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Das Dornenfeld

Wenigstens eines habe ich zu meinem Trost aus der Erinnerung verloren: die Wochen und Monate, die unsrer Vertreibung aus dem Walde vorausgingen, mit allen Schmerzen, die sie wahrscheinlich erfüllten. Mein Onkel, von dem ich gesprochen habe, der ein »Abtrünniger« geworden war, muß wohl alles vorbereitet haben, und es war ja auch damals nicht Sitte, ein Kind zu fragen, ob es mit den Zukunftsplänen, die man mit ihm hatte, einverstanden sei. Mein Onkel hatte zwar ein Gymnasium besucht, aber da er wohl der Meinung war, wir müßten etwas »Praktisches« werden, so hatte er bestimmt, daß wir eine Oberrealschule besuchen sollten, die damals für geeignet gehalten wurde, Zöglinge geringeren Geistesfluges aufzunehmen und auch sie, falls es sich so ergeben sollte, zu akademischen Bürgern heranzubilden, wenn auch zu solchen zweiten Grades.

Der »Letzte der Mohikaner« hatte, wahrscheinlich in einer Stunde leichter alkoholischer Beschwingtheit, behauptet, wir seien für die Untertertia einer solchen Anstalt mehr als reif. Und so wurde denn eines Tages der Jagdwagen gerüstet, der Proviantkorb gepackt, Wäsche und Kleider noch einmal nachgesehen, und dann begann die Fahrt in die Welt, die Fahrt zur Aufnahmeprüfung.

Auf dieser Reise, als einer Staatsaktion, mußte unser Vater uns begleiten, und ich glaube, daß von uns dreien ihm am wenigsten wohl zumute dabei war. Unsre nächste Bahnstation lag sechs Meilen entfernt, und wenn das Ganze schon ein Aufbruch ins Unbekannte war, so hatten doch also wenigstens die Begleitumstände eine würdige Form. Und als wir eines frühen Morgens um die Osterzeit abfuhren, geleitete uns der Segen nicht nur meiner Mutter, sondern auch der beiden Dienstmädchen, des Knechtes, des Hütejungen und aller Waldarbeiter, einschließlich des siebzigjährigen Holzmeisters, mit dem uns eine besonders innige Liebe verband. So mag es zu den Zeiten des Alten Testamentes gewesen sein, als Tobias sich aufmachte, um in die Welt zu gehen, und so auch hat wohl meine Mutter uns vom Hoftor nachgesehen, den beiden, die der Tod verschont hatte und die nun dorthin gingen, wohin ihre Liebe und ihre Gebete wohl reichten, wohin ihre Augen aber nicht mehr reichen konnten, und wo wir nun selbst zu erweisen hatten, ob das mahnende Gedicht von dem Gott, der alles sieht, in uns noch lebendig bleiben würde.

Von dieser Fahrt habe ich nur das Ende in der Erinnerung: die abendliche Ankunft in der Provinzhauptstadt und die Fahrt in einer Droschke zur Pension. Vermutlich hat die Stadt damals, im Jahre 1898, eine kümmerliche Straßenbeleuchtung gehabt und auch das abendliche Leben und Treiben mag still genug gewesen sein. Aber man muß bedenken, daß über unsren Waldwegen kein andres Licht stand als das der Sterne, und daß auf der Landstraße vor unsrem Hause um diese Zeit nichts zu sehen war als etwa ein Hase, der zur jungen Roggensaat sich aufmachte. Und so habe ich diese Fahrt durch die abendliche Stadt als ein Ertrinken in einem Meer von Licht, Donner und Lärm im Gedächtnis, als einen Sturz in eine böse Verzauberung, und anders mag auch einem jungen Tier nicht zumute sein, das man aus der Dämmerung des Dickichts auf einen mauerumgebenen Hofplatz schleppt, über den Laternen schwanken, Menschen gehen und lärmen, indes hinter der geöffneten Küchentür der Schein des Herdfeuers wie ein Höllenrachen sich öffnet.

Und dann kam die Ankunft in der Pension, der sprachlose Eintritt in eine Stadtwohnung, mit elektrischen Klingeln, Gaslicht und Wasserleitung. Unsre Pensionsmutter kam, klein und rund, die wir wie ein Fabelwesen anstaunten und die dann sieben Jahre lang mit einer rührenden Liebe für mich gesorgt hat; ihr Sohn kam, der Student war, und ihre Tochter, die uns wie eine Prinzessin angezogen schien. Ein Abendbrottisch taucht auf, in einem Zimmer, das keine Fenster hat, Gespräche, Gerüche, Bilder, die aus einem andern Erdteil stammen müssen, und über aller Verstörung, Angst und Weglosigkeit, über Heimweh und Tränen löscht schließlich die letzte Lampe aus, und das verirrte Kind aus den Wäldern rettet sich in den Schlaf, der ihm der einzige Trost geblieben ist.

Der nächste Morgen schon sollte uns zum erstenmal in die Reihe der geistigen Krieger stellen, indem mein Vater uns beide an der Hand nahm und in die Schule führte. Die Schule war eine Gründung des Großen Kurfürsten, und sie sah auch noch so aus, als hätte er sie mit eigner Hand gebaut. Irgendwo werden wir drei Waldläufer wahrscheinlich verzagt und verloren in Korridoren und Ecken herumgestanden haben, bis ein riesiger Schuldiener vom Format aber nicht von der Seelenbeschaffenheit eines mittelalterlichen Henkers uns in das Zimmer des Direktors führte.

Da war nun die erste Majestät im Reich des Geistes, die zu sehen mir bestimmt und vergönnt war. Ein kleiner Mann mit weißem Haar und Bart und einem steinernen Gesicht. Daß er aus einer andern Welt stammte, vielleicht von einem fremden Stern, erkannten wir daran, daß er eine blaue Brille trug, und da wir eine blaue Brille noch niemals gesehen hatten, so war es kein Wunder, daß wir ihn ohne Bewegung anstarrten, sehr lange Zeit, und das war vielleicht der erste taktische Fehler, den wir begingen.

Später hat man mir erzählt, daß er »der Löwe« genannt wurde, und daß vom kleinsten Nonaner bis zum ältesten Professor jedermann vor ihm erzitterte. Auch soll er einen Siegelring getragen haben, in dessen Stein »Glaube, Liebe, Hoffnung «eingeschnitten waren, und wenn er Ohrfeigen austeilte, was vom frühen Morgen an seine Lieblingsbeschäftigung war, so soll er den Stein nach innen gedreht und die Ohrfeigen mit Glaube, Liebe und Hoffnung gegeben haben.

Kein Wunder, daß wir vor ihm erstarrten, und daß er uns nicht wie der Stellvertreter des lieben Gottes, sondern wie sein Vorgesetzter erschien. Aber desjenigen Gottes, von dem wir mit einem Schauer der Ehrfurcht gelernt hatten, daß er ein eifriger und zorniger Gott sei. Mein Vater versuchte, mit einer sicherlich unzulänglichen Beredsamkeit, dem Löwen zu wiederholen, was der »Letzte der Mohikaner« von unsren Geistesgaben und unsrer Ausbildung behauptet hatte, und daß wir nach Meinung dieses unsres letzten Erziehers für die Untertertia dieser so hochangesehenen Anstalt reif sein müßten. Wahrscheinlich hatte er niemals in seinem Leben eine so lange Rede halten müssen, und sicherlich war ihm wohler zumute gewesen, als er einmal, wie er uns oft erzählt hatte, vor einem krankgeschossenen Keiler auf einen Baum hatte flüchten müssen.

Auch glitt kein Widerschein seiner verzweifelt lobenden Worte über das steinerne Gesicht des Löwen. Er betrachtete uns regungslos, und ich glaube heute, daß er feststellen wollte, ob wir drei aus Europa oder aus Asien stammten. Und nachdem er darüber zu einer unsichtbaren Entscheidung gekommen war, stieß er plötzlich, ohne Ankündigung, seinen Zeigefinger in die Gegend meines Bruders und fragte: »Was heißt französisch: ›Ich gebe es dir?‹« Nun weiß jedermann, daß dahinter eine Falle verborgen ist, die zu stellen man als pädagogisch oder auch als niederträchtig empfinden kann, und mein Bruder, an Menschenfallen nicht gewohnt, antwortete schnell und fröhlich:» Je te donne!« Worauf ich, von derselben Gebärde aufgefordert, etwas langsamer sagte:» Je le donne.« In der Meinung, eines von beiden werde doch wohl richtig sein.

Da aber nach den Gesetzen dieser vertrackten Sprache keines von beiden richtig war, so fiel hinter der unbewegten Stirn des Löwen eine schnelle Entscheidung, und mit einer majestätischen horizontalen Handbewegung sagte er wahrhaft gelassen: »Quarta!« Womit denn auf eine so schnelle wie entschiedene Art unsre Feuerprobe beendet war und wir drei als völlig Geschlagene das unheimliche Schlachtfeld verlassen konnten.

Wir sind dann wohl am nächsten Tage etwas bedrückten Herzens wieder abgefahren, obwohl die Aussicht, noch einmal für drei Wochen in die Heimat zurückzukehren, die Scham der Besiegten aus unsren Herzen gescheucht haben mag.

Das Nächste, was ich dann sehe, ist das Bild der Klasse, in der mein Bruder und ich die erste Stunde verbracht haben. Es hat geläutet, und vierzig junge, fremde und gefährliche Mitmenschen verlassen den Raum, wobei ich deutlich mich der goldblonden, bis auf die Schultern fallenden Locken eines Jungen erinnere, ja sogar der eigentümlich schwebenden und wehenden Bewegung, mit der dieser Goldhelm in der Dämmerung des Korridors verschwand. Und so wie dem jungen Parzival die ersten Ritter als Götterbilder erschienen, so glaubte ich, daß kein Geringerer als Siegfried hier auferstanden sei und sich in eine freiwillige Knechtschaft begeben habe. Man hat ihm später die Locken geschnitten, und wenn es auch nicht Dalila, sondern wahrscheinlich seine Mutter gewesen ist, so muß doch auch dabei die Stärke von ihm gewichen sein, denn zwanzig Jahre später war er schon ein mehrfach durchgefallener Jurist und kümmerlicher Versicherungsagent.

Doch würde ich wohl nicht sehr unzufrieden sein, wenn meine Erinnerung an diese neue Lebensgemeinschaft, die mich aufnehmen sollte, sich auf ein Gewimmel von Köpfen mit einem Goldhelm darüber beschränken könnte. Aber sie gewann leider sehr viel deutlichere Umrisse, und wenn sich später Freundliches und Tröstendes daraus ergab, so standen wir doch am Anfang gleich zwei artfremden Tieren in einem Rudel, das sehr geneigt war, uns »abzuschlagen«, wie man im Walde sagte.

Wir wußten nichts von den Lebensgewohnheiten eines Stadtkindes, doch lag die Neigung zur Ehrfurcht gänzlich auf unsrer Seite, so wie auf der andern die zum Spott natürlich war, der ja denn bei einer Klasse als einer ersten Verkörperung grausamer Masse sehr handfeste Formen anzunehmen pflegt. So hätten wir wohl leicht und für alle Zeit untergehen können, wenn nicht unser Waldläuferleben uns neben der Gabe, mit offenen Augen zu träumen, auch mit Gaben versorgt hätte, die, wohl angewendet, auch in Städten ihre Wirkung nicht verfehlen. Und obwohl ich nichts Heldenhaftes an mir hatte, so erregte meine erste »Tat« in der neuen Welt doch einiges Aufsehen, nicht nur wegen der Wirkung, die sie hatte, sondern auch wegen der Selbstverständlichkeit, mit der sie geschah.

Es begann nämlich in einer der ersten Turnstunden, die wir hatten, auf dem Turnhof einer meiner Mitschüler, der nach billigem Ruhme trachtete, mit Steinen nach uns zu werfen. Ohne jeden Anlaß, aber auch ohne die Voraussicht, die nur die Weisen und nicht die Mächtigen auszeichnet. Und so übersah er, daß wir, aus rein geologischen oder mineralogischen Gründen, diese Kunst sehr viel besser beherrschten als ein Stadtjunge, der ja höchstens Pflastersteine zur Verfügung hat, um dieses Handwerk zu lernen. Nach einigen vergeblichen Warnungen erinnerte ich mich also der angewandten Pädagogik unsres letzten Hauslehrers, und mein erster Stein schlug dem Feind denn auch, wie vorauszusehen war, ein Loch in den Kopf, worauf er umfiel und ohnmächtig wurde.

Es gab einen großen Aufstand, und der Turnlehrer, naiv, wie solche Menschen sein können, fragte mich zornbebend: »Hast du das mit Absicht getan?« Und da ich auf diese geistvolle Frage als ein ehrliches Kind nur »Jawohl!« antworten konnte, empfing ich die erste Ohrfeige in der Fremde, die ich bis heute nicht ganz vergeben habe.

Was half es mir, daß ich nach einem Vierteljahr Primus der Klasse und mein Bruder »Zweiter« war? Daß unser Ordinarius »Charlemagne« uns als Wunderkinder in sein Herz schloß? Es war eine stolze Rechtfertigung für den Letzten der Mohikaner, aber bitter war das Brot der Fremde für mich, und der Lorbeer machte es nicht süßer. Wohl hatte ich genug zu tun, um eine ganze neue Welt in mich aufzunehmen, aber es gab keine Wälder, keine Seen, keine Tiere in dieser Welt. Auf Stein gingen die müden Füße, über Steine glitten die müden Augen, und der »Löwe« war nicht der einzige, dessen Gesicht steinern war.

Vielleicht habe ich damals schon den tiefen Zwiespalt zwischen Natur und Zivilisation zu ahnen begonnen, und meine Liebe zum Wald, zum Tier, zur »großen Ordnung« würde wohl niemals das Leidenschaftliche, ja das Verzehrende ihrer Kraft erreicht haben, wenn nicht so früh mein Paradies ein verlorenes Paradies geworden wäre. Und das Kind, das in leeren und traurigen Sonntagsstunden einen Bogen Zeichenpapier nahm und darauf, aus der Vogelschau, sein Vaterhaus, seine Felder, den See und den Wald zeichnete, wobei es keinen Baum und keine Roggengarbe vergaß; das in ein kleines Buch alle Jagdsignale einzeichnete, die es gelernt hatte: dieses Kind tat doch nichts anders, als daß es sich seiner Schmerzen entäußerte, indem es seine verlorenen Götter mit schwachen Händen nachbildete, und der lebendige Odem, den es ihnen einzuflößen versuchte, war nicht geringer an Glut und Hingabe als der, mit dem Prometheus seine Steinbilder zu beleben versuchte, um sie an sein Herz drücken zu können.

Wenn ich in meinem Walde geblieben und ein Förster geworden wäre, wie ich mir leidenschaftlich gewünscht habe und woran mein verständiger Vater mich verhindert hat, so würde das Bild meiner Heimat sicherlich nicht den schmerzlichen Glanz bekommen haben, den es damals in den ersten Tagen städtischen Lebens empfing und den es für alle Zeit bewahrt hat.

Denn am Heimweh habe ich von jenen ersten Tagen der Fremde an auf eine unsäglich schmerzliche Weise gelitten. War der Alltag noch mit Pflicht und Tätigkeit und Spiel auf eine wenn auch etwas kümmerliche Weise erfüllt, so scheinen mir die Sonntage aller jener Jahre in der Erinnerung von einem dumpfen und unauslöschlichen Gram beschattet zu sein, ja, aus nichts anderem als ihm zu bestehen. Dann wurde um die Nachmittagszeit das Haus langsam leer und still. Verlassen lagen die Straßen. Weiße Wolken zogen in ungeheurer Einsamkeit über die steinernen Schächte, und nur in einem einzigen Laut schien die ganze schwermütige und verlorene Seele der Stadt sich traurig zu sammeln: in der fernen, verwehenden Melodie eines Leierkastens, die von Hof zu Hof zog und über der sich die Fenster aller Dienstmädchen öffneten, die gleich mir nicht wußten, wozu ihr Leben an solch einem Tage nützlich oder gar nötig sei.

In diesen ersten Monaten eines neuen Daseins begann auch eine bedenkliche Eigenschaft meines Lebens sich zu entwickeln: die Fähigkeit, mich einer zwar nicht immer erträumten, aber doch abwesenden Welt ganz und gar hingeben zu können. Denn am Abend, wenn über ein gesundes und müdegelebtes Kind schnell und traumlos der Schlaf zu kommen pflegt, begann für mich das eigentliche Leben, indem ich fortging aus der wirklichen Welt, in der ich zu leben gezwungen war, dorthin, wo ich allein leben wollte. Und da ich mich nicht darauf beschränkte, in der Erinnerung bei Raum und Tätigkeit meiner Heimat wieder zu Hause zu sein, sondern beides zu Möglichkeiten, ja zu Wirklichkeiten uferlos erweiterte, die nicht mehr auf Tatsachen ruhten, so glitt ich immer tiefer in die Gefahr, vor der harten Gegenwart die Augen zuzuschließen und aus einer erträumten Welt den Trost zu schöpfen, den ich der wirklichen nicht abzukämpfen vermochte. Und wiewohl wir alle an Luftschlössern bauen, so war ich in den meinigen doch so früh und so gänzlich verloren zu Hause, daß es mir immer schwerer wurde, den Weg aus ihren strahlenden und verschlungenen Gängen wieder herauszufinden. Ich weiß, daß ich damals schon diese Gefahr erkannte, und daß ich unter dem Unvermögen litt, sie zu besiegen. Aber es half mir niemand in meiner Verlorenheit. Ich hatte weder Freund noch Führer, und da die Heimat der einzige Stern war, der mir in meinem Dunkel leuchtete, so war es wohl nicht verwunderlich, daß ich die Arme zu ihm aufhob. Und wenn ich auch zu falschen Göttern betete, so waren sie mir doch allein gnädig und halfen mir zu einer Zeit, in der alle anderen Götter sich von mir abgewendet zu haben schienen.


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