Gustav Wied
Aus jungen Tagen
Gustav Wied

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Es war ein milder und warmer Mondscheinabend Ende September. Gunnar stand draußen auf der Landstraße und lugte durch die Öffnung in der Ligusterhecke. Ja, die Streifen lagen auf dem Rasenplatz, und heute abend noch breiter und heller als gewöhnlich, denn das eine Fenster stand offen, und die Gardine war nur halb vorgezogen. Er konnte den obersten Teil des Kachelofens und einige Fächer der Regale sehen. Er nickte lächelnd vor sich hin, ging in den Garten, zum Fenster und schlug der Verabredung gemäß dreimal gegen das Fensterkreuz.

»Jawohl, alter Freund«, hörte er Tage drinnen im Zimmer rufen. Und einen Augenblick später zeigte sich sein lockiger Kopf im Fenster.

»Durchmarsch gestattet!« meldete er im Belagerungsstil mit flüsternder geheimnisvoller Stimme und wichtigen »Gebärden« –. »Die Wachtposten sind eingezogen, und der Verschworene öffnet die Tür auf das verabredete Zeichen.«

Gunnar ging zur Haustür. Und oben im Flur unter der Gasflamme stand Tage, verbeugte sich lächelnd, während das Licht auf seine blonden Locken und sein rotwangiges klaräugiges Knabengesicht niederströmte. Eine Apotheose der Lebensfreude und des Gleichgewichtes.

»Brillant!« sagte er. »Brillant, daß du heute abend kommst! Hier ist Platz für den Rock. Bitte, in die Halle einzutreten. Eine Pfeife, natürlich? Da in den Schaukelstuhl, lieber Freund, da in den Schaukelstuhl! Und die Beine hier auf den Stuhl. So! Willst du einen Kognakgrog oder einen Punsch? Ich huste zurzeit ein bißchen, deshalb trinke ich Punsch. Was willst du haben? Ich kann gewiß noch warmes Wasser draußen bei dem Mädchen bekommen.«

Aber Gunnar bat um Punsch, um keine Umstände zu machen. Es war so gemütlich, so »heimlich« in diesen großen, hohen Zimmern mit den vielen Büchern in den Regalen an den Wänden und den schweren faltenreichen Gardinen vor den Fenstern. Und der Teppich reichte über den ganzen Fußboden, und die Möbel waren altmodisch und solide.

Und dann dieser Wirt da! Dieses Sonnenkind, vor dem das Leben lag wie ein Garten, in dem man nur die Hand auszustrecken brauchte, um soviel leuchtende Tulpen und süßduftende taufrische Rosen zu haben wie man wollte.

Und Gunnar gedachte mit einem Seufzer seiner frühesten Kindheit, wo auch er mit offenem Munde dasitzen konnte, fest und unverbrüchlich davon überzeugt, daß Tauben und anderes Wildbret ihm mit Sauce, Kartoffeln, Johannisbeergelee und der ganzen Herrlichkeit direkt in den Magen fliegen würden ... Das war damals, ja! Und doch gab es faktisch Menschen (da saß ja einer!) – »Sonntagskinder«, bei denen das Leben von der Wiege bis zum Grabe so verlief, während andere ... welche himmelschreiende Ungerechtigkeit von dem »gerechten Gott«!

»Schmeckt der Punsch? Ist die Pfeife richtig gestopft?«

»Ja, danke.«

»Hör' mal, du, Gunnar, jetzt ziehe ich.«

»So!«

»Ja, ich kann diesen Kindertumult nicht ertragen.«

»Das habe ich dir ja gesagt.«

»Ja, und ich habe mit Vater darüber gesprochen ... du weißt, ich spreche immer mit Vater drinnen, ehe ich schlafen gehe ... und er sagte, daß es recht wäre. Ich ziehe wieder zu Frau Petersen. Sie wohnt jetzt in der Valdemarsgade und hat gerade zwei Zimmer frei.«

»Ja, natürlich! Der liebe Gott wußte ja, daß du ziehen wolltest.«

»Ja, er ist ein Prachtkerl, das ist wahr! Und sie passen großartig für mich!«

»Wann ziehst du?«

»Morgen, übermorgen, in den nächsten Tagen. Die Zimmer sind in Ordnung. Du ziehst doch auch?«

»Ja, aber ohne den Beistand der Götter; es wird also wohl ein bißchen umständlicher dabei hergehen.«

»Ja, es ist seltsam«, lächelte Tage fröhlich und zuversichtlich, »aber ich habe immer so ein unglaubliches Glück ... Und dann habe ich mich verlobt, du!«

»Was hast du?« fragte Gunnar und richtete sich halb im Stuhl auf.

»Ich habe mich verlobt.«

»Hol's der Satan!«

»Danke!« lachte Tage. »Ja, ich wußte wohl, wie du es auffassen würdest, alter Freund. Du hast ja deine fixen Ideen! Ach, aber es ist so ein süßes kleines Ding!« fügte er mit strahlenden Augen hinzu.

»Ja–a, das sind sie zuerst alle!«

»Ich bin sicher, daß sie dir gefallen wird. Ich werde dich einmal abends holen lassen, wenn sie hier ist.«

»Ja, sehr verbunden! Wie heißt sie? Wer ist sie?«

»Sie heißt Mary ... Mary Thomsen.«

»Eine Tochter von dem Professor?«

»Eine Schwester von ihm, dem Orang-Utan, dem Mathematiker, mit dem wir beide, du und ich, in alten Tagen oben in der Dachkammer so einen sündhaften Ulk getrieben haben!«

»Ja«, nickte Tage ein wenig scheu. »Aber ich verheirate mich doch nicht mit ihm!«

»Man verheiratet sich mit der ganzen Familie, lieber Freund, wenn man nicht ganz ungewöhnlich viel Haare auf den Zähnen hat!«

»Du wirst dich schon auch noch mal verheiraten.«

»Das geschehe spät!« sagte Gunnar und bekreuzigte sich.

Und es entstand nun eine kleine Pause, in der die beiden Freunde sich nachdrücklich mit ihren Pfeifen beschäftigten.

Die Stille wurde nur von Tage unterbrochen, der ein paarmal trocken und hohl hustete.

»Du hast einen bösen Husten.«

»Ja, ich habe mich ein bißchen erkältet.«

Er trank aus seinem Glase. Dann wandte er sich plötzlich ganz zu Gunnar herum und legte ihm eine Hand auf das Bein: »Du mußt nicht verstimmt darüber sein, daß ich mich verlobt habe«, bat er einschmeichelnd. »Ich habe Mary wirklich so unbeschreiblich lieb! Und sie ist auch so ziemlich das Süßeste und Liebenswürdigste, was man sich denken kann, wenn man sie erst richtig kennenlernt. Und du sollst einmal sehen, wie gemütlich du es bei uns haben wirst, wenn wir erst verheiratet sind.«

Er hatte Tränen in den Augen, der Kleine!

Gunnar lächelte und streichelte die Hand des Freundes. »Du bist ein Kind, Tage«, sagte er gutmütig, »daß du davon Notiz nehmen willst, was ein anderer zu der Sache sagt. Bist du nur selbst froh und vergnügt und in das Mädchen verliebt, dann laß mich faseln.«

Banner spielte augenblicklich mit den Fingern einen Hopser auf der Schreibtischplatte.

»Ja, das ist wahr«, sagte er vergnügt. »Prosit, Gunnar! Aber ich möchte nun so gerne, daß ihr alle miteinander fröhlich seid. Du bist aber auch ein komischer Kauz«, fügte er dann hinzu, »du bist immer viel besser als du scheinen willst.«

»Na–a, das will ich gerade nicht sagen. Aber man beugt sich ja vor einem Faktum.«

»Wie spät ist es?« fuhr Banner fort und holte seine Uhr aus der Tasche. »Halb zehn! Jetzt paß bloß auf. In einem Augenblick muß ich Schiedsrichter spielen, du! Rudolph und Oskar haben sich heute unten auf dem Krocketplatz geschlagen. Das heißt Rudolph hat Oskar mit dem Schläger einen gehörigen Denkzettel gegeben. Du weißt, er ist so unbändig hitzig. Und nun soll ich über sie zu Gericht sitzen. Da sind sie! Nimm dich zusammen, daß du ernst bleibst!«

»Ja, aber ...«

»Nee, bleib nur liegen!«

Man hörte Schritte draußen im Flur und murmelnde Stimmen. Die Tür wurde geöffnet und Rudolph und Oskar traten ein.

Tage wandte sich zu ihnen.

»Na, da seid ihr! Habt ihr eure Schularbeiten fertig?«

Eine murmelnde Bejahung erklang von den Knaben, die zu Gunnar hinüberschielten.

»Und was muß ich von Mutter hören!« fuhr Tage fort! »Könnt ihr beiden großen Lümmel nicht Frieden halten?«

»Oskar hat –«

»Rudolph wollte – –«

Und nun begannen beide Knaben alles mögliche durcheinander zu erzählen: von Bogen und Schlägern und falschen Würfen und losen Krockaden und Stachelbeerbüschen, daß man kein Sterbenswörtchen verstehen konnte.

»Stille!« befahl Tage. Er hatte sich ganz von Gunnar abgewandt, um nicht in ein Gelächter ausbrechen zu müssen, wenn sie sich zufälligerweise etwa ins Gesicht sähen. »Immer hübsch jeder für sich. Du zuerst, Rudolph!«

Der älteste der Knaben, ein langer, magerer, düster aussehender Bursche von vierzehn bis fünfzehn Jahren, trat einen Schritt vor. Er sah etwas verrückt und trotzig aus; und Gunnar wußte, daß er das schwarze Schaf in der Familie war.

»Oskar war's – der hatte gesagt, daß ich gemogelt habe«, sagte er mit einer dunklen und murmelnden Stimme.

»Ja, denn das hattest du auch«, zwitscherte der Kleine hinter ihm. »Denn du stießest – –«

»Still, Oskar, bis du herankommst«, unterbrach ihn Banner. »Er sagte also, daß du gemogelt hättest –«

»Ja, und dann schalt er mich einen alten Fuchs und sagte, ich müßte überhaupt geschunden und mein Fell zu Pelzfutter verwendet werden, und dann streckte er mir die Zunge aus und stieß mit dem Fuß nach meiner Kugel, daß sie in die Stachelbeerbüsche flog. Und da ... und da ...«

»Und dann gabst du ihm mit deinem Schläger eines gegen den Kopf ...«

»Ja ... denn ich habe nicht mehr gemogelt als er.«

»Es ist gut! ... Oskar!«

Der Kleine hüpfte auf den Bruder zu und stellte sich dicht vor Tage auf, dem er auffallend ähnlich war mit seinem hellblonden Haar, seinen Posaunenwangen und seinen blankblauen sonnigen Augen. Er richtete sich gerade auf und starrte seinem Richter fest ins Gesicht. Auf der linken Seite des Kopfes, dicht unter dem Haar, hatte er eine große Beule, die wie ein Seeigel aussah. An dieser Stelle hatte ihn der Schläger getroffen. Er war ungefähr neun, zehn Jahre alt. Auf Gunnar achtete er gar nicht mehr, so sehr brannte er darauf, sich verantworten zu können.

Es spielte ein ganz schwaches Lächeln um Tages Mund, als er fragte:

»So, du nennst also deinen größeren Bruder einen alten Fuchs?«

»Ja«, zwitscherte der Kleine mit einer hohen und hellen Stimme. »Denn das ist er doch auch, wenn er mogelt. Er stieß seine Kugel aus dem Loch heraus, du weißt schon, Tage, das da vor dem Mittelbogen ist. Und da wollte ich nicht mehr mitspielen!«

Er deutete auf den Seeigel.

»Du vergißt wohl, daß du Rudolph vorher die Zunge herausstrecktest und mit dem Fuß nach seiner Kugel stießest.«

Der Kleine blinzelte ein wenig mit den Augen und wurde rot. Aber dann starrte er dem Bruder wieder fest ins Gesicht:

»Ja ... ja ... das vergesse ich wohl«, stotterte er.

»Hast du zu morgen Latein auf?«

»Ja!«

»Was hast du in Grammatik auf?«

» Futurum activum von laudare.« »Laß hören.«

» Laudabo, laudabis, laudabit – laudabimus, laudabitis lauda ... laudabant

» ... bunt!« verbesserte Tage.

» ... bunt, bunt, ja natürlich!« sagte der Knabe.

»So«, sagte Tage und stand auf. »Nun kannst du gehen. Gute Nacht! Aber vergiß nicht, die Beule, die du am Kopf hast, die hast du redlich verdient!«

»Ja aber, Tage – – –«

»Pst, nichts da! Gute Nacht!«

Und Banner gab dem Knaben einen leichten gleichsam liebkosenden Klaps auf eine seiner dicken Wangen.

Als Oskar die Tür öffnete und ging, wollte sich Rudolph mit hinausschleichen.

»Nein, Rudolph, warte ein bißchen, ich möchte mit dir sprechen.«

Der Knabe blieb, die Hand auf das Schloß gelegt, stehen und murmelte etwas vor sich hin.

Tage stand, den Rücken ihm zugekehrt, am Schreibtisch und schien dort unter den Papieren zu suchen:

»Nun hast du wohl gesehen«, sagte er, während seine Hände ständig auf dem Tisch herumwühlten, »nun hast du wohl gesehen, daß ich es nicht mit Oskar halte, wie du zu sagen pflegst.«

Rudolph schielte zu ihm hinüber und murmelte wieder ein paar Worte.

»Was sagst du?« fragte Banner nervös.

»Ich sage, es ist gut, daß ihr mich hier bald loswerdet.«

»Liebes Rudolphchen«, sagte er und suchte seine Stimme milde und eindringlich zu machen, »du mußt doch zugeben, daß dir in diesem Falle kein Unrecht geschehen ist. Im Gegenteil! Du als der Älteste hättest doch soviel Verstand haben müssen, daß du dir nichts daraus machst, was so ein kleiner Kerl sagt. Und doch jedenfalls nicht so in blinder Wut auf ihn losschlagen dürfen! ... Was sagst du?«

»Nun werdet ihr alle mich ja bald los!« murmelte der Knabe wieder.

Banner seufzte und strich sich mit der Hand über die Stirn.

»Ja, dann kannst du gehen, Rudolph. Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, murmelte der Knabe und schlich hinaus.

Als die Tür hinter ihm zufiel, wandte Tage sich zu Gunnar. »Ich kann ... ich weiß nicht, was ich mit dem Jungen machen soll«, sagte er und rang in Verzweiflung die Hände. »Er verdirbt mir das Ganze! Nun sähest du doch selbst, Gunnar, daß ich ihn so milde behandelte, so milde! Er hätte ja eine Tracht Prügel verdient; aber das nützt gar nichts! Und ich kann auch nicht prügeln. Ich finde, das ist so traurig! Ich habe es einmal versucht und da haben wir schließlich alle beide gleich laut geheult; und das ist doch lächerlich! Was sagst du? Was würdest du tun?«

»Ja–a«, sagte Gunnar langsam, »man müßte ja viel Zeit für ihn opfern, mit ihm sprechen, ihn allmählich liebgewinnen. Aber ist er hier zu Hause nicht immer stiefmütterlich behandelt worden? verzeihe!«

»Ja, das ist ja gerade das Unglück, du! Keiner hat ihn leiden können! Vater hatte nicht das geringste Interesse für ihn und knuffte ihn, wenn irgendetwas los war. Und Mutter und Tante schalten ihn aus. Ja, Mutter hat mir sogar erzählt, daß sie gleich nach seiner Geburt, als ihn die Hebamme auf die Bettdecke legte, das Gesicht abwandte und sagte: ,Nehmen Sie ihn wieder, nehmen Sie ihn wieder weg! ich kann seinen Anblick nicht ertragen, ich kann ihn nicht leiden!' ... Das ist merkwürdig, was?«

»Ja–a, aber es gibt ja soviel Sinnloses rings um uns! ... Magst du ihn auch nicht?«

»Nein, offen gestanden! Wir sind ja so verschieden! Aber ich suche immer gerecht zu sein. Ich halte es eher mit ihm, wie du sahest.

Aber was glaubst du, wird aus solchem Menschen?«

»Weiß nicht, wahrscheinlich schickt ihr ihn aus dem Lande oder er läuft seiner Wege. Muß sich allein durchhelfen, schwimmt eine Zeitlang obenauf und geht dann zugrunde, als Müllkutscher oder Taschendieb in Neuyork oder Chikago. Ich habe selbst einen Bruder – oder auch zwei – die in der Branche arbeiten. Unsere Eltern haben zu viel Kinder in die Welt gesetzt, sie haben nicht für alle ordentlich sorgen können ... Mir war's so, als ob Rudolph davon spräche, daß ihr ihn bald los sein würdet!«

»Ja«, sagte Banner errötend, »er soll doch zum Frühjahr konfirmiert werden, und da haben wir für ihn eine Anstellung bei der großen nordischen Telegraphen-Gesellschaft in London ausgewirkt. Der Direktor ist ein Jugendfreund von Vater.«

Gunnar lächelte:

»So, ihr seid also schon auf die Deportation bedacht gewesen.«

Tage legte seine Hand auf Warbergs Arm und blickte ihm ängstlich in die Augen.

»Ja, ist es unrecht von uns, du? Ist es schlecht von uns, du? Aber was sollen wir machen? Er zerstört uns das ganze Heim! Meinst du, daß es meine Pflicht ist, Zeit und Arbeit und vielleicht meine Karriere zu opfern, um mich Rudolphs anzunehmen? Ich glaube es nicht! Vater sagte einmal zu mir: »Sieh zunächst zu, selbst etwas zu werden, dann kannst du deinen Geschwistern besser helfen!« und ich finde, Vater hat recht. Ich fand immer, daß Vater recht hatte! Was hat es für einen Zweck, daß ich meine eigene Zukunft vergeude? Dadurch schaffe ich nur zwei unglückliche Menschen! Denn ich glaube nicht, daß ich etwas mit Rudolph anstellen kann! Was sagst du?«

»Ich sage wie dein kluger Vater, Tagechen: arbeite du vorläufig auf eigene Rechnung, das ist das vernünftigste und Rentabelste!«

»Du bist doch boshaft!«

»Keineswegs, lieber Freund, keineswegs! Findest du, daß ich »boshaft« bin, wie du es nennst, so ist es nur das Leben, über das ich mich ein wenig lustig mache. Du lieber Gott, sollte man all den unglückseligen armen Kerlen mit Rat und Tat beistehen, die auf Gassen und Straßen herumtrollen, so müßte man eine »Gratis-Konsultation« von zwölf Uhr morgens bis zwölf Uhr nachts einrichten. Und dann würde man schließlich doch noch geistig und körperlich bankerott machen, und es gäbe nur einen Unglücklichen mehr, wie du sagst! Alles, was wir in der Sache tun können und was wir tun müssen, ist, daß wir diese Menschen nicht verhöhnen, uns nicht für »besser« halten als sie!«

»Ja, aber du hilfst doch deinem Vetter Benjamin, »Mette«, wie du ihn nennst!«

»Helfen? ach ja«, nickte Gunnar. »Ich stecke ihm hin und wieder eine Krone zu und gebe ihm einen Rat, den er nicht befolgt. Aber das ist auch was ganz anderes«, fuhr er fort, »denn sobald dieses mystische ›Gernhaben‹ mit hineinspielt, gehen alle Theorien flöten. Und ich habe ›Mette‹ nun einmal gern. Er ist ein merkwürdiger Bursche, eine galgenhumoristische Seele! Ich versichere dir, hätte ich viel Geld, würde ich ihn in Reinkultur züchten, nur um zu sehen, was er für ein Ende nimmt.«

»Ich wünschte, ich wäre wie du«, seufzte Banner gedankenvoll.

»I Gott bewahre«, lachte Gunnar.

»Ja, denn ich habe gar nichts Eigentümliches an mir. Ich bin so ganz einfach und gerade.« »Du!« sagte Gunnar. »Du bist, weiß Gott, ›eigentümlicher‹ als die meisten deiner geehrten Zeitgenossen. Denn du bist ein ›glücklicher‹ Mensch.«

»Ja, das bin ich!« sagte Tage voll Überzeugung.

»Ja, und wir anderen werden beinahe chromgelb vor Neid! ... Aber da man nun einmal nicht umgeschaffen werden kann, so bin ich für mein Teil bloß froh darüber, daß du dir seinerzeit auf dem alten tugendhaften Kongevej das Viertelpfund Tabak von mir geliehen hast. Prosit, du Baumlerche.«

Und die Freunde stießen miteinander an und drückten sich die Hände und waren ganz sentimental vor lauter gegenseitiger Liebe und Achtung.

Da kam jemand mit kleinen trippelnden Schritten über den Flur gelaufen. Die Tür wurde geöffnet, und ein kleiner Junge von sechs, sieben Jahren kam hereingesprungen. Er war hellblond wie Tage und Oskar, aber feiner, eleganter gebaut und seine Augen waren groß und dunkelblau. Ein hysterisches Weibsbild hätte gesagt, er gliche einem »Engel«; und süß war er unleugbar.

»Aber Thorkild, bist du noch nicht zu Bett?« fragte Banner verwundert.

»Nein, Mutter hat gesagt, ich könnte heute gerne ein bißchen länger aufbleiben.«

»So–o? Aber jetzt geh' zu Bett!«

Thorkild teilte das Schlafzimmer mit Tage. Und Rudolph und Oskar hatten ihre gemeinsamen Schlaf- und Arbeitszimmer.

»Wer liegt da im Schaukelstuhl?« fragte der Knabe.

»Das ist Gunnar. Kennst du ihn nicht?«

Thorkild lief zum Schaukelstuhl.

»Bist du's, Gunnar? Guten Abend! Ich habe dich nicht sehen können.«

»Guten Abend, Thorkild der Große!« lächelte Gunnar und streichelte das Haar des Knaben. »Na, wie geht's?«

»Gut. Hast du Briefmarken für mich?«

»Nein, heute abend wirklich nicht, mein kleiner Freund. Ich habe sie zu Hause vergessen.«

»Jetzt habe ich fünfhundert.«

»So – – großartig!«

»Sage jetzt gute Nacht, Thorkild«, erinnerte Tage.

»Gute Nacht«, sagte Thorkild und verneigte sich chevaleresk.

»Gute Nacht, Thorkild der Große, und schlaf' gut!«

Der Knabe lief zu Banner hin und schlang seine Arme um dessen Hals:

»Gute Nacht, alter guter Tagemann!« sagte er.

»Gute Nacht, mein Junge«, sagte Tage und küßte ihn. »Um welche Zeit mußt du morgen auf?«

»Sieben.«

»Dann denke daran, daß du recht still bist.«

»Ich werde so stille sein, so stille! so stille!« sagte er und deutete mit den Fingern einen halben Zoll an.

»Ach, du Faselhans!« lachte der Bruder und klopfte ihm auf die Hand. »Geh' nun hinein und leg' dich zu Bett!«

Und Thorkild verschwand hinter der Tür zum Schlafzimmer.

Aber es dauerte keine zwei Minuten, so kam er wieder hereingesprungen, vollständig ausgekleidet in seinem kurzen Hemde ohne Ärmel, das ausgeschnitten war wie ein Mädchenhemd.

Er stellte sich mitten im Zimmer auf, breitete die Arme aus und begann zu deklamieren:

»Als ich von Hause schritt,
als ich von Hause schritt,
wollt' auch mein Mädel mit – –«

»Willst du machen, daß du herauskommst«, drohte Banner.

»– – ja, wollt' auch mein Mädel mit.«

Gunnar lachte, und Tage lachte auch, sagte jedoch, indem er Miene machte, aufzustehen:

»Nun komme ich aber, meiner Treu, und zähle dir ein paar auf!«

– – –»Mein Schatz, das geht nicht an,

ich bin ein Kriegersmann,

und wenn – –«

»Nun soll doch ...!« rief Tage, erhob sich blitzschnell und ergriff das Lineal auf dem Schreibtisch.

Aber Thorkild sprang in den Schaukelstuhl hinauf zu Gunnar und duckte sich, so gut er konnte, unter dessen Arm. Da lag er und lachte leise und lugte zum Bruder hinauf, der mit dem zum Schlage erhobenen Lineal in der Hand dastand.

»Nein, du darfst nicht schlagen, Tagemann, du darfst nicht schlagen!«

Der Knabe zappelte mit seinen nackten Beinen in der Luft.

»Willst du dann machen, daß du ins Bett kommst, du kleines Ungetüm!«

»Ja, ja, ja! Aber du mußt erst das Lineal hinlegen, du mußt erst das, Lineal hinlegen!«

Banner warf das Lineal auf den Tisch.

»Komm nun.«

»Ich will reiten«, sagte der Knabe jetzt. »Ich will auf dir hinreiten.«

»Ach, du Plagegeist!«

Aber Tage kauerte sich trotzdem am Schaukelstuhl nieder, und Gunnar half dem Kleinen auf seine Schultern. Da saß er nun ganz seelenvergnügt, die Beine um des Bruders Hals gelegt und eine Hand fest gegen dessen Stirn gedrückt; die Augen funkelten geradezu vor Vergnügen, und seine kleinen weißen Zehen krümmten sich vor Freude.

»Jetzt wollen wir Heine haben!« sagte Tage und stellte sich mitten im Zimmer auf. »Laß nun Gunnar Heine hören, Thorkild.«

Und der kleine Kerl schwenkte einen Arm und deklamierte:

»Wer zum ersten Male liebt,
Sei's auch glücklos, ist ein Gott!
Aber wer zum zweiten Male
glücklos liebt, der ist ein Narr!

Ich, ein solcher Narr, ich liebe
wieder ohne Gegenliebe.
Sonne, Mond und Sterne lachen,
und ich lache mit – und sterbe!«

»Bravo!« lachte Gunnar und klatschte in die Hände, »Hast du ihm das beigebracht, Tage?«

»Ja. Im vorigen Jahre, als ich Johanne liebte – ohne Gegenliebe! ... Aber jetzt habe ich ja Mary! Ein hoch auf Mary, Thorkild!«

»Hoch!« schrie der Kleine. Und dann galoppierte Tage mit ihm ins Schlafzimmer.

 


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