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Von Büchern und Buchgelehrten

Ich glaube, daß über meiner Kindheit eine große Stunde anbricht, als ich zum erstenmal an einem Tisch sitze, dessen feierliche Zurüstung mir bedeutet, daß hier kein Spiel, sondern die Arbeit beginnt; als nicht die Gestalt der Mutter mir gegenübersitzt, sondern ein fremder Mensch, dessen Hände Tafeln und Hefte und Bücher sorgfältig zurechtrücken und dessen Augen mit einer Mischung von Strenge, Nachsicht und Stolz in diejenigen Augen blicken, die nun die Enthüllung aller Wunder der Erde und des Himmels gläubig und ahnungsvoll erwarten.

Ich glaube, daß unsre erste Erzieherin weder vom kategorischen Imperativ noch von den Herbartschen Formalstufen etwas wußte, und ich nehme an, daß das nur zu unsrem Besten gedient hat. Denn es hatte weder die Einfachheit ihres Denkens noch die Güte ihres Herzens verkümmert, und es ließ ihr die schöne Freiheit, mit drei gläubigen und auf eine innerliche Weise neugierigen Kindern in ein Land hineinzuwandern, das ihr zwar wohlbekannt sein mochte, das aber für die Geführten bei jedem Schritt voller Wunder war, so daß ein Teil des Glanzes, der unsre Augen erfüllte, auch auf sie wieder zurückfiel und ihr armseliges und einsames Leben verschönte. Und da hinter der Tür der Oberstube weder die majestätische Gestalt eines Direktors noch gar die gottväterliche eines Schulrates bereit stand, unvermutet einzutreten, um nachzuprüfen, ob die heiligen Gesetze der Pädagogik auch geachtet und bewahrt würden, da vielmehr von draußen nur die Töne und Geräusche eines ländlichen Lebens hereindrangen und vor dem offenen Fenster die hohen Fichten wie immer rauschten: so begannen wir in einer schönen Freiheit die erste Wanderung in das Reich des Geistes, bereit, jedes Wort aus dem Munde der Führerin als ein Evangelium zu betrachten und gewillt, jeden Buchstaben, den wir malen sollten, zu einem unvergänglichen Kunstwerk zu gestalten.

Dieser mein Eintritt in eine Welt, in der ich später zu Hause sein sollte, die Welt des Verstandes und der Phantasie, der ersten Wissenschaft und der ersten Kunst, ist mir in der Erinnerung von einem unvergänglichen Schimmer der Glückseligkeit umgeben. Es mag wohl sein, daß der Durst ganzer Geschlechter, die in ein tätiges Leben gezwungen worden waren, sich in mir gesammelt hatte und daß meine Seele nun trank, was so viele andere meines Blutes vor mir nicht hatten trinken dürfen. Wohl war ich in der Welt der Märchen und auch ein wenig in der der Bibel bereits kein Fremdling mehr, aber was sich mir nun eröffnete, schien mir das ganze Weltall zu umfassen, und zu den kühleren Fertigkeiten, des Schreibens, des Lesens und des Rechnens etwa, trat nun der lange Zug der Gestalten aus Sage und Geschichte, aus den beiden Testamenten und aus dem unermeßlichen Reich, das die Dichter aus dem Nichts geschaffen hatten.

Alles bezauberte, vieles ergriff, manches erschütterte mich. Aber nichts hat mit solcher Kraft und Innigkeit in jenen Jahren an meiner Seele geformt und gebildet wie das Buch der Bücher. Ich weiß nicht, ob die stille Kunst der Lehrerin oder meine Phantasie verursachten, daß ich alle diese Menschen und Geschehnisse nicht in die Ferne einer grauen Vergangenheit hielt, sondern sie bis in den Bereich meiner Hände zu mir nahm; daß der Stern von Bethlehem über unsrem Stalldach leuchtete; daß die Ährenleserin Ruth über unsre Roggenstoppel ging; daß Joseph seine Brüder mit dem Silberbecher dort einholte, wo die Landstraße aus unsren Wäldern trat; und daß auf unsrem Hofe der Hahn krähte, bei dessen Ruf sich Petrus umwandte, um bitterlich zu weinen. Vermutlich wird es so gewesen sein, daß die Einfachheit und Ewigkeit der biblischen Gestaltung so groß war, daß sie alle Räume und Zeiten übersprang und nach zweitausend Jahren in der Seele eines Waldkindes dasselbe Licht entzündete, das über so vielen Völkern und Ländern geleuchtet hatte wie am ersten Tag.

Nein, ich schämte mich der Tränen nicht, die ich über den Blättern der Bibel weinte. Um wieviel ärmer und kälter wäre mein Leben doch geworden, wenn ich damals nicht imstande gewesen wäre, mich mit so grenzenloser Leidenschaft an jene Welt hinzugeben, in der gesündigt und getötet wurde wie zu aller Zeit, aber in der auch geliebt, versöhnt und begnadigt wurde, und in der dies alles in einer Sprache geschah, die uns noch heute glauben läßt, daß Gott durch den Mund der Sprechenden sich geoffenbart haben müsse.

Nach heutigen Maßstäben würde diese unsre erste Führerin in dem Reich des Geistes auf der Stufenleiter des Wertes wahrscheinlich eine der untersten Sprossen einnehmen müssen. Sicherlich war sie kein Genie und sicherlich besaß sie Eigentümlichkeiten, die in der »guten Gesellschaft« nur mit Vorsicht wiedererzählt werden können. Ich erinnere mich zum Beispiel, daß sie eine leidenschaftliche Flohjägerin gewesen sein muß, ähnlich wie es in bestimmten Ländern unsrer Erde leidenschaftliche Kopfjäger gibt. Denn am Morgen, sobald wir die Oberstube zum Unterricht betraten, die bei unsren beschränkten räumlichen Verhältnissen auch ihr Wohn- und Schlafzimmer war, konnten wir täglich auf dem Rand des Schultisches, in »Reihen zu einem« sorgfältig geordnet, die Flöhe erblicken, die sie in der Nacht gefangen und getötet hatte. Wo die Toten dann blieben, weiß ich nicht mehr, aber es ist mir, als sei die gute Laune unsrer Pädagogin sehr erheblich davon abhängig gewesen, ob die Beute auch groß genug war, und es kann wohl sein, daß wir ihr infolgedessen am Abend nicht nur eine gute Nacht, sondern auch eine gute Jagd gewünscht haben.

Nach ein paar Jahren ist diese gütige Führerin unsrer ersten geistigen Schritte dann lautlos aus unsrem Leben verschwunden. Wenigstens bewahre ich keine Erinnerung an ihren Abschied.

Von ihrer Nachfolgerin weiß ich, daß sie aus Pommern stammte, daß sie groß und hager und immer schwarz gekleidet war, und daß sie der erste fremde Mensch war, der uns mitunter schlug, und zwar mit einer besonders harten, fast hölzernen Hand. Es mag daher kommen, daß ich von der Provinz Pommern lange Zeit eine sehr merkwürdige Vorstellung gehabt habe, als von einem Land, in dem schwarz gekleidete Menschen nur Schinken essen und in den dazwischenliegenden Pausen kleine Kinder prügeln.

Diese knochige und gewalttätige Dame verschwand sehr schnell aus unsrem Gesichtskreis, da auch meine Eltern wahrscheinlich mit ihrer handfesten Pädagogik nicht einverstanden waren. Und es beginnt insofern ein neuer Abschnitt unsres Geistesweges, als von nun an unsre Führung nur männlichen Händen anvertraut wird. Sicherlich zu unsrem Segen, denn obwohl wir begabt und guten Willens waren, so darf doch nicht vergessen werden, daß wir in der Wildnis aufwuchsen, daß wir mit sechs Jahren zu rauchen und zu schießen begannen, daß wir drei einige Brüder waren, sehr stark in unsrer Einigkeit, und daß neben der Gestalt der Ährenleserin Ruth auch etwa die Gestalt des jungen David uns ergriff und zu einer wenn auch unvollkommenen Nachahmung seiner Taten reizte.

Ob nun zwar die männlichen Erzieher, die in unsre Waldeinsamkeit verschlagen wurden, auch immer die starke und kluge Hand besaßen, die nötig ist, um junge Pferde vor dem Wagen zu halten, will mir nicht ganz sicher erscheinen. Fast alle waren Theologen und fast alle waren ein bißchen schwindsüchtig, und ich glaube, daß diese Mischung geistiger Erhabenheit und körperlicher Erdenschwere nicht allen Lebenslagen gewachsen war, die sich in unsrer Oberstube und in unsren Wäldern von selbst ergaben.

Denn schon ihre Krankheit, so harmlos sie sicherlich war und so wenig wir mit dem Namen anfangen konnten, den man ihr damals beilegte, war uns doch schon aus einem Grunde anziehend: weil nämlich die damalige ärztliche Wissenschaft sich zu ihrer Heilung eines Apparates bediente, der sowohl in seinem Aussehen als auch in seiner Anwendung unsre höchste Teilnahme erweckte. Denn man wird sich vorstellen können, daß ein Inhalationsapparat, aus dessen Rohr Dampf aufsteigt und über dem sich der einatmende Mund eines Hauslehrers befindet, die Augen dreier Waldkinder mit der gleichen brennenden Hingabe auf sich versammelt, wie die Augen eines Negerstammes sich auf eine Spieluhr richten mögen, die unter den Händen des weißen Mannes so unbegreifliche Töne von sich zu geben beginnt.

Und mit der Gesetzlichkeit der gleichen primitiven Neugierde machten wir uns also zunächst daran, dieses Zauberwesen in unbeobachteten Stunden auseinanderzunehmen, um seine »Seele« zu entdecken, was weder ihm noch uns besonders gut bekam. Dann aber trieb ein gesunder Wissensdurst uns weiter, und wir ergänzten die von medizinischen Autoritäten vorgeschriebene Heilflüssigkeit durch Zutaten, in deren Auswahl eine frühe Hochschätzung der Naturheilkunde sich ahnungsvoll verkündete. Daß wir zunächst auf Ameiseneier verfielen, war sicherlich ein so naheliegender wie großartiger Einfall, aber weshalb wir dann zu jungen Heuschrecken übergingen, vermag ich heute nicht mehr mit zureichenden Gründen zu erklären.

Die Hauslehrer, als Männer strenger Wissenschaft, nahmen zu unsren Methoden natürlich eine ablehnende Haltung ein, das heißt, sie erwiderten sie mit ein paar ordentlichen Ohrfeigen, wodurch aber unser freundliches Verhältnis niemals auf die Dauer getrübt werden konnte.

Die größte Dankbarkeit bewahre ich dem Letzten aus der nicht kleinen Reihe dieser unserer geistigen Führer. Über den anderen liegt in meiner Erinnerung ein dunkler Schein der Melancholie, der Makel einer leisen körperlichen Unvollkommenheit oder Gebrechlichkeit, der sie verhinderte, unser Anführer auch in unsren Spielen, Expeditionen und Kriegszügen zu sein, und da wir als natürliche Kinder von den Führenden Vollkommenheit verlangten, so nahmen wir in die Ganzheit unseres Lebens nur diesen Letzten auf, der auch, soviel ich weiß, keinen Inhalationsapparat besaß, sondern das ihm nötige Lebenselixier unmittelbar aus Gefäßen zu sich zu nehmen liebte, die einen starken Duft verbreiteten, wozu er dann etwa jeden Monat einmal in die benachbarten Dörfer sich aufmachte, aus denen er nach ein oder zwei Tagen in reumütigem und etwas verwüstetem Zustande wieder heimkehrte.

Dieser »Letzte der Mohikaner«, in seinem äußerlichen Bild durch dunkles Haar, einen schwarzen Kneifer und ungeheuerlich breite, flatternde Beinkleider von gelblicher Farbe ausgezeichnet, war ohne Zweifel ein hochbegabter Mensch, und er besaß den großen Vorzug, daß diese Begabung bei ihm alle nur denkbaren Gebiete umfaßte. Von ihm lernten wir nicht nur die Grundlagen der französischen Sprache und der Mathematik, sondern ebenso die Kunst des Schnitzens und der Laubsägearbeit, der Katapultanfertigung und der Herstellung einfacher Schleudern, die aus einem oben gespaltenen Haselnußstock bestanden, in den ein Stein geklemmt wurde, der sich dann bei einigem Geschick auf unwahrscheinliche Entfernungen schleudern ließ. Womit wir dann dem Ideal des jungen David schon erheblich näher rückten. Auch lernten wir unter seiner Anleitung drei bis vier Meter lange Haselruten oben mit einer kleinen Lehmkugel umgeben, die sich dann auf eine wunderbare Weise und Entfernung gegen Fensterscheiben verwenden ließ, auch wenn dahinter gerade der Kopf des Erfinders auftauchte und etwas besorgt nach seinen Zöglingen ausschaute.

Auch war uns an diesem unsrem Führer besonders lieb, daß er nicht immer Lust hatte, mit uns zusammen den vorgeschriebenen und harten Weg der Pflicht zu wandeln, sondern daß er es oft vorzog, aus dem Fenster der Oberstube ein Wettschießen mit Katapulten nach allem zu veranstalten, was sich im Garten bewegte. Während der Schulstunden natürlich, weil ihm dies als eine frühe Form des »Arbeitsunterrichtes« erscheinen mochte. Sicherlich hat es mir gut getan, daß ein paar Jahre lang eine starke und fröhliche Hand mich aus dem gefährlichen Hang zur Träumerei herausgerissen und vor Aufgaben und Proben gestellt hat, die sich an eine andre Seite meines Wesens wendeten, und wiewohl das Leben des Waldes ohnehin ein starkes Gegengewicht gegen das Leben des Geistes in meinem Dasein war, so verdankte ich doch dem Letzten der Mohikaner, daß nicht das eine mir als Neigung und das andere als Pflicht erschien, sondern daß beide ihre Ehren hatten, nach denen zu trachten in seinen Augen gleich verdienstlich war.

Ich erinnere mich nur einer einzigen Trübung unsrer Harmonie der Seelen und die konnte dem am meisten Betroffenen denn auch nicht verdacht werden. Es kam ihm nämlich bei einer großen Schneeballschlacht auf dem Hof der Wunsch an, jenes kleine Häuschen aufzusuchen, von dem ich als einem stillen ländlichen Zufluchtsort bereits bei der Beschreibung unsres Gehöftes gesprochen habe und dessen Tür durch ein ausgeschnittenes Herz geschmückt und veredelt war. Es war natürlich, daß wir seinen Aufenthalt in der dämmrigen Zelle achteten und ebenso natürlich, daß wir seinen Austritt aus ihr mit einem Indianergebrüll und einem zusammengefaßten Vernichtungsfeuer begrüßten. Zuerst ging dabei sein Kneifer in Trümmer und nach einigen weiteren Treffern seine beherrschte Haltung, so daß er wie ein rasender Polyphem, aber mit größerer Gewandtheit, sich auf uns stürzte und durch nachdrückliche Brachialgewalt das gestörte Gleichgewicht zwischen Erzieher und Zöglingen wiederherstellte.

Sein Abschied von uns scheint mir in der Erinnerung von einer leisen Tragik umwittert. In allen Jahren seines Lebens bei uns muß meine Mutter wohl mit Geduld und Strenge versucht haben, ihn von seinen monatlichen Wanderungen in die umliegenden Dörfer zu heilen, und vor seiner Abreise hat er ihr das feierliche Versprechen gegeben, nicht mehr zu trinken. Wir sahen seinen kühnen Schlapphut und seine flatternden Beinkleider voller Trauer am Horizont unsres Lebens verschwinden, aber die erste Nachricht, die uns über ihn wieder erreichte, besagte leider, daß man ihn in der nächsten kleinen Stadt aus der Postkutsche hatte heben müssen, und so wird er wohl trotz froher Wissenschaft und vielen Künsten immer schneller den Weg ins Elend gegangen sein. Einer der vielen, die aus ostpreußischen Gutshäusern und Forstgehöften nie mehr zu Arbeit, Pflicht und Härte zurückgefunden haben.

Sein Abschied bedeutete auch in meinem Leben mehr als das allmähliche Erlöschen eines Erinnerungsbildes. Mit ihm endete für uns das Paradies unsrer Kindheit, denn sein so fröhliches Dasein hatte leider den traurigen Zweck, uns für die Schule der Großstadt zu rüsten, und wenige Wochen, nachdem die Postkutsche ihn durch eine ihm wahrscheinlich selig beglänzte Landschaft von dannen geführt hatte, rollte unser Jagdwagen sechs Meilen weit mit uns zu unsrer nächsten Eisenbahn, und diese immer weiter und weiter mit uns aus den Wäldern der Kindheit in eine andere Welt, wo andere Götter herrschten, von denen man uns wohl erzählt hatte, aber die doch in einem unwirklichen Nebel geblieben waren, weil weder Vater noch Mutter, weder Knecht noch Mädchen genaue Kunde von ihnen hatten.

Aber ich bin der Zeit vorausgeeilt, und es darf ja auch die Erinnerung an meinen geistigen Anfang sich nicht auf die Menschen beschränken, die mich über die Schwelle führten, sondern muß auch das umfassen, was sie mir nun darboten. Und wenn ich versuche, aus der Dämmerung dieser fünf ersten Erziehungsjahre das herauszuheben, was mir in der Erinnerung, außer der Bibel, am meisten beglänzt erscheint, so kann ich nicht verschweigen, daß die entscheidenden Bücher meiner Kindheit in einer seltsamen Reihenfolge zu mir gekommen sind. Denn nach der Bibel fiel mir eines sehr frühen Tages aus den spärlichen Schätzen unsrer ersten Erzieherin ein schwerer Gedichtband in die Hände, und aus ihm stürzte die Bürgersche »Lenore«, sich wahrlich wie ein Sturmwind über mich hin. Es ist anzunehmen, daß ich von den Begebnissen dieser Ballade noch weniger verstand als von den Schicksalen jüdischer Hirten oder Propheten. Ich wußte weder von der Prager Schlacht noch wie die Toten reiten mochten; aber es wird wohl so gewesen sein, daß es, wie in der Musik, mir gar nicht darauf ankam, etwas zu »verstehen«, sondern daß die Kunst als eine dunkle Macht zum erstenmal auf eine unwiderstehliche Weise an meine Seele schlug. Es hat mich sehr viele Nächte gekostet, dies Gedicht, Nächte voll brennender und verzweifelter Tränen, und wenn ich heute sagen sollte, weshalb ich damals habe weinen müssen, so würde ich um eine Antwort verlegen sein, weil ich nicht weiß, ob nur das Geschehen der Ballade mich mit Trauer erfüllte, oder ob ihre Form, die des Gedichtes überhaupt, mich mit Schmerzen belud. Wie ich ja auch von dem Lied der Flöte nicht sagen konnte, weshalb es mich zu Tränen ergriff.

Und auch von dem dritten Buch meiner Kindertage kann ich sagen, daß seine dunkle und schmerzliche Gewalt noch heute, nach vierzig Jahren, mir so gegenwärtig ist wie damals, als ich in einer verstaubten Bodenkammer ein Buch ohne Einband fand, auf dessen zerrissenem Titelblatt zu lesen war: Spielhagen – »Platt Land«. Ich weiß nicht mehr, was in diesem Buch geschieht, und ich habe auch ängstlich vermieden, es noch einmal zu lesen. Aber unverlierbar weiß ich, wie dort ein Jäger einen Falken schießt, und der tote Vogel, herabgeschleudert aus seinem klagenden Schrei, stürzt in das Moos, und um diesen Sturz herum ist eine unsägliche Schwermut hoffnungsloser Liebe, trauriger Landschaft und unendlicher Sehnsucht.

Ja, aus diesen drei Büchern geschah wohl der Aufbruch meiner Welt. Weshalb gerade aus ihnen? Weshalb gerade zu jener Zeit? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß es gleichsam die Menschwerdung meines jungen Lebens war, und daß ich damals schon auf eine kindliche Weise alle Erkenntnis der Zukunft erfahren haben muß: daß alles Leben schwer ist und daß neben der sichtbaren Welt eine andere ist, in der das größere Leid ist, die tiefere Wahrheit, die brennendere Sehnsucht: die Welt des Buches.


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