Gustav Wied
Aus jungen Tagen
Gustav Wied

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Tage Banner mußte sterben. Die Krankheit hatte sich zur Schwindsucht entwickelt. Und dagegen ließ sich nichts tun.

Das letztemal, als Warberg draußen in Ordrup gewesen war, um nach ihm zu sehen, kannte er schon nicht mehr sprechen. Er lag nur mit großen, glasklaren Augen und lauschte auf das, was der Freund von dem Leben drinnen in der Hauptstadt erzählte; und wenn er irgendetwas mitzuteilen wünschte, dann nahm er mit zitternder Hand eine kleine, vor ihm auf der Bettdecke liegende Tafel und schrieb die Worte mit unbeholfenen, allzu großen Kinderbuchstaben auf, die wie im Fieber schwankten.

Er ruhte in einem nach Süden gelegenen Giebelzimmer in der Villa seiner Schwiegermutter. Weiße leichte Gardinen hingen vor den beiden niedrigen, kleinscheibigen Fenstern, daß die Sonne an klaren Tagen gerade zu ihm auf das Bett scheinen konnte. Und zwischen den Fenstern lagen auf einem Tisch eine Menge Bücher aufgestapelt, in denen er nicht mehr las.

Seine Braut pflegte ihn, tüchtig und sorgfältig, doch mit einem seltsam starren und harten Ausdruck in den Augen. Und wenn Gunnar sich zeigte, betrachtete sie ihn mit fast feindlichen Blicken, und Tage mußte sie jedesmal bitten, das Zimmer zu verlassen, damit die beiden Freunde ungestört miteinander plaudern konnten. Sie ging dann auch, aber zögernd und unwillig.

Gunnar setzte sich gewöhnlich auf einen Stuhl neben dem Bett und beide begannen von entschwundenen Zeiten zu sprechen, als sie sich auf dem Treppenflur kennen lernten und Warberg Tage Tabak geliehen hatte – eine Krone das Pfund! Und sie sprachen von ihren Wanderungen in der Umgegend von Kopenhagen, in Sondermarken, in dem Garten von Frederiksberg, und an dem alten Eisenbahnwall draußen bei Valby entlang.

Die ersten Male, als Warberg zum Freunde hinauskam, lachten und scherzten sie viel; und Tage plante Spaziergänge, die sie im kommenden Frühjahr miteinander machen wollten. »Aber wir wollen unsere Bräute nicht mitnehmen«, sagte er und blinzelte schelmisch zu Gunnar empor. »Die Frauenzimmer sind Gesindel!« Und ohne Übergang erzählte er dann, daß seine liebe Schwiegermutter, seine Braut und Schwägerinnen ihm abwechselnd Vorlesungen aus der Bibel und anderen frommen Büchern hielten, um ihn zu dem alleinseligmachenden Glauben zu bekehren, auf den sie das Patent genommen zu haben glaubten.

»Sie sind ja ein bißchen heilig«, lächelte er. »Aber, lieber Gott, laß ihnen doch das Vergnügen! Weiber müssen ja nun einmal rettende Engel sein, um sich richtig in ihrem Element zu fühlen, ich liege nur ganz stille und laß sie schwatzen. Ich mag wirklich nicht mehr über all das reden, womit ich schon längst fertig bin! Es ist viel hübscher, mit halbgeschlassenen Augen dazuliegen und zu träumen, während sie lesen! ... Aber warte nur, bis ich gesund bin«, nickte er energisch. »Dann werde ich ihnen doch ein für allemal Bescheid sagen!«

Aber bald kam die Zeit, da auch Tage selbst einsah, daß er nie mehr gesund werden würde. Und da konnten ihm Tränen in die Augen kommen, wenn Warberg an seinem Bett saß, und er konnte sich darüber beklagen, daß er schon all das Schöne und Herrliche verlassen solle, das es hinter den kleinen Scheiben des Krankenzimmers gab!

»Ich möchte so gern, so gern leben, Gunnar!« sagte er. »Weißt du noch, wie du über mich lachtest, damals, als ich sagte, das wäre Quatsch, das mit dem Tode? Daß ihr anderen vielleicht sterben müßtet, aber ich nicht! ...

Weißt du, was mir einfiel, während ich hier so allein gelegen habe ...? Denn mit denen drin (er deutete auf die Tür) kann man ja nicht reden ... so richtig!«

»Nein?«

»Es fiel mir ein, daß es schrecklich sein müsse, zu den großen Begabungen auf der Welt zu gehören, ein so entwickeltes Gehirn zu haben, daß man hinter alles, was gesagt, und alles, was geschieht, auf den Grund sehen könnte! ... Nein, nicht auf den Grund sehen, denn dann würde man ja Gewißheit haben. Aber doch sehen könne, daß alles, woran man glaubt, alles, worüber man sich froh und stolz fühlt, weil man ein Mensch ist, daß all das miteinander vielleicht Taschenspielerei und Blendwerk ist, etwas, was man sich selbst einbildet oder sich von anderen einbilden läßt ... Du verstehst mich wohl ...?«

Gunnar nickte.

»Denn es ist doch so merkwürdig, das Ganze!« fuhr Tage fort. »Wir wissen über gar nichts Bescheid! Wir wissen nicht, warum wir geboren sind, nicht, warum wir sterben, nicht, warum wir leben sollen ... Und Gunnar (hier ergriff er die Hand des Freundes und blickte ihm starr ins Gesicht), wir wissen auch nicht bestimmt, ob unser Dasein mit dem, was wir Tod nennen, vorüber ist ... wissen wir das? ... wissen wir das?«

»Nein«, sagte Warberg, »noch nicht.«

»Du glaubst also, daß eine Zeit kommen wird, da wir das erfahren?«

»Ich glaube, daß man einmal beweisen können wird, daß, was für Hunde, Affen und Neger gilt, auch für uns gilt, die wir mehr gelesen haben als Luthers Katechismus, nämlich: daß tot tot ist! ... Denn du mußt wohl bemerken«, fuhr er eifrig fort und vergaß völlig, zu wem er sprach, »daß gerade die ›christlichen‹ Menschen unter sich eine stillschweigend akzeptierte Theorie zur Herrschaft gebracht haben, daß man um so ›unsterblicher‹ wird, je höher man in der Bildung steigt ... oder es richtet sich vielleicht eher nach dem Staatskalender«, fuhr er fort. »Meinst du zum Beispiel nicht, daß ein ›gläubiger‹ Gutsbesitzer im tiefsten Innern seiner Seele fest davon überzeugt ist, daß er ›seliger‹ werden müsse als sein Viehknecht? Oder meinst du vielleicht nicht, daß eine Kammerherrin äußerst pikiert sein würde, wenn ihr Seelsorger im vollen Ernst behauptete, daß sie mit ihrer Waschfrau gemeinsam zum Himmel fahren solle? Na, aber das tut ein vernünftiger Seelsorger ja auch nicht«, schloß er. » Summa summarum ist, daß ›Heiden‹ wie du und ich das Leben lassen müssen, so gut sie es verstehen – daß wir ›unseren dunklen Pfad‹ allein gehen müssen.«

Warberg schwieg und blickte den Freund an, um Beifall zu ernten; aber Tage hatte den Kopf auf die Kissen zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Das Sonnenlicht drang spielend durch die Scheiben und legte sich auf seine bleichen eingefallenen Wangen und mageren gelblichweißen Hände. Im Hause war kein Laut zu hören, nur ein schwaches Sausen der kahlen Bäume des Gartens konnte Gunnar vernehmen, und dann einen Holzwurm, der irgendwo in der Mauer nagte.

»Tage ...«

Der Kranke schlug die Augen auf und blickte Warberg mit schwerem, betrübtem Blick an.

Gunnar lachte still, wie man lacht, wenn einem plötzlich etwas Lustiges einfällt.

»Kannst du dich noch besinnen, Tage«, begann er, »kannst du dich noch auf den Abend besinnen, als du oben in unserer Mansarde auf dem alten Kongevej Geburtstagsgäste geladen hattest? Der Punsch stand in einer großen irdenen Schüssel mitten auf dem Tisch, und wir tranken ihn aus Teetassen, die wir uns von Frau Petersen geliehen hatten. Du hattest uns geschrieben, wir sollten uns im Frack und mit Ordensbändern einfinden, und wir kamen allesamt mit den prächtigsten Kotillonsorden auf der Brust.«

»Ja«, lächelte Tage und lebte sichtlich auf, wie ein betrübtes Kind auflebt, wenn man ihm zum siebzehntenmal dieselbe lustige Geschichte erzählt. »Ja – a, das war damals, als der dicke Nielsen sich den ganzen Bart abnehmen ließ und frisiert, mit dem Haar in die Stirn und tiefgescheitelt ankam, daß ihn keiner von uns wiedererkannte.«

»Ja, richtig, ja, er war großartig! Aber, aber, besinnst du dich dann noch auf den kleinen Vejbel, den kurzsichtigen kleinen Lümmel, den keiner von uns leiden konnte, den du aber eingeladen hattest, weil du damals in seine Schwester verliebt warst? Weißt du noch, wie er plötzlich den Kopf zur Tür hineinsteckte und fragte, ob hier der Student Banner wohne. Da rief einer von den anderen: Nein, das ist drüben am Vaernedamsvej, in der Schule, Nummer vier, Mansarde links! Und da ging der Schafskopf hin und rumorte drüben auf dem Schulboden eine halbe Stunde lang herum und wurde zuletzt vom Pedell hinausgeworfen!«

»H – ja – a, er war ein richtiger Idiot, der Vejbel«, lachte Tage. »Aber die Schwester war wirklich niedlich!«

»Ja, aber, weißt du dann noch«, fuhr Warberg fort, »damals, als wir die Gäste nachts nach Hause begleiteten, da kroch Pontoppidan in einen Lichtkasten in der Vesterbrogade, und war fast gar nicht wieder herauszukriegen!«

»Ja, und als wir dann nach Hause kamen, du – das kommt mir nun fast am allerlustigsten vor, ... da hatten wir beim Gehen vergessen, die Tür zuzumachen, und da fanden wir den großen, scheußlichen schmutzigen Hund des Kohlenhändlers ganz gemütlich in deinem Bett liegen. Und mir konnten es nicht übers Herz bringen, ihn hinauszujagen, sondern legten ihn aufs Sofa und breiteten die Bettdecke über ihm aus, damit er nicht friere!«

»Ja, denn wir waren ja gutmütig ... und betrunken!« lachte Gunnar.

Und so fuhren sie eine Zeitlang fort, alte Erinnerungen aufzufrischen; und Tage vergaß seine Sorgen, und es kam ein schwacher rötlicher Schimmer auf seine Wangen und Licht in seine Augen, bis er dann plötzlich sagte:

»Nun, glaube ich, mußt du gehen, Gunnar, denn ich fange an, so merkwürdig müde zu werden; ich glaube, ich möchte ein wenig schlafen.«

Und dann stand Warberg auf und sagte adieu, ... und wünschte gute Besserung und versprach bald wiederzukommen.

Aber als er dann das nächstemal kam, konnte Tage nicht mehr sprechen. Und das letztemal, als er draußen in der Villa war, hatte er nur ein paar Minuten bei dem Freunde sein können. Tage hatte seiner Braut gewinkt, man solle ihm mit dem Freunde allein lassen. Und als sie gegangen, hatte er etwas auf die Tafel geschrieben und sie Gunnar gereicht, während er ihn mit demütigen und flehenden Augen ansah. Auf der Tafel stand: »Ich habe gestern das Abendmahl genommen. Du darfst mir nicht böse sein.«

Und Warberg hatte sich über ihn gebeugt und seine Hand geküßt und war dann eiligst aus dem Zimmer und die Treppe hinunter- und zum Hause hinausgegangen.

 


 << zurück weiter >>