließlich damit drohte, ihn sofort von der Polizei verhaften zu lassen, genügte doch ein Blick meines Bruders und seine Bemerkung, daß auch das ihn nicht verwundern würde, um mich verstummen zu lassen. Er nickte mir dann zu und verschwand unter den anderen Schatten, die durch die Türen sich zum Bahnsteig drängten. Und ich blieb allein, verstört in meiner Seele, in jenem furchtbaren Zwiespalt, wenn wir gleichzeitig schuldig und unschuldig sind und keine Hand uns den Weg zeigen kann, der uns hinaus führt über beides.
Ich schwieg in der Pension. Es schien mir wohl selbstverständlich, daß ich meinem Bruder wenigstens den Vorsprung einer Nacht geben müßte. Aber während aller schlaflosen Stunden hörte ich die Räder seines Zuges rollen und sah ihn, in eine dunkle Ecke des Wagens gedrückt, in seinem grünen Mantel, in dessen Tasche seine Hand wohl um den Griff des Revolvers geklammert war.
Am nächsten Morgen mußte es dann gesagt werden. Die damalige Zeit war ja besonders schreckhaft für alles, was aus dem Geleise springen wollte, bereit, herauszubrechen und den ganzen Bau der kleinen Welt der Ordnung zu zertrümmern. Und so war auch dies in erster Linie »Schande«, in der Pension, der Schule, bei den Verwandten, im Elternhaus. Ob jemand erkannte, daß die »Schuld« in ganz anderen Händen lag, weiß ich nicht, kann es aber nicht glauben.
Es ging wie immer in solchen Fällen. Ein paar Telegramme und eine Meldung bei der Kriminalpolizei. Und am Abend dieses Tages hatten sie meinen Bruder schon in Berlin gefunden. Alle seine Kenntnis der Gesammelten Werke von Karl May und Sherlock Holmes hatte nicht vermocht, ihn bedenken zu lassen, daß ein sehr langer und sehr grüner Mantel doch wohl nicht das geeignete Kriegskleid war, um heimlich, von Feinden umgeben, nach Afrika zu gelangen. Mein Vater holte ihn ab und alles war auf eine graue und nüchterne Weise zu Ende: Flucht, Afrika, Krieg und Heldentum.
Mein Bruder kehrte nicht mehr auf die Schule zurück. Der »Löwe« war gestorben, und ein neuer Direktor war eingezogen, ein gütiger und väterlicher Mensch. Aber trotzdem wurde mein Bruder von der Schule verwiesen, wegen »gröblicher Mißachtung der Schulzucht«. Niemand fragte ihn, niemand ließ ihn sich verteidigen. Er war unwürdig geworden, einer Gemeinschaft anzugehören, die in vielen Mitgliedern schmutzig und unehrenhaft war, aber die doch nicht auf den Gedanken kam, nach Afrika zu gehen, ohne sich vorher beim Ordinarius Urlaub zu erbitten.
Mein Bruder blieb dann für etwa anderthalb Jahre zu Hause. Er zeichnete die Bilder aller Verwandten, derer er habhaft werden konnte, und baute Marderfallen. Niemals sprach er mit einem Wort von seiner Flucht und ihren Einzelheiten. Seine innere Welt blieb verschlossen für jedermann, obwohl meine Eltern ängstlich vermieden, ihn seine »Schande« fühlen zu lassen. Dann ging er für vier Jahre zur Feldartillerie, wo er ein schweres Leben gehabt hat. Zartheit war nicht die Sache der Armee, und seine Seele war nicht dafür geschaffen, in diesem harten Hause eine Heimat zu finden.
Ich aber war verwaist. Ich hieß nicht mehr »Wiechert der Zweite«, wie man so schön damals auf der Schule sagte. Ich war ein Einzelwesen geworden, ein Mensch für mich allein. Auch in der Pension war es still geworden. Iltis und Jule waren verschwunden, ein später Zugekommener war gestorben. Ich war der einzige »Überlebende« aus der Tafelrunde, die mit Kümmelschnaps das Leben hatte erobern wollen. Ich fühlte die Würde dessen, der in einem Fremdenheim zuoberst an der Tafel sitzt. Gäste kommen und gehen. Er aber ist halb ein Kind und halb eine Stütze des Hauses. Er gehört zur Familie, und wenn er geht, wird die ganze kleine Welt auseinanderfallen.
Wie verbringe ich meine Tage? Stiller ist das Leben geworden, und bitterer brennt das Heimweh, wenn mein Bruder schreibt, daß er an einem Tage zwei Marder gefangen habe. Ich lese viel, ich lese immerzu. Die Welt ist heller in allen Büchern als in meiner Stube, die auf eine kümmerliche Gartenecke und eine ausgestorbene Straße geht. Und es hilft auch nichts, daß die Straße nach dem großen Pädagogen Herbart benannt ist. Ihre Bürgersteigplatten sind wie seine »Formalstufen«, und selten verirrt das Leben sich auf ihre Steine.
Ein- oder zweimal in der Woche sitze ich abends bei meinem Onkel. Ich darf eine Zigarre rauchen und bekomme einen Krug Bier. Mein Onkel, müde und verbraucht von hartem Dienst, liest die Zeitung, und ab und zu äußert er seine Anschauung über das Leben, mitunter durch ein lateinisches Zitat, das er selbst übersetzen muß. Er meint es gut mit mir, und ich habe ihm für vieles dankbar zu sein. Aber er will mich auch in die »Welt« einführen, und das möchte ich lieber nicht. Am Sonnabend oder Sonntag treffen meine Verwandten sich mit befreundeten Familien und machen einen »Ausflug«. Oder die »Melodia« hat ein Stiftungsfest, oder wir besuchen ein Varietétheater. Man behandelt mich mit der ironischen Freundlichkeit, die man damals gegen Halberwachsene anzuwenden liebte. Die Theaternummern und auch die Unterhaltung sind nicht immer für meine Ohren geeignet. Dann sieht man mich von der Seite an, oder ich muß den Kellner holen. Ich habe keine Freude an diesen Stunden, den Menschen, die ich kennenlerne, den Gesprächen, die geführt werden. Ich bin jung, aber es ist mir, als sei ich innerlich schon weiter, auf dem Wege in ein Land, das diese niemals erblicken werden. (Und als der Arzt, der ein Jahr vor dieser Zeit eine Nasenoperation an mir ausführt, mich fragt, ob ich auch so berühmt werden würde wie mein Namensvetter, der Verfasser der »Litauischen Geschichten«, antworte ich ohne Zögern: »Ich hoffe, noch mehr!«)
Dann muß ich an solchen Abenden noch jemanden nach Hause bringen, ein ältliches Fräulein oder einen, der nicht mehr ganz sicher auf den Beinen ist, und dann gehe ich durch die leeren Straßen nach meiner Pension. Der Abend freut mich nicht und der nächste Tag auch nicht. Ich sehe meinen Wald, wie er schweigend und unermeßlich unter den Sternen liegt, und es scheint mir, als ob man es mit meinem Leben nicht ganz richtig angefangen habe.
Um diese Zeit beginne ich zum Konfirmandenunterricht zu gehen, zu einem alten Konsistorialrat, der nett und behaglich ist und der mit der Stimme »heult«, wie meine Pensionsmutter sagt, wenn er eindringlich sein will. Wir sitzen in zwei getrennten Abteilungen, Volksschüler und »höhere« Schüler, denn auch in der Kirche gibt es damals den Unterschied zwischen Gebildeten und Ungebildeten. Der eiserne Ofen glüht, der Geruch des Raumes ist unbeschreiblich, und wir schlafen oder lesen oder machen Dummheiten. Der Pfarrer ist da, aber Gott ist fern. Wir lernen Bibelsprüche und bekommen einen dünnen Aufguß bürgerlicher Moral. Alles ist fremd, gleichgültig, unwirklich. Nichts rührt an unser Herz, nichts läßt unsre Augen brennen, in dem leidenschaftlichen Wunsch, gut und edel zu werden wie die, von denen man uns erzählt.
Ja, wie halte ich es damals mit der Religion? Ich bin ein gläubiges Kind gewesen, so fromm, wie nur ein Kind sein kann, und nun ist das vorbei. Ich bin noch nicht ungläubig, aber ich bin auf der Seufzerbrücke, die zwischen Glauben und Unglauben sich düster spannt. Wie ist es gekommen? Ich weiß es nicht. Es wäre leicht, die andern verantwortlich zu machen, die Stadt, die Schule, die Gefährten. Aber etwas in mir muß dem entgegengekommen sein, sonst würde ich mich ja bewahrt haben. Es lag wohl daran, daß ich nicht mehr in meiner Heimat ruhte, daß ich neue Wurzeln hatte treiben müssen, daß ich nicht mehr in der Einheit war. Vielleicht war es ein Wandel, dem alle unterliegen, außer denen, die niemals aus ihrem Kreise zu gehen brauchen. Vielleicht war es notwendig und somit gut, aber das Notwendige war bitter. Auch hier habe ich keine Führer gehabt, und als ich dann bald darauf der Philosophie verfiel, war es für lange Zeit mit der Gläubigkeit vorbei. Dazu stießen alle Dogmen mich ab, und die Gläubigkeit, die ich später langsam wiedergewann, war eine andere, als die Kirche sie verlangte.
Meines Einsegnungstages erinnere ich mich nur mit einem dumpfen Grauen. Es lag nicht allein daran, daß wir Schüler »besserer Kreise« im schwarzen Gehrock vor den Tisch des Herrn treten mußten. Wer das nicht konnte, war geächtet, und die Kirche, ahnungslos in der Bewertung scheinbar kleiner Dinge, ahnte auch hier nicht, mit wieviel Sorgen aus diesem Grunde dieser Tag in vielen »besseren« Häusern beladen wurde, mit wieviel frühem Neid und Haß in den Häusern des »niederen Volkes«. Nein, es lag auch daran, daß mir jede öffentliche Enthüllung der Seele im tiefsten zuwider war, auch wenn sie in einer Gemeinschaft geschah, der wir ja dem Namen nach angehörten, die aber in Wirklichkeit nicht bestand. Am meisten aber lag es an einem kleinen und lächerlichen Anlaß, der, so gering er war, mir doch den ganzen Tag vergiftete.
In der bedrückten und gequälten Eile des Morgens, in ein Gewand gepreßt, das ich haßte, hatte ich vergessen, mir die Zähne zu bürsten, ein Vergehen, das einem Kinde meines Alters und in meiner Lage wohl hätte vergeben werden können. Aber meine Mutter, der die kleinste Pflicht so hoch stand wie die größte, tadelte mich mit bitteren Worten wegen meiner Vergeßlichkeit. Und das nahm mir den letzten Halt, den ich an diesem Tage doch so nötig brauchte. Wenn die »Gemeinschaft der Gläubigen« von solchen Dingen abhing, sagte ich mir, wenn die Liebe der Meinigen nicht einmal an diesem Tage imstande war, alles zu vergeben, das Größte wie das Kleinste, so lohnte es nicht, mit feierlichen Gedanken durch dieses neue Tor zu treten, hinter dem die Rosen der reinsten Liebe verheißen wurden und an dessen Pfosten doch schon die Brennesseln wucherten. Wahrscheinlich war es eine kindliche, ja eine kindische Verbitterung, die nicht imstande war, in der Strenge des Kleinen die größere Liebe zu erkennen. Sicherlich meinten es alle Menschen gut mit mir an diesem Tage, aber sie vermochten wohl nicht mehr mitzufühlen, wie schwer jedes Wort wog, das sie an einem solchen Tage sprachen.
Und so verlief das ganze Fest mit seinen Geschenken, seinem Essen bei den Verwandten, mit seiner Zurschaustellung verborgener Geheimnisse. Ich war wie ein gefangenes Tier, das man dressiert hatte und auf den Jahrmärkten ausstellte. Alle Zuschauer sind lärmend und beglückt, aber in den Augen des Tieres steht die dumpfe Trauer derer zu lesen, die zur Freiheit geboren und zur Knechtschaft bestimmt sind.
Zwei Tage später mußten wir uns von dem alten Konsistorialrat verabschieden, und jeder von uns mußte, in ein Papier gewickelt, den Lohn bezahlen, den die Kirche damals dafür verlangte, daß sie uns aufgenommen hatte. Auch dieser Lohn war nach Herkunft und Stellung der Eltern abgestuft, und noch heute habe ich den bitteren Geschmack im Munde, den ich damals fühlte, als ich das Geld auf den Tisch legte. Ich schämte mich, und noch heute glaube ich, daß das Kind damals reiner und richtiger fühlte als alle diejenigen, die berufen waren, Kinder zu führen. Auch sie waren nicht böse oder schlechten Willens. Sie meinten es gut mit uns wie alle, die uns bei der Hand nahmen, um uns in das Leben hineinzuführen, aber sie waren wohl langsam in den Formen und Meinungen erstarrt, an deren Schwelle wir noch standen, und was für uns das Einmalige war, hatte bei ihnen sich so oft wiederholt, daß es seinen ersten Glanz verloren hatte. So sahen sie das nüchtern an, was uns noch heilig war, und wie in einer nüchternen Welt sprachen sie, während wir doch das Schweigen des Heiligtums verlangten und erwarteten.
Ich war nun »erwachsen«, und ich merkte es eigentlich nur daran, daß ich eine Uhr geschenkt bekommen hatte, das übliche Konfirmationsgeschenk, als wollte man damit andeuten, daß nun der Ablauf der Tage gemessen werden müsse und als sei die Zeit nun etwas, das ein junges Menschenkind in seine Rechnung aufnehmen müsse.
Aber die Zeit als solche trat nicht mit einem bestimmten Tage in mein Leben. Sie war längst da, und nicht an einer Uhr merkte ich meinen Eintritt in den Ernst des Daseins, sondern daran, daß die Kinderträume vergangen waren und daß am Morgen nicht wie früher alle Tränen getrocknet waren, die ich am Abend geweint hatte.