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Es ist wohl so, daß durch die Jahre unsres Lebens das Blut nicht gleichmäßig strömt. Zwar weiß ich nicht, ob die siebenjährigen »Gezeiten« mehr sind als eine Hypothese, obwohl mir das manchmal so scheinen will, aber ich weiß, daß viele Abschnitte meines Lebens, auch in der Entwicklungszeit, stille Zeiten gewesen sind, in denen die Lebenskraft ausgeruht hat, und daß sie dann unterbrochen wurden von Monaten und Jahren, in denen ich auf eine verzehrende Weise gedacht, gearbeitet und gelebt habe. Menschen, Bücher und Pläne stürzen dann mit einer unwiderstehlichen Macht in das eigene Leben wie in einen luftverdünnten Raum, und es gilt dann, die Zügel festzuhalten, damit der Wagen des Schicksals nicht von dem Wege abkomme, den zu verlassen wohl verlockend aber niemals gut ist.
Unter den vergangenen Jahren nun ist das letzte Schuljahr in meiner Erinnerung eines dieser besonderen und stürmischen Jahre. Ich habe in dem vorausgegangenen Abschnitt nur die Zeiten der Heilung dargestellt und somit vorausgenommen. Und es bleibt mir die sehr viel schwerere Aufgabe, nun erst von dem zu Heilenden hier zu sprechen.
Ich habe erzählt, daß ich in dieser Zeit die ersten Verse zu schreiben begann, an die sich Erzählungen und dramatische Versuche schlossen. Aber ich habe versäumt, die »Atmosphäre« zu schildern, aus der sie sich, kümmerlich genug in ihrer Unselbständigkeit, unsicher erhoben. Daß das »von einer Empfindung volle Herz« nach Ausdruck verlangte, wird man aus der Schilderung der ersten Liebe verstehen. Denn es ist ja die gnädige Zeit, in der jeder von uns, auch der nüchternste, zum Dichter wird. Aber wie es diesen Ausdruck findet, hängt ja nicht nur von der Tiefe des Gefühls ab, sondern auch von dem geistigen Raum, in dem das Gefühl uns antrifft. Da ja glücklicherweise nicht alle Zeiten von »Originalgenies« erfüllt sind.
Ein solches war ich nun ohne Zweifel nicht. Die Art und Weise unsrer deutschen Stunden und die Beschaffenheit unsres Lehrers brachten es mit sich, daß ich in diesen beiden letzten Schuljahren las, was ich nur erreichen konnte. Und da ich damals in einem bedrohlichen Tempo mich meiner Weltschmerzperiode näherte, so ist es nicht verwunderlich, daß in dem Reich der Lyrik Lenau und Heine die beherrschenden Götterbilder für mich waren. Ich kann nicht mehr mit Sicherheit entscheiden, ob sie das waren, weil ich am »Weltschmerz« litt, oder ob ich daran zu leiden begann, weil ich ihnen verfiel. Aber das erstere ist wahrscheinlicher, weil zur damaligen Zeit der Weltschmerz eine Entwicklungsperiode war, der sich mit aller Leidenschaft hinzugeben für einen jungen Menschen von »geistiger Haltung« eine selbstverständliche Pflicht des Anstandes war. Und so wird es wohl nötig sein, von dieser Grundhaltung zuerst zu sprechen.
Es mag wohl ein tiefsinniges Lebensgesetz sein, daß Zeiten der Macht, der Sicherheit und des Besitzes sich in der Jugend auf eine andere Weise spiegeln, als müßte eine bestimmte Menge des Schmerzes in jeder Generation erhalten bleiben und als werde sie dann in die jungen Herzen gelegt, wenn die Alten sich ihr verschließen. Es ist, als ob im weisen Haushalt der Natur eine leise Warnung sich damit ausspreche, als wisse sie, daß auf die Zeiten des Glanzes solche der Not folgen, und als hätte sie uns schon leise darauf vorbereiten wollen, daß wir ja dazu ausersehen waren, das schwerste Kreuz in der Geschichte unsres Volkes zu tragen.
Nun bin ich ja der Meinung, daß der Weltschmerz jeder Jugend so zugehören sollte wie die Kinderkrankheiten. So lange wenigstens, wie wir in einer unvollkommenen Welt leben. Denn da die Jugend diejenige Zeit ist, in der auf eine unbedingte und gänzlich kompromißlose Weise das Vollkommene gefordert wird, an Gerechtigkeit, an Freiheit, an Wahrhaftigkeit, so muß in unvollkommenen Zeiten aus dem Mißverhältnis zwischen Wollen und Erreichen das Gefühl eines hoffnungslosen und allgemeinen Schmerzes, eben des Weltschmerzes für die Jugend sich ergeben. Und es ist vielleicht ein Zeichen übersteigerten und überhitzten Lebens, wenn einer Jugend dies Gefühl fremd bleibt und nach den Gesetzen des Daseins ein Vorzeichen, daß der so versäumte und gleichsam unterschlagene Schmerz einmal wird nachgeholt werden müssen. Weil wir ja dem Willen der Natur niemals entfliehen können und an unsren späten Kreuzwegen dann eben der Knopfgießer auftauchen wird, dem wir in der Jugend so listig oder blind auszuweichen versuchten.
Und dazu kommt eine zweite Gesetzlichkeit: daß die Jugend nicht nur an der älteren Generation und der Welt sondern auch an sich auf eine schmerzliche Weise leiden muß. Und so wie Trilljam in dem Gasthaus des Wilddiebsdorfes mich aufforderte, nach den Pferden zu sehen, wenn er eine Geschichte »für die Großen« erzählen wollte, so ist es uns allen in der Jugend ja so ergangen, daß wir hinausgeschickt wurden, um »nach den Sternen« zu sehen, wenn die Großen die Ordnung der Welt unter sich festsetzen wollten. Wir schwebten zwischen den Generationen, keine Kinder mehr und noch keine Erwachsenen. Man nahm uns nicht ernst, man rechnete uns nicht für voll. Und da wir fühlten, daß wir in so mancher Hinsicht ebenso ernst zu nehmen waren wie die Großen, so ergab sich eben daraus nicht nur die natürliche Erbitterung gegen unsre »Unterdrücker«, sondern auch, aus der Erkenntnis dieses ungleichen Kampfes, das Gefühl eines allgemeinen Leidens an der Welt und am Leben.
Daß die »Bildung« ein gefährliches Gut ist, habe ich früh erkannt, das heißt, daß sie oft mit der einen Hand nimmt, was sie mit der andern gibt. Zuerst ist es wohl so, daß die kindliche und ganz naive Gläubigkeit zu wanken beginnt und leise zerfällt. Ich weiß nicht mehr, welchen Kräften ich zuschreiben soll, daß ich aufhörte, in Gott zu ruhen wie etwa in der Welt meines Waldes. Es wird wohl so gewesen sein, daß ich auf allen Gebieten des Lebens einmal der Gestalt des »Jule« begegnete, und begann ich einmal zu zweifeln und das Bisherige seines kindlichen Schimmers entkleidet zu sehen, so kam es wohl von selbst, daß ich mich an diesem Zweifel und dieser Entkleidung zu berauschen begann, und über die Stufe der Skepsis stolperte ich schnell und unaufhaltsam in die Arme der Verneinung. Der Radikalismus des Bösen gehörte meiner Entwicklung ebenso zu wie der des Guten.
Es ist also nur natürlich, daß Schopenhauer in jenen Jahren auf eine entscheidende Weise unsre Weltanschauung formte. Hier fanden wir alles, was unsrer Seele gemäß war: Erbarmungslosigkeit der Betrachtung, Entblößung aller Phrase, Verachtung des Weibes, der Philister, des Herkömmlichen, Heiligung des Leidens und schließlich die düstere Sehnsucht, diesem allem zu entgehen und eine Welt aufhören zu lassen, die neu zu schaffen uns auf keine Weise gelingen wollte. Und wenn wir mit düsterer Verachtung die faden »Ideale« unsrer Lehrer ablehnten, so hatten wir dazu den Vorteil, uns auf jemanden berufen zu können, dessen Name als der eines Großen unerschütterlich in der Geschichte des Geistes stand.
Erst später gewann dieses Weltbild eine heilvolle oder auch unheilvolle Umwandlung und Ergänzung durch das Bild des »Übermenschen«, das sich vermöge seiner glanzvolleren und poetischen Darstellung noch leichter auf unsren Altären niederlassen konnte als das Nirwana-Bild Schopenhauers. Und wie herrlich ließ es sich in der absoluten Verachtung des Herdenmenschen leben, des Staates, des Christentums, und wie großartig war es, sich vorzustellen, daß uns versprochen und verheißen war, mit der Peitsche zum Weibe zu gehen und so alle Schmerzen zu vergelten, die dieses dunkle und unbeständige Geschlecht uns bereitet hatte!
Und doch darf ich, noch unter dem Schatten dieser beiden großen Namen, nicht zu bekennen unterlassen, daß mehr als sie beide derjenige Name damals auf uns eingewirkt hat, den als Philosophen neben ihnen zu nennen eine Versündigung sein würde, wie rein auch sein menschliches Bild und wie groß auch sein Gelehrtenbild gewesen sein mag: der Name Haeckels. Damals erschienen in billigen Volksausgaben zwei entscheidende und für uns verhängnisvolle Bücher, »Der alte und der neue Glaube« von David Friedrich Strauß und die »Welträtsel« von Haeckel. Und es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, daß für viele von uns dieses letzte Buch an die Stelle der Bibel rückte. Alle Popularphilosophie hat etwas Gefährliches und sogar Gewöhnliches an sich. Sie ist eine ihres Adels entkleidete Wissenschaft, deren Adel eben darin besteht, daß sie sich an den reinen Geist wendet, also an eine Auslese der Menschen. Jene aber war auf die Masse berechnet, also auf den dumpfsten Begriff der Menschheit. Sie zählte auf Instinkte, die nur dort noch vorhanden waren, arbeitete mit Folgerungen, Schlüssen und Beweisen, die Hinz und Kunz und eben nur diesen einleuchteten, und ging scheu und verschlagen an dem reinen Feuer vorüber, weil dieses nur von reinen Augen erkannt und ertragen werden konnte. Das Jahrhundert der Naturwissenschaften, in das wir hineingeboren waren, so groß und bewundernswert in seinen Versuchen, die Gestalt des Erdgeistes zu beschwören, prostituierte sich in diesem bekanntesten und berüchtigtsten seiner Werke auf eine verhängnisvolle Weise, indem nun für jeden von uns die Göttin der Wissenschaft an jeder Straßenecke käuflich zu haben schien, während sich doch hinter der dünnen Schminke ihres Gesichtes nur die gewöhnlichen Züge des nackten Materialismus und einer frechen Gottesleugnung verbargen, die uns in den Stand setzten, mit billigen Witzen wie dem vom »gasförmigen Wirbeltier« sich von allem Heiligen und Pietätvollen zu entblößen, das wir doch von Kindesbeinen an noch wider Willen im Blute trugen.
Es ist nicht verwunderlich, daß in den so bereiteten Raum die damaligen Erschütterungen der Weltliteratur mit einer ungeheuren Gewalt einbrachen und daß etwa Dostojewskij, Strindberg oder Zola uns als die Offenbarungen einer neuen Apokalypse erschienen. Ich bedauere das nicht, und wenn heute auch der Stern Dostojewskijs an meinem Himmel immer blasser scheint und dafür der Tolstojs immer leuchtender aufsteigt; wenn in der skandinavischen Dichtung ganz andere Gesichter sich vor das dämonische Strindbergs schieben und mir etwa vor einem Bande Balzac ganze Romanreihen Zolas verschwinden, so weiß ich dabei sehr wohl, daß eine natürliche Reifung der Natur sich darin ausspricht, und daß es sehr töricht sein würde, unsre Jugend zu verachten, nur, weil sie gern unreife Äpfel aß.
Auch lebten wir ja noch in den Zeiten glücklicher Aufgeschlossenheit, in denen wir Raabe und Dickens mit derselben Inbrunst in uns aufnahmen wie jene erbarmungslosen Sezierer der Menschenseele, und neben der düsteren Gestalt des Raskolnikow stand mit derselben Bedeutung für unsre Entwicklung die des grünen Heinrich. Und wenn uns auch mancher Name getäuscht hat, so hat uns doch kein Dogma beschränkt. Wir hatten das Glück, keine Weltanschauung zu haben, was in diesem Alter immer nur eine angelesene oder eine angeredete sein kann, sondern nach einer solchen zu suchen, und es schadet nichts, daß viele von uns sehr spät und manche noch heute nicht damit fertig geworden sind. Ich aber verdanke dieser Erziehung nicht nur meine Verehrung vor vielen großen Toten und Lebenden im Reich der Kunst, sondern auch diejenige »Duldung« der Meinung und des Herzens, die für mich zu den kostbarsten Besitztümern eines Menschen und eines Volkes gehört und die Goethe als ein großes Beispiel mit dem Begriff der Humanität vor uns aufgerichtet hat.
Auch darüber wird man sich nun nicht wundern, daß wir in jener Zeit des Sturmes und Dranges im Politischen glühende Sozialisten waren als ein wirres und querköpfiges Geschlecht, zu Widerspruch und Leugnung immer bereit. Aber auch dafür lagen die Gründe nicht in uns allein, sondern auch in unsrer Zeit. Wir hatten früher als manche Erwachsene das Hohle und Fassadenhafte der letzten Kaiserzeit erkannt, nur mit dem Unterschied, daß wir nicht erst dreißig Jahre später unsre Meinung zu sagen wagten, sondern daß wir sie damals schon zur Schau trugen und sie mit der Schroffheit äußerten, die das Vorrecht jener glücklichen und tapferen Jahre ist.
Die Sehnsucht, zu verehren, war eines der tiefsten Geschenke, das die Natur auch uns verliehen hatte, und wenn auch Irrtum und Überschätzung des Idealbildes der Wirklichkeit nicht immer gerecht wurden, so lag in dieser Sehnsucht doch eine unsrer edelsten Kräfte eingeschlossen: der Trieb, aus dem Staub des Weges immer wieder aufzustehen und die Arme zu den Sternen aufzuheben, die immer gleich fern und unerreichbar erschienen. Aber das Entscheidende an dieser Sehnsucht, zu verehren, war, daß sie eine freiwillige Sehnsucht war, indem sie das Bild des zu Verehrenden selbst aussuchen wollte, und daß sie in Mißtrauen, Ablehnung und Verachtung umschlug, wenn sie zu einer Verehrung gezwungen werden sollte.
Dies aber war der Fall, indem die damalige Zeit mit einem spät getadelten Byzantinismus eine Gestalt über die Menge des Volkes, ja der Völker erhob, die wie die des letzten Kaisers neben vielen bestechenden Zügen doch so viel Kleines, Verworrenes, Dilettantisches und Verhängnisvolles enthielt, daß wir uns weigern mußten, in ihr das Götterbild zu erblicken, das die Zeitungsschreiber von ihr entwarfen. Und wir konnten ja auch schon früh erfahren, daß aufrechte Männer unsrer Zeit nicht den Weg zu Macht und Ehre aufstiegen, sondern im Schatten der kaiserlichen Ungnade ein stilles wenn auch ein stolzes Leben zu beschließen hatten.
So war es kein Wunder, daß wir, als geborene Revolutionäre, uns zur »Opposition« schlugen. Und da Politik als solche unsrer Generation völlig fremd war, so bestand diese Opposition eben nur in einer grundsätzlichen Haltung und in theoretischen Erörterungen, wie das Gebäude des Staates und der Bau der Menschheit von Grund auf anders zu bauen wären. Und daß es dabei ohne einige Sintfluten nicht abgehen durfte, wird niemanden verwundern, der sich seiner eigenen Jugend noch ein wenig erinnert.
So ging ich also mit einer bedenklichen Summe von Verneinung, Leugnung und Verachtung dem Ende meiner Schulzeit entgegen. Ich sonderte mich von meinen Gefährten als ein einsamer Revolutionär ab, und wie ein solcher lief ich viele Stunden mit finster gefalteter Stirn durch einsame Straßen und vor die Tore der Stadt. Ich war mir dessen bewußt, daß ich meine Hand an der Achse der Welt hielt, und ich begann meine Revolution damit, daß ich alles absetzte, was überhaupt abzusetzen war: den lieben Gott, Christus, die Kirche, den Kaiser, den Staat, die Eltern, die Lehrer, die Frauen. Es blieb nicht viel mehr übrig als ich selbst, und die Welt war mir damals auf eine wunderbar einfache und klare Weise eingeteilt: sie bestand nämlich nur aus mir und aus Idioten.
Man wird zugeben, daß eine einfachere Teilung dieses verworrenen und vielfältigen Weltbildes nicht gut möglich ist, und man wird verstehen, daß ich mit dem mir zugefallenen oder zugeschriebenen Teil sehr zufrieden war. Ich habe später, in nicht so klaren Zeiten, noch oft versucht, wieder eine so einfache Scheidung der Welt für mich zu erreichen. Aber es ist mir niemals mehr gelungen, und ich kann nicht genau sagen, woran es gelegen hat.
Doch sorgte die Weisheit der Natur dafür, daß ich auch diese großartige Einsamkeit meiner weltumstürzenden Stellung zu bezahlen hatte. Erstens fror ich auf diesen langen Wanderungen in einem für Dauerrevolutionen ungeeigneten Klima sehr erheblich, und dann begann meine gewollte Einsamkeit doch mit der Zeit etwas drückend zu werden. Besonders nachdem ich alles »abgesetzt« hatte und die Neuordnung der Welt doch nicht so schnell ging wie ihre vorausgegangene Vernichtung. Zwar tröstete es mich ein wenig, wenn Lehrer oder Mitschüler mich auf diesen Wegen trafen und mich achtungsvoll von der Seite betrachteten, aber Eitelkeit ist auf die Dauer eine kärgliche Speise, und so kehrte ich langsam, immer noch wie ein schwer Träumender, zu den Wegen der Menschen zurück.
Auch besaß ich ja in der Fähigkeit, »zu sagen, wie ich leide«, einen unverlierbaren Trost für alle Schmerzen meines damaligen Lebens. »Schilf«- und Vagabundenlieder entströmten reichlich und gehorsam meiner Feder, und nachdem die Werke Jacobsens mich auf eine bis heute nachreichende Weise erschüttert hatten, begann ich auch die ersten Novellen zu schreiben. Von allem diesem ist nichts mehr erhalten, und auch wenn ich es besäße, würde ich nichts davon hier veröffentlichen, weil das, was wir einmal mit heiliger Hingabe gesagt oder geschrieben haben, nicht dazu da ist, einem auch noch so milden Spott ausgesetzt zu werden. Manche dieser Versuche brachte ich zu »Freundchen«, und ich werde immer dankbar der gütigen Nachsicht gedenken, mit der er sie beurteilte und die die weise Mitte zwischen notwendiger Härte und vorsichtig tröstender Anerkennung hielt.
Auch hat eine glückliche Fügung damals dafür gesorgt, daß ich nicht im rein »Ästhetischen« früh erstarrte und verdarb. Einer unsrer Mitschüler, der schon ein paar Jahre in einem Beruf gewesen war und an Alter und Erfahrung uns weit voraus war, begann damals, eine neue Welt für uns und unsre ganze Provinz aufzuschließen, die des Sportes, und zwar in der Form der Leichtathletik. Und da wir wohl fühlten, welch ein heilsames Gegengewicht diese Ausbildung für unser nur geistiges Leben war, so stürzten wir uns mit Begeisterung in eine Tätigkeit, die von der Schule und der Öffentlichkeit noch mit Mißtrauen betrachtet wurde und die uns schon deshalb als ein zu Unrecht unterschlagenes Gut erschien.
Eine zweite wenn auch bedenklichere Ergänzung unsres geistigen Lebens fanden wir schließlich auch in unsren »Kneipabenden«, die wir mit der Unterprima zusammen alle zwei Wochen in einer abgelegenen Wirtschaft veranstalteten. Sie pflegten mit einem strengen studentischen Komment zu beginnen und sich dann allmählich in eine fröhliche Betrunkenheit aufzulösen, aber sie waren weder in ihren »Bierreden« noch in ihren Spottversen ohne Geist, und sie waren ein zwar primitiver aber doch herzlicher Ausdruck unsres Kameradschaftslebens.
Wir waren ein sehr begabter »Jahrgang«, im Menschlichen ohne allzu dunkle Flecken, und ich glaube, daß unsre Schule stolz auf uns war und uns ungern scheiden sah. Viele Lebensbahnen jenes Jahres hat der Krieg abgeschnitten. Er hat weder die Besten noch die Schlechtesten getroffen, sondern seine Würfel mit geschlossenen Augen geworfen. Die Überlebenden aber sind aufwärts oder abwärts geführt worden, und niemand hätte damals Voraussagen können, welches Los ihnen zufallen würde.
Von dem »Eisernen« habe ich erzählt, daß er als ein still gewordener Mensch in einer kleinen Stadt sitzt, mit der Weisheit gesegnet, die ihn unter der Stille nicht leiden läßt. »Hermann der Unbestechliche« lebt oder modert als Sowjetkommissar in einem der deutschen Bezirke an der Wolga, und auch ihm wird Gott wohl ein gnädiger Richter sein. Dieser hat die Lorbeeren eines Heldentenors nicht ganz erreicht, aber am Allzumenschlichen dieses Berufes wohl seinen Anteil genommen. Und jener ist mit einer eisernen Beharrlichkeit vom Sohn eines Tischlers zum Gesandten aufgestiegen und mit der Änderung der Staatsform wieder in das Dunkel herabgesunken. Ein paar andere fristen als Studienräte ihr Dasein. Ein paar Juristen blicken von der Höhe des Oberregierungsrates verbindlich lächelnd auf die Niederungen der Welt herab. Unser Sportlehrer ist Farmer auf Borneo gewesen und hat dann, alles Besitzes durch den Krieg beraubt, mit der gleichen Tatkraft wie früher ein neues Leben in der Heimat aufgebaut. Und ein paar andre schließlich haben »weder Glück noch Stern« gehabt und sind verdorben und gestorben. Auch von den Lehrern unsres letztes Jahres lebt keiner mehr. Sie haben das Beste an uns getan, was ihnen möglich war, und ich denke ihrer mit der gleichen Dankbarkeit, die ich allen schulde, die versucht haben, den Weg meines Schicksals nach bestem Willen zu lenken. Daß unser Schicksal sich allen helfenden Händen einmal zu entziehen pflegt, um dem eignen dunklen Gesetz zu folgen, mindert nichts an ihrem Ruhme, und allen unsren Helfern bleibt ein Teil an dem Besten, das wir besitzen: dem guten Willen, dieses dunkle Gesetz mit unsren Händen ein wenig zu lenken, damit es die Erfüllung finde, die wir als Bestimmung unsrer Natur in hellen Stunden zu ahnen vermögen.
An einem Februartag bestanden wir alle die Reifeprüfung. Es wurde ein Gebet gesprochen, und der Oberregierungsrat hielt eine Ansprache, an deren Schluß er die Namen derjenigen verlas, die von der mündlichen Prüfung befreit wurden. Auch der meinige befand sich darunter. Ich trug meinen in den Nähten ausgelassenen Einsegnungsrock und setzte einen roten Stürmer auf, wie sie in meiner Heimatprovinz zu diesem Tage üblich sind. Ich war ein bißchen stolz und ein bißchen traurig, wie an allen wichtigen Tagen meines Lebens. Ich schickte ein Telegramm nach Hause, und am Abend führte mein Onkel mich in die »Wolfsschlucht«, wo ich nach seinem guten Willen viel mehr Rotwein trinken mußte, als mir bekommen konnte. Ich mußte meinen Heimweg auf sehr unsicheren Füßen antreten, und kurz vor meiner Pension fiel ich in eine Baugrube, aus der ich mich in etwas beschädigtem Zustand wieder herausarbeitete. Ich war zornig, daß ich wider Willen diesen Tag so hatte abschließen müssen, wie es meinem Inneren nicht entsprach. Ich war traurig, daß das Ersehnte eines Lebensabschnittes erreicht war, aber ich besaß auch schon damals die glückliche Fähigkeit, mich über Zorn und Trauer ein wenig lustig zu machen. Und meine frühe Neigung zu symbolischer Betrachtung meiner Lebensvorgänge tröstete mich mit der Erinnerung, daß ja auch Joseph in eine Grube geworfen werden sollte und trotzdem sich über seine Brüder erhoben hatte und der Statthalter eines Landes geworden war.
Ich kehrte in meine Wälder zurück, und auf allen Förstereien wurde der junge »Student« gefeiert. Auf einem dieser Feste traf ich die Erzieherin eines befreundeten Hauses, eine Frau, die viel älter war als ich, die Verse schrieb und Beethoven spielte, und die in meiner jungen und scheuen Liebe noch einmal den Abendglanz eines einsamen Lebens dankbar erblicken mochte. Dreizehn Jahre später habe ich, von der französischen Front heimkehrend, noch einmal an ihrem Krankenbett gesessen. Dann ist sie aus meinem Leben verschwunden, ohne daß ich von ihrem Schicksal hätte etwas erfahren können. Auch sie hat mir die Erfüllung meiner Liebe versagt, in weiser Voraussicht aller kommenden Schmerzen wahrscheinlich, aber auch hier wohl ist die Sehnsucht mir zum Segen geworden.
Vor meinen Augen steht das Bild unsres Abschieds, bevor ich die Heimat verlasse, um Student zu werden: eine uralte Kiefer auf den Feldern vor unsrem Wald. Ein Frühlingsregen, der still und schwer auf die Erde rauscht, und ihre Gestalt, die durch den grauen Regen über die Felder geht, immer weiter von mir fort. In meinem Herzen ist alles versammelt, was mein Leben ausmacht: Wald und Erde und der Geruch der Felder, schmerzliche Liebe, die die Seele erfüllt, und ein Vers, der sich auf den Lippen formt, um alles dies zu sagen.
Dann kehre ich langsam heim, durch den dämmernden Wald, der im Regen rauscht. Tränen verdunkeln meinen Blick. Die Sehnsucht zerreißt mein Herz. Aber schon hebt sich wie ein stiller Glanz das Gedicht über meinen Weg, das alle Schmerzen lindert, ja, das die wahre Frucht dieser Schmerzen ist. Und andere Schmerzen werden folgen und andre Gedichte aus ihnen. Die Ahnung der Zukunft steigt vor mir auf, die sich dem Leid verschreibt, um aus seiner Bitterkeit die Süße der Ernte zu gewinnen.
Die erste Jugend ist zu Ende.
Das Leben beginnt.