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Mamsell Ingwersen hatte sich glattweg geweigert, das Asylzimmer zu verlassen. Es war mit ihrem Asthma seit mehreren Monaten schlecht gegangen. Jetzt hatte sich diese Krankheit freilich in der schönen, lauen Sommerluft gebessert. Aber nun hatte sie Nierengries in den Beinen bekommen, sagte sie. Und wenn die Rottböl und die Lurvadt in den Park hinausgingen, um sich zu sonnen, blieb die Ingwersen ständig auf ihrem Stuhl sitzen und schimpfte sich in langen Monologen aus.
Solange sich die beiden anderen dagegen bei ihr im Zimmer befanden, wurden sie von ihr unablässig und ärgerlich aufgefordert, hinauszugehen und ihre Jugend zu genießen. Sie wäre am allerliebsten allein!
Aber kaum waren sie fort, als die Ingwersen sich in düstere Grübeleien über den menschlichen Egoismus und ihre eigene Verlassenheit erging ...
Fräulein Sophie steckte den Kopf zum offenstehenden Fenster des Asyls hinein. Einen Augenblick später erschienen Türks markierte Gesichtszüge neben ihr. Er hatte die Vorderpfoten auf das Fensterbrett gelegt. Das Fräulein schlang einen Arm um seinen Hals. So standen sie da.
»Ingwersen,« sagte das Fräulein, »unten auf dem Baderasen gibt's Schokolade!«
»Was geht's mich an ...« knurrte die Ingwersen.
Aber ohne zu antworten krabbelte Sophie durch das Fenster und Türk sprang hinterher:
»Ih du mein Herr und Schöpfer!« schrie die Ingwersen, als sie die beiden erblickte.
Und während sie widerstandslos vor Entsetzen dasaß, staffierte das Fräulein sie mit Hut und »Mantille« aus, vertauschte ihre »Babuschen« mit Lederschuhen, hob sie vom Stuhl auf, schob ihren Arm unter den der Alten und sagte dann:
»Jetzt gehen wir!«
»Wir kommen im Leben nicht vorwärts ...« jammerte die Ingwersen zwischen Lachen und Weinen.
»Natürlich kommen wir vorwärts!« sagte das Fräulein, »und wenn Sie müde werden, Ingwersen, dann lassen wir Sie auf Türk reiten. Kommen Sie!«
Und Schritt für Schritt zockelten sie vorwärts über den Hof und in den Park hinein ...
Der »Hausherr« war vom frühen Morgen ab aus dem Hofe geritten.
Unten auf dem Baderasen war vor dem »Platz der Gnädigen« der Schokoladentisch aufgestellt. Die Tassen und Kannen leuchteten im Sonnenschein. – Die jungen Damen waren im Bade gewesen, und ihre bunten Badeanzüge lagen zum Trocknen auf dem Rasen und streckten Arme und Beine aus.
»Da kommen sie!« sagte Frederikke und deutete zur Lindenalle hinauf, wo Sophie und die Ingwersen eben auftauchten.
»Ich wußte es,« nickte die Lurvadt. »Die Ingwersen will bloß, daß man recht viel Umstände mit ihr macht! Ihre Beine sind lange nicht so schlimm wie meine!«
Frau Line saß schweigend da und blickte zu Jungfer Rottböl hinüber, die sich dort in der Nähe des Badezeltes mit ihren Puppen zu schaffen machte.
Die Mamsell hatte seit Weihnachten noch drei Kinder bekommen und besaß nun vier, wie im Lenz ihrer Jugend. Aber am liebsten hatte sie die Weihnachtspuppe Nikoline, welche die größte war, und die sie, ihrer Behauptung zufolge, mit Onkel Joachim aus Ravnsholt sechs Tage nach dessen Tode bekommen hatte. Er hätte sie besucht, in derselben Nacht, in der er begraben wurde, erzählte sie; und Nikoline lag schon am nächsten Morgen fix und fertig und angezogen neben ihr im Bett. – Gott ist groß!
Die Rottböl trug die Kinder ins Zelt hinein und wieder hinaus, ging mit ihnen spazieren, fuhr sie in Fräulein Sophies altem Puppenwagen umher, trällerte ihnen etwas vor, wenn sie nicht schlafen wollten, nahm sie auf und ließ sie kleine notwendige Geschäfte hinter den Büschen verrichten, stopfte sie wieder in den Wagen und fuhr weiter, während sie ab und zu laut und gellend ein paar Zeilen ihres Lieblingsliedes anstimmte vom Land der Träume, dem lichten, das nichts Böses oder Schlechtes erreichen konnte ...
»Rottböl!« rief Frau Uldahl, »jetzt gibt's Schokolade!«
Und die Mamsell kam angerollt mit allen vier Rangen im Wagen zusammengepackt, den sie neben sich und dicht an die Bank stellte.
»Sie schlafen ...« flüsterte sie, und erhob beschwichtigend den schwarzpunktierten »Nähfinger«. »Jetzt schlafen sie ...!«
Aber plötzlich begann sie jämmerlich zu weinen.
»Was gibt's denn nur, Rottbölchen?« fragte Frau Line.
Die Rottböl deutete verzweifelt zur Lurvadt hinüber.
»Sie hat ...« winselte sie, »sie hat ... den ›Großen‹ .. genommen ... den ... ich ... so gern ... haben wollte ...!«
»Bitte schön,« sagte die Lurvadt, und reichte ihr den »Großen« Wecken, von dem nur ein Happen abgebissen war – »Hier ist er. Und jetzt schweig' stille!«
Als die Mahlzeit beendet war, fingen die Köchin Anne, das Stubenmädchen Olga und die vier Fräuleins an, »zwei Freier für eine Witwe« zu spielen. Aber dessen wurden sie schnell überdrüssig, wahrscheinlich, weil kein »Freier« da war, und begannen dann einander mit den halbnassen Badeanzügen zu bombardieren, die sie zusammen ballten und nach einander schleuderten.
Und die Kleidungsstücke lösten sich auf ihrem Wege durch die Luft auf und glichen klobigen Ballonfiguren, die manchmal zusammenstießen und mit einem nassen, klatschenden Laut zur Erde fielen, während die Mädchen herzueilten, um sie wieder aufzuraffen und sich herumtummelten und rauften und purzelten und lachten (namentlich die Köchin Anne.) daß es zwischen den Bäumen und weit über das Wasser hin widerhallte ...
»Ja, Sie wissen wohl, Ingwersen, daß Niels den Hof dem Kreditverein übergeben mußte?« fragte Frau Line, die eine Weile schweigend dagesessen und dem Spiel der Jugend zugesehen hatte.
Die Lurvadt ging und deckte den Tisch ab und tat die Sachen in die Körbe.
»Ja ...« nickte die Ingwersen und ihre cholerischen Äuglein glänzten. »Und jetzt will wohl die drüben, Karen, Kragholm an einen von Madame Henriksens Jungens verkaufen ...! Der Name Uldahl geht vor die Hunde, ja wohl ...! Was glauben die gnädige Frau, würde der Herr Staatsrat dazu gesagt haben!«
»Niels ist gewiß auch nach Kragholm gefahren, um es ihr auszureden, Ingwersen ...«
»Hä! Was geht es ihn an. Er hätte lieber vor seiner eigenen Tür kehren sollen, als noch Zeit war.«
Frau Line schwieg und wandte sich wieder zu den Mädchen um.
»Ja, aber wir sitzen doch hier, Ingwersen ...« versuchte sie.
»Ja, – e ... so lange es dauert,« nickte die Alte. »Aber ich lasse mich nicht hier heraussetzen, wie von Egesborg ...! Nicht, ehe man mich heraus trägt.«
Frau Uldahl beugte sich beruhigend zu ihr:
»Wir bleiben hier, Ingwersen,« sagte sie. »Natürlich bleiben wir hier!«
Die Rottböl war mit ihrem Puppenwagen zum Zelt zurückgetrippelt.
Sie stand und blickte über die Bucht hin, die grünlich in der Sonne spielte. Ihr Gesicht wurde immer fröhlicher, als ob sie an etwas ganz besonders Vergnügliches dächte.
»Rododendron ...!« flüsterte sie dann mit einem lichten Lächeln. »Roden–loden–doden–dendron ...« (Sie hatte vor ein paar Tagen gehört, daß eines der jungen Mädchen dieses Wort gebrauchte) ... Und dann begann sie emsig und eilig flache Steinchen vom Strande aufzuheben und im Wasser Kreise zu werfen.
Bis sie plötzlich mitten in dem Vergnügen innehielt und anfing, bitterlich zu weinen:
»Eine Mutter muß nur an ihre Kinder denken.«
Und plötzlich war es ihr eingefallen, daß sie schon lange, gewiß schon an die hundert Jahre, völlig an die ihren vergessen hatte!
Und sie lief eiligst zum Badezelt, holte die Puppen, eine nach der andern, aus dem Wagen hervor, küßte sie heftig, knöpfte sich die Taille auf und legte sie an die Brust.
»Trinkt man ...!« sagte sie und lächelte wieder und war glücklich ...
»Lurvadt, hilf mir auf!«
Die Lurvadt gehorchte ...
Aber als sie sich in Bewegung setzen wollten, zeigte es sich, daß die Beine der Ingwersen den Dienst versagten. Sie sank mit einem Stöhnen auf der Bank um und erklärte kategorisch, daß sie hier sterben wolle, und daß es ein Schuftenstreich sondergleichen gewesen wäre, daß Fräulein Sophie sie hier heruntergezottelt hätte!
Die Mädchen kamen herzugelaufen, rot und warm vom Spiel.
»Was gibt's denn, Ingwersen?« fragte Fräulein Frederikke.
»Was es gibt?« keifte die Alte, und wand sich vor Schmerzen, »das ist mein Nierengries, selbstverständlich!«
»Es heißt Ameisenkribbeln, Ingwersen!« korrigierte Charlotte. »Du hast Ameisenkribbeln in den Beinen!«
»Ja, das ist die Gicht,« sagte die Lurvadt, »das habe ich ihr schon hundertmal erzählt.«
»Es ist ganz gleichgültig, was es ist,« erklärte die Ingwersen. »Aber ich rühre mich nicht vom Fleck. Hier will ich sitzen und sterben. Am liebsten wäre es mir, wenn ihr alle miteinander eure Wege ginget und mich in Frieden krepieren ließet, weiter wünsche ich nichts.«
»Na, na, kleine Ingwersen ...« tröstete Frau Line, »wenn du meinst, daß du das Gehen nicht aushältst, dann wird die Köchin Anne dich gewiß gern tragen; sie ist so stark.«
»Ich nehm' sie wie 'ne Feder!« sagte Anne.
Die Ingwersen wurde puterrot.
»Tragen ...!« wiederholte sie – »Mich tragen! Solange ich lebe nicht. Was wollte Sophie auch mit mir hier unten! Ich habe es doch gesagt! Ich alter gichtbrüchiger Mensch, der nie hätte sein Bette verlassen sollen.«
Fräulein Sophie war äußerst unglücklich. Und sie standen alle und sahen hilflos aus ...
Da sagte plötzlich Fräulein Frederikke:
»Jetzt hole ich einen Wagen!« und flog davon, dem Hofe zu.
Alle sahen ihr lange nach und dachten:
Was mag das wohl für ein Wagen sein ...?
Und Fräulein Sophie empfand es wie einen Stich ins Herz, als sie daran denken mußte, daß Niels Uldahl um seine Töchter so recht zu kränken und zu ärgern, seinem Zechkumpan, dem Schmied, sowohl »Mikkel« wie das kleine Fuhrwerk überlassen hatte, das er den Mädchen zu Weihnachten geschenkt hatte. Eines Morgens, als sie in den Stall hinabkamen, waren Pferd und Wagen fort gewesen. Und der Schwerenot-Jens hatte erzählt, daß der Schmied nachts damit weggefahren wäre, da der Hausherr beides im Sechsundsechzig an ihn verloren hätte.
Und das kleine Fräulein fühlte wieder die ganze Schwere der erdrückenden Misere auf sich herabsinken, in der die Familie lebte, und die sie auf einen Augenblick so ziemlich zu vergessen vermocht hatte, während sie und die Schwestern sich draußen auf dem Rasen tummelten.
Aber dann brach sie plötzlich mit Frau Line und den anderen in ein lautes Gelächter aus, als sie Frederikke sah, die mit dem großen, rotgestrichenen Spielwagen angezogen kam, in dem sie als Kinder einander zu fahren pflegten.
Die Ingwersen machte Sperenzchen und schlug mit den Armen um sich. Aber zuletzt wurde sie doch im Wagen untergebracht. Und die Mädels rollten mit ihr durch den Park davon.
Die Rottböl hatte es heimlich fertig gebracht, alle ihre vier Mädels ringsum in das Fuhrwerk hineinzustopfen. Nun konnten sie auch das Vergnügen mitnehmen!
So verstrich der Vormittag ...
Aber abends, als es zu dämmern begonnen hatte, kam Fräulein Frederikke weinend und jammernd in Frau Lines Zimmer, wo sie sich vor der Mutter zu Boden warf und erzählte, von Klagen und Schluchzen unterbrochen. Ihr Haar war in Unordnung, ihre Kleider waren beschmutzt und zerrissen; und ihr ganzer Körper bebte vor Weinen und Erregung.
»Was ist denn nur geschehen, Friedchen?« fragte Frau Line bestürzt. »Was ist denn nur geschehen? Na, na, na, sprich jetzt ein wenig ruhiger. Ich kann nicht verstehen, was du sagst.«
Und Fräulein Frederikke begann etwas beherrschter wieder zu erzählen ...
Es war der Eleve Jacobsen, der ... sie hatte ihn unten in der Nähe von Fräulein Sophies Haus getroffen ... und dann wären sie miteinander spazieren gegangen ... und sie hätte an gar nichts gedacht .. und dann wären sie ins Haus hineingegangen ... und plötzlich hätte Jacobsen sie gepackt und hätte sie küssen wollen, .. aber sie hätte sich verteidigt ... und dann hätte er sie auf eins der Felle auf den Fußboden geworfen ... und ... und ihr sein Taschentuch in den Mund gestopft, damit sie nicht schreien könne ... und sie wäre fast ohnmächtig geworden ... und dann hätte er ihr die Kleider vom Leibe gerissen ... und sie vergewaltigt ... und ... und als sie wieder zu sich gekommen sei, wäre er fort gewesen ... aber das Taschentuch hätte er vergessen, und hier sei es ...
Frau Line saß bleich und schweigend und hörte die Erzählung der Tochter mit an. Ihre Hand, die anfangs sanft und beruhigend über Frederikkes Haar gestrichen, hielt allmählich während der Bericht fortschritt, inne; und jetzt lag sie unbeweglich, auf die Schulter des jungen Mädchens hinabgeglitten. Und sie fand kein Wort der Erwiderung auf die Klage ihres Kindes.
Frederikke blickte hastig auf ...
»Du glaubst mir nicht, Mutter?« fragte sie; und ihre Augen waren flackernd und unzuverlässig wie es die des Vaters zuweilen waren. – »Du glaubst mir nicht, Mutter?« wiederholte sie.
Frau Uldahl nahm sich zusammen.
»Doch, doch,« sagte sie hastig – »freilich glaube ich dir, Fridchen ...! Aber komm nun mit in dein Zimmer und gehe zu Bett. Dann sprechen wir morgen weiter über die Sache. Du bist jetzt allzu nervös. Du kannst leicht krank werden.«
Frederikke erhob sich gehorsam.
»Hier ist sein Taschentuch,« sagte sie dann mit einer merkwürdig trockenen und eifrigen Stimme und holte das Taschentuch hervor.
»Darauf mußt du gut achten, Mutter, denn das ist doch ein Beweis, wenn er leugnen will ...«
Als das Fräulein ausgekleidet und zur Ruh gebracht worden war, nahm Frau Line ihre Sachen mit sich fort.
Sie waren zerrissen und beschmutzt wie von groben und hastigen Händen. – – –
Eleve Jacobsen stand kerzengrade in der Wohnstubentür und weinte wie ein Kind. Die Tränen strömten dem großen Kerl über die Wangen, und er rang in Verzweiflung seine arbeitsroten Hände ...
»Ich habe es nicht getan!« sagte er – »Ich habe das Fräulein auch nicht angerührt ... Ich lief meiner Wege, ehe etwas daraus wurde ... Ich kriegte solchen Schreck davor, was geschehen könnte, daß ich die Tür aufriß und aus dem Hause und direkt in meine Kammer lief ... Die gnädige Frau können selbst den Verwalter Larsen fragen, denn er sagte gerade: Hast du Feuer im Hintern, Jacobsen? Unten in der Scheune, als ich an ihm vorbeirannte ... Aber ich sagte bloß: was geht es Sie an, Larsen! und rannte weiter ... Die gnädige Frau müssen mir glauben, so wahr ein Gott lebt! Ich habe mich stets dagegen gewehrt, wenn das Fräulein zärtlich tat und sich an mich herandrückte ... Sie hat mich heute abend mit in Sophies Haus gezerrt, als wir uns trafen ... Sie sagte, sie wollte mir drinnen etwas zeigen ... Und dann legte sie sich auf mich und verlangte mit aller Gewalt, daß ich sie küsse ... aber da kriegte ich solchen Schreck, daß ich meiner Wege lief ... Die gnädige Frau kann selbst Sörine und die anderen Mädels unten im Vorwerk fragen, ob ich mich nicht immer an die gehalten habe, wenn's mal sein mußt ... Sie sind alle miteinander hinter mir her, aber dafür kann ich doch nichts ... Und wenn ich dann wütend auf sie war, dann ging ich mit dem Fräulein ... Aber angerührt hab' ich sie nicht ... Das hab' ich nicht ... Das wird viel eher einer von all den Handlungsreisenden sein, an die das Fräulein immer schreibt, und von denen sie Briefe kriegt ... Sie lügt mir was auf den Hals, wenn sie sagt, daß ich sie ins Unglück gebracht habe ... Und ich begreife nicht, weshalb sie mir was zu Leide tun will ... So eine feine Dame ... Und dann mit mir, der ich doch weiter nichts bin als einer vom Gesinde!«
Die Tränen stürzten dem Jungen aus den Augen, und er schnaubte und stöhnte und suchte gleichzeitig an sich herum, um sein Taschentuch zu finden, aber es war nicht da.
Frau Uldahl reichte ihm unwillkürlich das Tuch, das Frederikke ihr gegeben hatte.
»Bitte,« sagte sie, »suchen Sie das?
»Danke ...« sagte er; und ohne in seinem Zustande völliger Vernichtung die leiseste Verwunderung darüber zu spüren, daß die Gnädige sein Taschentuch hatte, begann er augenblicklich sich die Nase zu schneuzen und die Augen zu trocknen. Worauf er das Tuch fortwährend herum und herum wirbelte, bis ein trockenes verzweifeltes Klümpchen daraus wurde, das er in den zusammengepreßten Händen vor sich herhielt.
»Glauben die gnädige Frau mir nicht ...?« fragte er dann, und seine treuherzigen Augen bettelten um Zutrauen.
»Doch ...« nickte Frau Line. »Ich glaube Ihnen ..«
»Kann ich dann gehen ...?«
»Ja ...«
»Ja, dann also gute Nacht, gnädige Frau ... und Dank!«
»Gute Nacht ..«
Frau Uldahl hatte sofort, als der Eleve ins Wohnzimmer eingetreten war, gesehen, daß er an dem Verbrechen unschuldig war, dessen ihn ihre Tochter beschuldigt hatte.
Sie ahnte es schon während sie noch saß und auf Frederikkes Klagen lauschte; sie waren so voll gellend falscher Töne, aber als sie später ihre beschmutzte und zerrissene Wäsche sah, zweifelte sie von neuem und sandte das Stubenmädchen Olga in die Scheune hinab und ließ den Eleven Jacobsen auffordern heraufzukommen.
Doch kaum hatte sie ihn von Angesicht zu Angesicht gesehen, als der Zweifel wieder schwand ...
Der Tochter gegenüber war sie unsicher gewesen, wie sie es stets den Kindern und Niels gegenüber war, weil sie sich im tiefsten Sinne nicht mit ihnen verwandt fühlte, sie nicht begriff, das Gefühl hatte, daß sie feiner und vornehmer wären.
Aber hier, einem ihresgleichen gegenüber gestellt, einem Menschen, der aus derselben Wurzel entsprossen war, wie sie selbst, einer ehrlichen, unkomplizierten, »unkultivierten« Seele, deren Wege gradlinig waren und deren Wesen keine Verstellung kannte ... hier ergriff sie augenblicklich und instinktmäßig seine Partei.
Und rücksichtsvoll und gedämpft hatte sie ihm gesagt, wessen er beschuldigt war, daß sie es jedoch nicht glaube.
Und jetzt war also der Eleve gegangen, und Frau Line saß allein mit ihren wirren Gedanken ...
Dann erhob sie sich entschlossen, machte sich auf der Tischdecke unter der Hängelampe Platz, holte ihre Karten hervor und legte einen »Stern« ...
Niels Uldahl war diesmal fünf Tage und fünf Nächte von Havslunde fort, ohne daß jemand wußte, wo er sich aufhielt ... oder sich etwa Mühe gab, es zu erfahren. Man empfand nur wie immer seine Abwesenheit als Erleichterung ...
Da endlich am Morgen des sechsten Tages kam eine telephonische Mitteilung, daß er spät in der verflossenen Nacht auf Hvidgaard angekommen sei und dort ein paar Tage zu bleiben beabsichtige.
»Aber,« sagte der Hofjägermeister, der selbst am Telephon war (und Frau Line, die mit ihm sprach, konnte das tiefe Lachen hören, das in ihm gluckste) »aber liebe gnädige Frau, Sie müssen weiß Gott schleunigst ein paar Anzüge und etwas Wäsche herüberschicken, da sich der Herr Gutsbesitzer offengestanden in einer miserablen Verfassung befindet! Können Sie nicht die Mädels damit senden? Wir haben sie so lange nicht gesehen.«
Aber die Mädchen sagten entschieden: Nein.
Frau Uldahl mußte also, so schwer es ihr auch fiel, den Verwalter Larsen ersuchen, Kutscher Lars herüberfahren zu lassen.
»Kutscher Lars wäre beschäftigt,« sagte der Verwalter brüsk.
Seit der Kreditverein Larsen die Leitung des Gutes in die Hände gegeben hatte, fühlte er sich nämlich als Alleinherrscher. Und außerdem war er mit Rachedurst und Galle geladen, weil er trotz seines katzenfreundlichen Herumschleichens um die Fräuleins keinen Zutritt zum Hauptflügel hatte erhalten können. – Aber er würde, hol' ihn der Teufel, eine der Kröten noch einmal unterkriegen, schwor er.
Kutscher Lars sei beschäftigt, erwiderte er also der Gnädigen, und hätte mehr zu tun als Spazierritte zu machen!
Da wandte Frau Line sich an den Futtermeister Voldby, der augenblicklich, hauptsächlich damit Lars »die Platze« kriegte, den Eleven Jacobsen auf einem der Kutschpferde davonschickte. Das andere benutzte Niels selbst ...
Über die Affaire in Fräulein Sophies Haus wurde zwischen der Hausfrau und dem Eleven kein Wort weiter gewechselt.
Und Frederikke hatte auf die eindringlichen Vorstellungen ihrer Mutter hin ihre Anklage gegen ihn zurückgenommen. Aber mit der Wahrheit wollte sie nicht herausrücken. Sie behauptete, sie sei krank gewesen und hätte deshalb nicht gewußt, was sie täte oder sagte.
Eine ähnliche Erklärung seines Falles gab auch Niels ab, als er in der erwähnten Nachtstunde plötzlich Herrn Palle und Frau Mona aus ihrem süßesten Schlummer weckte, indem er mit der Schnur seiner Reitpeitsche auf ihr Schlafzimmerfenster loshieb.
Der Hofjägermeister taumelte halb wach aus dem Bett und hob die Rouleaus ein wenig zur Seite.
»Was, Satan ...!« sagte er, und aller Schlaf war wie weggeblasen. »Was bei allen Teufeln ist das hier ...! Mona, komm, sieh nur!«
Frau Mona kam herzu.
»Das ist die Statue des Kommandanten aus Don Juan!« sagte sie und brach in ein Gelächter aus.
Das Fenster, an dem sie standen, lag nach dem Garten. Und draußen auf dem weißen Kieswege hielt mitten im Mondschein ein Pferd mit seinem Reiter. Der Reiter saß steif und starr im Sattel, und die Reitpeitsche hielt er vor sich her wie einen Kommandostab.
»Du, Mona ...« sagte der Hofjägermeister dann, und das Lachen überwältigte auch ihn, »das ist meiner Seel' der Reichstag von Havslunde! Und er hat sich steif getrunken! Wo ist dein Kodak?«
Er riß das Fenster auf: »Bist du es, Onkel Niels?«
»Ja ...« sagte die Statue heiser und rauh. »Wie spät ist es Kinder, in dieser verwünschten Nacht?«
Mona bekam einen neuen Lachanfall.
»Du mußt hinausgehen, und sehen, daß du ihn hereinbekommst, Palle.«
»Ja ... ja ...!«
Der Hofjägermeister machte, daß er in die Kleider kam. Aber er mußte, um in den Garten zu gelangen, erst den Hof passieren. Es ging also nicht so schnell.
»Palle kommt sofort, Onkel Niels ...« sagte Frau Mona, während sie eilig die notwendigsten Kleidungsstücke anlegte.
Aber Onkel Niels gab keine Antwort ...
Bald darauf erhob sich Palles Kopf über dem Fensterbrett.
»Mona ...?« flüsterte er, »Mona ...?«
»Ja ...«
»Jetzt schlafen sie, der Teufel frikassier' mich!«
»Wer?«
»Niels und das Pferd!« »Aber nein!«
»Doch, sieh ...«
Und er deutete auf die Statue, die müde und erschöpft zusammengesunken war. Der Kopf des Pferdes hatte sich auf seine Vorderfüße hinabgesenkt und die Zügel hingen ihm lose um den Hals. Auch der Kommandant hatte den Kopf gebeugt; seine Arme hingen ihm schlaff herab, und der Stab war ihm aus der Hand geglitten ...
»Ach, Herrgott, der alte Don Quixote,« sagte Frau Mona mitfühlend, »Nimm ihn doch, Palle, ehe er herab plumpst.«
Und Palle hob lachend den Onkel aus dem Sattel und trug ihn hinein.
Niels murmelte eine ganze Menge vom Herrgott und Egesborg, während der Hofjägermeister ihn davonschleppte. ... vom Herrgott und Egesborg und Onkel Joachims Elfenbeinstab ...