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Als der Landauer vor dem Hauptgebäude von Ravnsholt hielt, kam gegen die Gewohnheit nur ein Dienstmädchen in der Tür zum Vorschein.
»Wie geht es dem Herrn Gutsbesitzer,« fragte Niels.
»Er ist ... er ist tot,« stammelte das Mädchen und fing an zu weinen.
»Ist er tot?«
»Ja ... er starb ... eben ... vor einer Stunde..«
»Wo ist Madame Henriksen?«
»Sie bat mich ... zu sehen ... daß ich die Herren ... wieder wegbrächte ...«
Niels wurde puterrot.
»Sagen Sie, wir wollen mit ihr sprechen!«
»Ja ...«
»Wir gehen ins Kontor.«
»Ja ...« Das Mädchen verschwand eiligst.
»Ich glaube, das Weib ist verrückt,« polterte Niels, als man in das Kontor gekommen war. »Will sie die Familie zum Haus hinausjagen?«
»Na, na, Niels,« ermahnte Franz, »fang' nun nicht gleich wieder an Krawall zu machen!«
Der Amtsrichter war ans Fenster getreten und blickte über den öden winterlichen Hofplatz hinaus, der weiß war von frischgefallenem Schnee ...
»Jetzt kommt sie ...!« sagte der Hofjägermeister.
Im Entree ertönten Schritte von vielen schweren Füßen, und die Tür wurde bedächtig geöffnet. Es war die Pompadour mit ihren drei Söhnen.
»Teufel, was mag die mit denen vorhaben?« dachte Niels und warf ihnen einen finsteren Blick zu.
»Guten Tag ...« grüßte die Pompadour ruhig »und willkommen auf Ravnsholt!«
Die Söhne sagten nichts; blieben jedoch wie eine Leibwache hinter der Mutter stehen.
Es waren große, wohlgebaute Männer mit strengen ernsthaften Gesichtern. Ihr Rücken war ein wenig arbeitsgebeugt.
Die Herren grüßten; und es herrschte für einen Augenblick Schweigen, während man sich gleichsam maß.
Dann begann Niels unsicher:
»Ja, Madame Henriksen, wir kommen nun also zu spät ...«
»Ja, zu spät kommt Ihr wohl ..« sagte die Pompadour.
»Wir wollten Onkel begrüßen ...«
»So, Ihr wolltet ihn begrüßen ...?«
Es lag über der Bauerfrau, wie sie da vor den Großgrundbesitzern stand, eine eigene bissige Wachsamkeit. Sie stand fest, wo sie stand, das fühlte man, und ließ sich nicht vom Fleck bringen.
»Na, er war ja ein alter Mann!« versuchte Niels in einem leichteren Ton.
»Ja, das war er freilich ...« klang es seelenruhig.
»Wollen Sie sich nicht setzen, Madame Henriksen ...?«
»Danke, ich stehe ganz gut so ...«
Jetzt verlor Niels die Geduld und ging gerade aufs Ziel los.
»Können Sie, Madame Henriksen, sich wohl denken, welche testamentarischen Dispositionen mein Onkel hinterlassen hat?« fragte er geschäftsmäßig.
»Das könnte wohl sein ...« sagte die Madame.
»Ja, Madame Henriksen, Sie sind ja durch lange Jahre die einzige Vertraute des Verstorbenen gewesen .. Und ich kann im Namen sämtlicher anwesenden Erben versichern, daß es von unserer Seite nicht an Erkenntlichkeit für Ihre treuen Dienste fehlen soll.«
Franz und Palle nickten beistimmend.
»Danke,« sagte die Pompadour, ohne eine Miene zu verziehen, »aber wir helfen uns schon allein durch ...«
Niels wäre beinahe auf sie losgefahren, beherrschte sich jedoch.
»Ja, mein Onkel hat wahrscheinlich Sie und ... und ... die Ihrigen bedacht,« nickte er kurz. »Na aber, um uns an das Naheligendere zu halten ... mein Bruder und ich werden schon in bezug auf das Begräbnis alles Erforderliche veranlassen, wenn Sie, gute Henriksen, für diesen Tag die Bewirtung hier übernehmen wollen. Es wird sich wahrscheinlich ein ganzer Haufen guter Menschen einfinden, die dem Dahingeschiedenen die letzte Ehre erweisen wollen ... Er war ja allgemein beliebt. Aber Sie können ja so viel Hilfskräfte heranziehen, wie Sie brauchen; geknausert wird nicht, verstehen Sie ... Hat mein Onkel den Wunsch nach einem bestimmten Prediger geäußert?«
Die Pompadour stand ruhig und unangefochten und hörte sich Niels Uldahls lange Rede an. Aber ihre Söhne schielten scheu zueinander hinüber und bewegten die Füße nervös hin und her. Und endlich fuhr es Hans, dem Ältesten, heraus:
»Du kannst es ja schließlich auch gleich sagen, Mutter..«
»Was gibt es zu sagen?« fuhr Niels rasend auf; er hatte die ganze Zeit das Gefühl gehabt, daß hinter der mürrischen und abweisenden Haltung der Frau etwas Drohendes läge; und nun war seine Selbstbeherrschung zu Ende. – »Was gibt es zu sagen?« wiederholte er, als keiner sogleich antwortete. »Was habt Ihr für heimtückische Streiche begangen? Verflucht nochmal! Es sollte mich nicht wundern, wenn Ihr den alten Lumpen dadrinnen zu allem Möglichen herumgekriegt hättet!«
Palle packte ihn hart beim Arm.
»Aber, Onkel, bedenke doch in welchem Hause du dich befindest!«
»Laß mich los, Junge!«
»Lieber Onkel Niels ...« versuchte der Amtsrichter.
»Halt den Mund! ich brauche keinen Vormund!«
Er war ganz außer sich und fuhr im Zimmer hin und her und fuchtelte mit den Armen.
Da ging Franz still zu der Frau hin und fragte fast freundlich:
»Na, was haben Sie uns zu sagen, Madamchen, damit die Sache ein Ende hat?«
Die Pompadour wandte sich zögernd und ratlos zu den Söhnen um. Jetzt, da es heraus sollte, war es doch nicht so leicht. Aber die Söhne nickten alle drei kurz und bestimmt, und Hans, der Älteste, wiederholte:
»Ja, sag' es nur Mutter; sie müssen es ja doch erfahren ...«
Doch noch einen Augenblick zögerte sie. Es war auch eine mächtige Nachricht, die sie zu überbringen hatte; ihr schwindelte fast bei dem Gedanken an die Wirkung.
»Was ich zu sagen habe ist,« begann sie dann langsam, »daß der Herr Gutsbesitzer sich heute Vormittag mit mir verheiratet hat...«
Nun war es heraus, und jetzt erlangte sie ihre alte Sicherheit wieder.
»Jetzt gehört also Ravnsholt mir und meinen Jungens, und wir werden schon selbst für das Begräbnis und alles was noch sonst zu tun ist, sorgen!«
»So ein Satansstreich,« fuhr es Franz überrascht heraus. Und die Hände des Hofjägermeisters ballten sich unwillkürlich: freilich war man auf allerhand gefaßt gewesen, aber dies war doch zu gemein von dem Alten.
Niels stand einen Augenblick vollständig gelähmt; aber dann stürzte er plötzlich wild vor Wut auf Isidor Seemann los und schrie ihm ins Gesicht:
»Steh' nicht da wie ein Stück Vieh! Weshalb denkst du, haben wir dich mitgenommen? Sag' doch dem Weib und ihrem Hurengezücht Bescheid! ... Aber du freust dich natürlich für sie! Du mit deinem Zeichenlehrer von Vater!«
»Niels, aber Niels ...!« ertönte es von neuem von Franz.
Aber Isidor sagte ruhig:
»Da ist gar nichts zu sagen, Onkel Niels; wir haben ja vorhin den Probst und den Rechtsanwalt getroffen; es ist alles also wahrscheinlich rechtsmäßig in Ordnung gebracht.«
»Ja,« nickte Hans, der Älteste, »alles ist, wie es sich gehört, es hat also kein anderer hier auf Ravnsholt was zu sagen als wir.«
»Aber der Herr Gutsbesitzer hat doch für jedes der Fräuleins dreißig Tausend sicher gestellt...« fügte Jeppe, der Zweitälteste, besänftigend hinzu.
»Und wenn Ihr noch irgend etwas von Möbeln oder so haben wollt, dann werden wir uns auch nicht widersetzen ...« schloß Anders, der Jüngste.
Die beiden andern Brüder nickten bestätigend: und Madame Henriksen sagte:
»Nein, solange Ihr nichts Unbilliges verlangt.«
Alle waren sie gewissermaßen verlegen und beschämt über das unerwartete Glück, das ihnen widerfahren. Nie hatte sie zu denken gewagt, daß dies geschehen könne; und sie begriffen den Zorn und Gram der Uldahls so gut ... aber nun das Wunderbare einmal geschehen war, würden sie schon ihr Recht zu verteidigen wissen.
Aber Niels fuhr auf:
Also der alte Halunke wollte ihn mit einem Gnadenpfennig für seine Töchter abspeisen? In alle Ewigkeit würden sie keine Erlaubnis bekommen, ihn anzunehmen. Er wäre wohl Herr in seinem Hause und hätte die Macht zu verhindern, daß seine Mädels Almosen empfingen. Noch war er Gott sei Dank imstande, sie zu füttern ... »Den Wagen bestellen!« kommandierte er plötzlich. »Nicht eine Sekunde länger bleibe ich in dieser Schindelbude! Bestell' den Wagen, Isidor! Wir wollen machen, daß wir fortkommen!«
Franz und Palle meinten dasselbe: Was sollten sie länger hierbleiben, da war ja nichts zu machen.
Aber jetzt erwachte die Hausmutter in der Pompadour.
»Wollt Ihr nicht einen Bissen Brot und einen Tropfen haben, ehe Ihr wegfahrt?« fragte sie. »Es ist doch ein langer Weg ... und den Pferden tut es doch auch gut, sich ein bißchen zu verschnaufen.«
Niels antwortete nicht. Seine Augen hatten begonnen, forschend in den Ecken des Bureaus umherzuwandern. Plötzlich war ihm wieder der Elfenbeinstock, das Familienkleinod, eingefallen. Und wenn er das ganze Haus auf den Kopf stellen sollte, er wollte ihn mitnehmen.
»Wo ist der Stock, den mein Onkel beim Gehen zu benutzen pflegte?« fragte er brüsk.
Madame Henriksens Augen bekamen einen scheuen Ausdruck.
»Das weiß niemand.« sagte sie. »In den Monaten, in denen der Herr Gutsbesitzer krank lag, hat ihn keiner gesehen.«
»Quatsch! Ich gehe nicht aus dem Hause, bis ich ihn habe.«
Und Niels stürzte ins Entree hinaus und suchte und suchte, und als er den Stock dort nicht fand, brach er in die Wohnstuben ein, wo die »Läufer« schmale Pfade von Tür zu Tür bildeten. Er guckte hinter Schränke und Sofas, in alle Ecken und Winkel.
Madame Henriksen war hinter ihm her gelaufen, damit er kein Unheil anrichte; und sie hätte ihn am liebsten zurückgehalten, wenn es ihr möglich gewesen wäre.
»Wenn wir den Stock finden, so werden wir ihn dem Herrn Gutsbesitzer schon herüberschicken!« wiederholte sie immer wieder, während sie weiter vordrangen. »Finden wir den Stock, so werden wir ihn dem Herrn Gutsbesitzer schon herüberschicken, denn es ist ja ganz recht und billig, daß ihn der Herr Gutsbesitzer jetzt bekommt.«
Aber Niels achtete nicht auf ihre Worte. Er lärmte weiter. Der Stock mußte gefunden werden! Das fehlte bloß noch, daß sie ihn auch darum betrogen.
Er durchsuchte das Gartenzimmer und das Eßzimmer und die anstoßenden Stuben, da war er nicht. Und er kam in den halbdunklen Flur hinaus, wo der alte Rinaldo vor Joachims Tür lag. Der Hund hob den Kopf und kläffte. Aber es war kein Laut zu hören.
Die Pompadour stellte sich schnell vor die Tür:
»Nein nein,« sagte sie, »da können der Herr Gutsbesitzer nicht hinein, da liegt doch die Leiche!«
Niels packte sie am Arm, um sie wegzuzerren; aber sie war stärker als er, so daß sie gleichsam mit einander rangen.
»Verfluchtes Weib!« zischte er, und erhob die Hand zum Schlage.
Aber sie stieß ihn hart vor die Brust, daß er zurücktaumelte. Und im selben Augenblick entschlüpfte sie ihm und lief durch die Stuben davon. Er schlug hastig mit der Hand auf die Türklinke, um zu öffnen. Aber die Tür war verschlossen. Der Schlüssel hatte draußen gesteckt; und die Pompadour hatte ihn heimlich umgedreht und mitgenommen ... Da begann Niels Uldahl in unbändiger Raserei mit Händen und Füßen auf die Tür loszuhämmern, daß es durch das Haus dröhnte...
Gleich darauf kamen die anderen herzugelaufen und hielten ihn fest.
Der Landauer rollte heimwärts auf Havslunde zu. Die vier Herren saßen wieder in ihre Pelze gehüllt. – Nachdem man Niels Uldahl fast mit Gewalt auf seinen Platz im Wagen niedergedrückt, hatte er erst geschimpft und geflucht und getobt. Dann war er plötzlich umgeschlagen und hatte begonnen zu jammern und zu klagen, daß er ein vollständig ruinierter Mann sei, jetzt, da er so schändlich um das Erbe von Ravnsholt betrogen wäre. Aber als Franz und Palle sofort interessiert die Ohren gespitzt, hatte er plötzlich geschwiegen, und es war kein Wort mehr aus ihm herauszubringen.
Nun saß er und schlief oder er tat, als ob er schliefe. Und bald darauf waren auch die andern Herren eingeschlummert. Ihre Augen schlossen sich und ihre Köpfe folgten willenlos wackelnd den Bewegungen des Fuhrwerks.
Nur der Amtsrichter hielt sich wie auf der Hinfahrt vollkommen wach. Er zündete sich eine Zigarre an und starrte gedankenvoll über die schneebedeckten Felder hinaus.
Aber plötzlich wurde er in seinem Träumen von einem leisen zischenden, sprudelnden Laut gestört.
Es war der Kragholmer, der vom Lachen überwunden wurde ...
Heute ist Vater also endlich zu seinem reizenden Reichstag zurückgereist. Weißt du, was Charlotte, Frederikke und ich taten, Isidor, als er aus dem Hof hinausfuhr? Wir faßten einander bei den Händen und liefen draußen im Entree im Kreise herum, bis wir alle drei in einem Haufen übereinander fielen und lagen und lachten, daß wir garnicht mehr auf konnten. Ach, aber es ist doch trotzdem so traurig, daß Kinder ihrem eigenen Vater gegenüber so fühlen müssen! Und es ist gar nicht wahr, was Vater den Leuten einbilden will, daß Mutter schuld daran hat, daß wir ihn hassen, denn gerade sie geht immer umher und ermahnt uns, freundlich gegen ihn zu sein; und die Mädels geben sich auch Mühe, es zu tun, aber ich nicht! Und wenn er auf seinen bloßen Knieen angerutscht käme und mich bäte, ich täte es nicht! Es mag schon sein, daß ich hysterisch bin, wie Anna sagt, aber ich würde vor Scham vergehen, wenn ich vor jemandem katzbuckeln sollte, den ich hasse, und ich hasse Vater; er hat mein ganzes Leben zerstört, denn so wie er Mutter behandelt. Ich versichere Dir, Vetter Isidor, ich hätte ihn töten können, als er neulich seine widerwärtige Rede hielt; hätte ich einen Revolver gehabt, so hätte ich ihn niedergeschossen, wie ein schädliches Gewürm! Er »unglücklich«, wie Du mit Deinem guten Herzen sagst. Nein, er ist schlecht, schlecht, schlecht! sonst kann man so etwas nicht tun. Und weißt Du was, Vetter Isidor, nun werde ich Dir etwas Ernsthaftes sagen, was ich niemand anders anvertraut habe, aber dieses traurige Verhältnis zwischen Vater und Mutter hat es bewirkt, daß ich nicht mehr an Gott glaube! Das ist fürchterlich, nicht? Und ich bin auch selbst so schrecklich unglücklich darüber, aber ich kann nicht. Ich sagte es neulich der Ingwersen, denn sie ist auch die einzige, der ich mich anvertraut habe, und sie sagte, das wäre eine der sieben Todsünden, für die es niemals Vergebung gibt! Pah, was ich mir daraus mache, erwiderte ich ihr, dann werde ich eben verdammt! Aber die Sache ist ja trotzdem die, Vetter Isidor, daß ich doch Angst habe. Und zwar besonders abends, wenn ich ins Bett gekommen bin und kein Abendgebet bete; dann höre ich so viele seltsame Laute, die bei mir im Zimmer umher pusseln, und die Luft bewegt sich, es schleichen welche herum und schleppen ihre Gewänder auf dem Fußboden nach sich, und dann denke ich, jetzt kommt es, da ist es! Und dann bohre ich mich tief unter der Bettdecke ein, und liege da und merke, wie die Geister mein Bett erfassen und es hin und her schaukeln; und dann bin ich so entsetzt, daß ich die Hände falte und doch mein Abendgebet bete, und das hilft gewöhnlich; aber Donnerstag Abend mußte ich es dreimal beten, ehe das Bett stillstand; und dann sehe ich den Verwalter Jensen draußen in der Scheune hängen und Mamsell Helmer, die dasteht und über ihn grient, und die entsetzliche Alexandra der Spat-Marie, die ja meine Schwester sein soll! Ach, Isidor, Du darfst nicht böse auf mich werden und glauben, daß meine Liebe zu Dir nicht echt ist, aber wie sehr wünsche ich doch manchmal, daß ich an einem Herzschlag oder einem Blutpfropf sterben könnte, denn dann wäre doch das Ganze vorbei.
Aber jetzt ruft mich Frederikke, und ich muß schnell schließen, denn wir wollen hinaus und mit Mikkel rutschen, Du weißt schon, das kleine isländische Pferd, das Vater uns geschenkt hat, es zieht den Schlitten den Hügel hinauf und dann rutschen wir herunter, das ist so lustig.
Natürlich habe ich mich lumpig betragen, und bin jetzt ebenso entzückt über Mikkel wie die Schwestern: aber nicht wenn der alte Kerl zu Hause ist!
Leb wohl! In Eile!
Bis in den Tod Deine
S.
Weißt Du, was mein Tagebuch für eine Aufschrift hat? Da steht:
Zerstreute Blätter an I. S.
oder dem,
den ich am heißesten auf der Welt liebe,
von ihm zu lesen
nach
meinem Tode
S. U.-E.
Schon am Tage nach Onkel Joachims Tode war Niels Uldahl nach Kopenhagen zurückgereist, nachdem er zuvor in einem rasenden Schreiben dem Erbschaftsgericht mitgeteilt hatte, daß seine Töchter das ihnen zugedachte Erbe nicht anzutreten wünschten. – Und beim Begräbnis des Alten war die Familie einzig von Isidor Seemann repräsentiert worden.
Auf Kragholm, erzählte man sich, hatte Frau Karen ihren Mann eingeschlossen, damit sein gutes Herz nicht mit ihm davonliefe. Und auf Hvidgaard hatte die Herrschaft vollauf mit ihren eigenen Angelegenheiten zu tun.
Denn trotzdem Frau Mona nun mit ihrem Palle gut an die zwölf Jahre verheiratet gewesen, war sie doch noch immer nicht zur Ruhe gekommen. Das Zigeunerblut prickelte ihr in den Adern, und kein Tag ging zu Ende, an dem sie nicht mindestens zehnmal daran dachte, von der ganzen bürgerlichen Herrlichkeit zu fliehen und ihr altes vogelfreies Gewerbe wieder aufzunehmen. Aber noch saß sie fest. Es band sie so vieles: das reizende Heim, der prachtvolle Mann, Pferde, Wagen, Kutscher, Diener, Gold und Ehre.
Und trotzdem, trotzdem! Es wurde immer schlimmer für sie, dieses Gefängnisleben auszuhalten. Nun war sie fünfunddreißig Jahre; in kurzer Zeit, dann würde sie eine alte Frau sein!
Dieser Gedanken konnten sie wild und unbändig machen. Der Firnis glitt von ihr ab, und sie konnte inmitten des weißen stillen Hofes stehen wie das Mädel aus dem Kopenhagener Hinterhause und einen Strom gellender Schimpfworte ihrem friedliebenden Mann nachsenden, der in solchen Stunden am liebsten die Flucht ergriff in die Wälder hinein, oder über die Felder ... Und wenn er sich nach Stunden wieder zeigte, dann warf sie sich ihm reuig an die Brust und bat und bettelte um Versöhnung, um Vergebung.
Und er nahm sie in seine starken Arme. Und sie vergaßen alle Streitigkeiten ...
Aber immer wieder kam die Sehnsucht nach dem freien und ungebundenen Leben früherer Zeiten in ihr zum Durchbruch.
»Palle« konnte sie bitten und sich auf seinen Schoß einschmeichelnd ducken, »Pallemännchen, hör' mich nun an, und sage Ja ... Laß uns den ganzen Kram hier verkaufen, einen Zirkus erster Klasse einrichten und in der Welt umherreisen. Mona Lisa ist noch nicht vergessen. Glaub mir's, wir werden Geld verdienen! ... Und wenn wir dann Gicht und Podagra kriegen, dann können wir ja Hvidgaard zurückkaufen und bis ans Ende unserer Tage hier im Rollstuhl herumfahren, dann haben wir doch wenigstens gelebt!«
Aber »der wilde Mann« schüttelte lächelnd den Kopf.
»Nein, nein, Monachen, das geht nicht; darauf verstehe ich mich nicht ... und ich will dich auch am liebsten für mich selbst behalten. – Aber nun will ich dir etwas sagen, mein Kind; jetzt baue ich dir eine Reitbahn hier unten hinter der Meierei, du weißt unter den großen Ulmen an der Straße. Und dann kaufe ich dir ein paar richtige Araber: dann kannst du so toll reiten und dich vergnügen wie es dir paßt!«
Sie fiel ihm entzückt um den Hals:
»Ha, aber das Publikum?« fragte sie dann. »Wo bekommen wir das Publikum her? Ich kann nicht ohne Publikum arbeiten.«
»Das Publikum ...?« sagte er und klatschte sich auf den Schenkel, »das Publikum ... das bin ich! Palle Uldahl, der Einzige auf Hvidgaard! Denkst du, ich werde andern Leuten das Vergnügen gönnen!«
Und die Reitbahn wurde gebaut und die Pferde wurden gekauft, und Mona Lisa begann von neuem, heiß vor Eifer, sich im Schulreiten und in der Pferdedressur zu üben. Ihre Kommandorufe und ihr Feldgeschrei erklangen weit über die Landstraße hin, daß die Bauern sich bekreuzigten, wenn sie vorbeifuhren.
Und sehr lange begnügt sich Palle nicht mit der Rolle eines Zuschauers: Frau Monas Begeisterung riß ihn mit sich fort, er wurde ihr Schüler und lernte Kunst- und Schulreiten, und sie jagten Seite an Seite im wildesten Parforce-Rennen in der Manege umher, wo die Stallknechte mit Stangen und Reiserhürden standen, über die die Pferde hinwegsetzten, daß die Sägespäne hochflogen.
Es waren zwei prachtvolle, schwarze Hengste, die sie ritten, Castor und Pollux, feine schlanke und nervöse Geschöpfe, wie Mona Lissa selbst, und wenn die Tiere davonjagten, mit fliegenden Mähnen und prustenden Nasenlöchern, aufgeregt bis zur Wildheit und zitternd vor Ungeduld, dann konnte Frau Mona, von einem so süßen Rausch ergriffen werden, daß sie vergaß, wer und wo sie war, sich hintenüber auf den Rücken des Pferdes warf und den Schrei ausstieß, der einst in ihren Zirkustagen den Zuschauern das Blut wie Feuerbäche durch die Adern gejagt hatte.
Und dann hielt Palle Uldahl sein Pferd an in atemlosen Entzücken.
»Mona, Mona!« schrie er, und eine Angst durchzuckte sein Herz, eine Angst davor, daß es einmal ein schlimmes Ende nehmen würde.
Aber Mona lachte und peitschte auf die Weichen der Pferde los:
»Hai! – Hoppla, Castor! ... Hu – iii!«
Und Castor setzte in einem Sprunge mit ihr durch das Tor und in den Stall hinein, der durch einen Anbau mit der Manege in Verbindung gebracht worden war ...
Aber gegenüber in dem entgegengesetzten Giebel waren ein paar Bade- und Ankleidezimmer mit teppichbelegten Fußböden und weichen Lotterbänken eingerichtet worden. Hierhin zog sich die Herrschaft nach beendeter Vorstellung zurück, nahm ein Bad und kleidete sich um, während die Reitknechte draußen in den Ställen die dampfenden Pferde abrieben – und allerhand Witze zum besten gaben.
So verstrichen ein paar Jahre. Und als Mann und Frau an einem Wintertage nackt dastanden und sich in einem der Ankleideräume frottierten, da kam Mona Lisa wieder auf ihre fixe Idee zurück.
»Jetzt können wir doch Hvidgaard verkaufen, Pallemännchen,« sagte sie, »und einen Zirkus errichten, denn jetzt bist du ebenso tüchtig wie ich!«
Aber Palle schüttelte wieder den Kopf:
»Nein, Monachen, das geht nicht, ich passe nicht dazu. Dies hier ist etwas anderes, nur zu unserm Vergnügen, aber so in der Welt herumstreifen und sich zu zeigen ... Nein, nein!«
Und er schlang die Arme um sie und drückte sie an sich.
»Aber beeil' dich, daß du ein bißchen schnell in die Kleider kommst,« sagte er, »dann sollst du einmal sehen. Der russische Schlitten, den ich für dich bestellt habe, ist heute morgen gekommen und steht drüben in der Wagen-Remise.«
»Ist er angekommen? Und das sagst du erst jetzt!«
Den »russischen Schlitten« hatte Frau Mona in einem ausländischen Blatte abgebildet gesehen und mächtige Lust darauf bekommen. Und gleich hatte ihr Mann sich einen aus Petersburg verschrieben.
Dieser Schlitten hatte nur einen hohen, schmalen Sitz, auf langen, dünnen Kufen und war nur von einer Person zu benutzen. Aber gerade dies hatte ihr gefallen: man denke sich Castor und Pollux vor ein solches Gefährt zu spannen und dann unter Peitschengeknall und Glockenklang davon zu fahren, daß der Wind einem um die Ohren pfiff.
Und nun stand der Schlitten da, rot lackiert und strahlend mit einem großen Eisbärfell auf dem Sitzleder und zwei hohen, vergoldeten Laternen-Standern hinter dem Schirmnetz! Wie ein Märchen mußte es sein in diesem Schlitten in einer mondlichten Nacht über die weißen Landstraßen dahinzurasen, wenn der Schnee unter den Hufen der Pferde schrie und die Sterne vor Kälte lachten!
Und Abend für Abend ließ nun Frau Mona den Winter hindurch den Schlitten anspannen und fuhr dann mit Masten und Bändern und klingelndem Glockenspiel über die Zugbrücke fort, während der Schimmer der hohen Standlaternen in dem blankgestriegelten Körper der Pferde unter dem wogenden Schlittennetz spielte.
Und rings um sie herum kläffte und raste die ganze Hundemeute, warf einander um, biß sich, raufte sich und bellte drauf los ... Hektor, Freya, Herkules, Sonja, Chasseur ... und jagte dann im Galopp dem Schlitten nach, über die öden Wege.
Es war wie König Waldemars wilde Jagd, die allen Frieden auf Weg und Steg zu Schanden machte.
Und ehrliche Nachtwanderer flüchteten entsetzt in den Chausseegraben hinunter, wenn diese Vision näher kam. Und da standen sie dann bis an den Bauch im Schnee und starrten ihr nach und konnten nicht wieder zu Atem kommen.
»Das Teufelsding!« murmelten sie. »Das Teufelsding von Kunstreiterfrau! Sie wird sich noch einmal um den Hals jagen!«
Und sie krabbelten mühsam aus dem Schnee hervor, während der Zug weiterraste ...