Gustav Wied
Aus jungen Tagen
Gustav Wied

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Warberg stand wieder draußen auf dem Markt vor dem Rathaus. Es war vier Uhr. Eine Abteilung Arbeitshäusler zog gerade mit präsentierten Besen ab, nachdem sie den Platz von den Halmstümpfchen und Pferdeäpfeln des Markttages gereinigt hatte. Zwei große schwere Omnibusse rumpelten aneinander vorbei. Droschken sockten davon. Und geputzte Menschen plauderten und lachten und sahen lebensfroh und vergnügt aus in dem Sonnenschein und der klaren Herbstluft. Ein Taubenschwarm tummelte sich hoch oben über den Häusern, und ein Barbierschild blinkte schelmisch und kreischte vor Freude auf seiner Stange.

Das war ein Leben hier, nach vierstündiger Einsperrung in einer Katakombe.

Gunnar bog in die Nygade ein. Und in Vimmelskastet lief er eiligst in den »Schweizer« hinauf, wo er eine Portion »Labskow« zu fünfzig Öre verschlang.

Dann jagte er wieder davon, den Amagermarkt und die Östergade entlang. Er wollte zum St. Annae-Platz hinaus. Sobald er den Kammerjunker dort oben auf dem Rathause gesehen, hatte er Lust bekommen, seiner alten Freundin, Gräfin Thrane, einen Besuch zu machen, vermutlich war es der Gegensatz zwischen den »Schränkchen« und den gemütlichen Salons der Gräfin, der ihn anspornte. Er war ja ein bißchen hysterisch und jagte nach Extremen. Und dann erinnerte ihn die Gräfin so sehr an seine Mutter.

In der großen Strandstraede nickte er seinem Onkel zu, dem Fuhrherrn Andersen, der dick, aufgeblasen und unbeholfen hinter dem Fenster seines kleinen Verschlages neben der Haustür saß – eingesperrt und apoplektisch, wie eine Blutwurst in einer Mausefalle.

Und der Onkel nickte wieder, langsam und zögernd, als ob er Angst hätte, daß er den Kopf nie wieder auf den richtigen Platz zurückbringen würde, wenn er sich zu höflich zeigte. Na, Gunnar hatte sich außerdem schon seit anderthalb Jahren nicht mehr dort in der Familie sehen lassen.

Sankt Annaeplatz Nr.34!

Warberg ging durch die Haustür und die Treppe hinauf zum ersten Stock. Dort befand sich an der Tür eine große leuchtende Messingplatte: Gräfin Thrane.

Er läutete, und ein Mädchen in weißer Latzschürze öffnete.

»Ist die Frau Gräfin zu Hause?«

»Ja.«

»Empfängt sie?«

»Das weiß ich wirklich nicht.«

»Wollen Sie ihr meine Karte bringen.«

Das Mädchen verschwand mit der Karte und Gunnar befand sich allein in dem großen geräumigen Entree mit den eichenen Wäscheschränken und der alten Messinglichterkrone an der Decke. Eine Krone aus einer Kirche.

Er wartete gern so ein paar Minuten in dieser Umgebung. Es versetzte ihn in Stimmung: Diese alten wurmstichigen Schränke, die steifen hochlehnigen Stühle, die Lichterkrone an der Decke und die verblichenen Kupferstiche in den Stuckrahmen an den Wänden. – – – Er hörte die Türen im Innern des Hauses sich öffnen und schließen, hörte Schritte und ferne Stimmen. Es war, als ob man in der Vorhalle einer alten Burg verweilte, in der die Dienerschaft still umherpusselt ...

Mein Gott, wenn man eine solche Burg besäße, welche Geschichten könnte man darüber schreiben!

»Ja, Frau Gräfin empfängt. Bitte ...«

Das Mädchen öffnete die Tür des Empfangszimmers, und Gunnar trat ein. Auch dieser Raum war ein Fest für seine Phantasie. Die Wände waren mit Jahrhunderte alten Tapeten aus Goldleder bekleidet, lebensgroße Bilder von Ahnen in voller Rüstung und rundbusigen Weibern mit weißen ringgeschmückten Fingern über spitzenbesetzten Taschentüchern gefaltet. Da standen steife Rokokomöbel mit geschnörkelten Beinen und Truhen mit Beschlägen von Silber und leuchtendem Messing. Zärtliche Hirten und Hirtinnen schäkerten auf den Etageren und an der Decke hing eine Krone aus milchfarbigem Glas.

»Frau Gräfin ist im Wohnzimmer.«

Gunnar klopfte an und öffnete die Tür. Die alte Dame saß am Schreibtisch unter dem Fenster. Sie wandte dem Eintretenden den Rücken zu.

»Sind Sie's, Herr Warberg? Bitte, nehmen Sie Platz! Ich will bloß diesen Brief hier adressieren.«

Gunnar setzte sich in einen der weichen Lehnstühle, die um den Tisch in der Mitte des Zimmers standen. Dieses war etwas moderner möbliert. Tiefe Lehnstühle und Decken und Blumen und Portieren. Über dem Sofa hing ein großes Gemälde von dem Hauptgebäude des Rittergutes Thraneborg, wo jetzt der älteste Sohn der Gräfin residierte.

»Na, Warberg, Sie haben Ihre alte Freundin also doch nicht ganz vergessen.«

Die Gräfin wandte sich dem Gaste zu und lächelte. Ihr Gesicht sah frisch und jugendlich aus unter dem weißen Haar und ihre Augen waren klar und freundlich.

»Nein, Ew. Gnaden, aber ...«

»Aber Er hat ein böses Gewissen gehabt«, nickte die alte Dame und drohte mit einem erhobenen ringgeschmückten Finger. »Was sind das auch für fürchterliche Geschichten, die man von Ihnen hört ... und liest!«

»Geschichten ...?«

»Ja. Sie sollen ja die fürchterlichsten Dinge in den obskursten Blättern schreiben, erzählt man mir. Und nun sollen Sie ja noch dazu mit der Polizei in Konflikt geraten sein. – hören Sie, mein Lieber, es tut mir aufrichtig leid um Sie. Was sind das für Räuber, denen Sie in die Hände gefallen sind. Mit wem verkehren Sie? Wie kann dieser nette bescheidene, poetisch veranlagte junge Mensch, den ich seinerzeit in Broby traf und wirklich besonders hoch schätzen lernte, wie kann er sich so verändert haben? Noch im Sommer sprach ich mit meiner Tochter darüber, und sie bedauert das ebensosehr wie ich. Sie haben unser Vertrauen getäuscht, mein Lieber! Sie haben eine mütterliche Freundin in meiner Tochter verloren, Warberg! Es tut mir leid, daß ich es Ihnen sagen muß. Sie schrieb mir gerade gestern, wenn Julius heimkehrt, so müsse ich es auf jegliche Art und Weise verhindern, daß er irgendwie mit Ihnen zusammenkomme. Und der Junge stellt Sie doch so hoch; ja, ich kann sagen, er liebt Sie. Und wir waren alle so froh darüber, denn er ist ja stets ein schwieriges Kind gewesen, und Sie hatten einen großen Einfluß auf ihn. Aber jetzt!«

Die Gräfin faltete die Hände im Schoß und blickte elegisch zur Decke. Warberg hatte still und zerknirscht gesessen und sie angehört. Er wußte, sie mußte löschen, bevor ein anderer laden durfte. Sie war ja ein Weib trotz ihres »Blutes« und ihrer Ahnen. Und außerdem: Sie meinte es so gut mit ihm, die alte Rokokofrau. Er hatte ihr gegenüber ein ähnliches Gefühl wie seiner Mutter gegenüber, er liebte sie. Und dann findet man sich geduldig in manches Wort.

»Na«, fragte die Gräfin, »schämt Er sich?«

»Ich bin tief niedergedrückt«, lächelte Gunnar.

»Er ist den Teufel! Er setzt natürlich eine Ehre in seine Schande!«

»Und Ihre Frau Tochter hat Julius wirklich verboten, mich zu besuchen?«

»Ja, mein guter Warberg. Und ich muß meiner Tochter recht geben. Wir können das Kind doch, bei Gott, nicht mit einer bestraften Persönlichkeit umgehen lassen.«

»Ich bin doch noch nicht bestraft, Frau Gräfin.«

»Nein, aber Sie werden es.«

»So ... ich werde es?«

»Ja, das hat man mir aus zuverlässiger Quelle berichtet.«

»Und finden Frau Gräfin, daß ich es verdient habe?«

»Unbedingt.«

»Haben Sie gelesen, was ich geschrieben habe?«

»Ja ... meine Tochter hat es mir geschickt, es war widerwärtig!«

»Richtig, ja! Aber das war es ja gerade, was ich ausdrücken wollte. Ich wollte den Leuten die Augen öffnen ...«

»Danke, wir wissen's schon.«

»Sie wissen es? Und trotzdem ...?«

Man schafft den Schmutz nicht aus der Welt, wenn man eine Geschichte in einer Zeitung schreibt!«

»Dann schreiben wir zwei!«

»Und wenn Sie hundert schrieben, lieber Warberg ... Aber lassen wir das. Ich sah Sie neulich draußen auf der Promenade mit einer gewissen Dame ...«

»Ich hatte nicht die Ehre, die Frau Gräfin zu sehen.«

»Sind Sie mit dem Geschöpf verlobt?«

»Verlobt? Mit wem?«

»Ach, tun Sie nicht so scheinheilig! Mit diesem Fräulein Möller natürlich!«

»Nein.«

»Ihr seid Arm in Arm gegangen!«

Gunnar senkte die Augen und zuckte die Achseln.

»Sie ist ein einfaches Frauenzimmer, eine ... eine Soubrette! Wissen Sie, daß sie sich von dem Diener Niels karessieren ließ? Nein, das wissen Sie natürlich nicht! ... Um Gottes willen, mein lieber Warberg, denken Sie nicht daran, da irgendeine legitime Verbindung anzuknüpfen!«

»Daran denke ich auch nicht.«

»Ist sie Ihre Geliebte, Warberg? ... Ja, ich rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist, und ich glaube nicht an platonische Verhältnisse!«

»Ich auch nicht.«

»Und sie könnte doch Ihre Großtante sein! Lassen Sie die Verbindung nicht zu alt werden. Man reißt sich so schwer los. Und sie sieht mir aus, als ob sie eine wahre Klette werden könnte. Ja, verzeihen Sie, Herr Warberg, daß ich mich so in Ihre Herzensangelegenheiten hineindränge ...«

»Wir sind nur gute Kameraden, Frau Gräfin!«

»Ja, danke, das Lied kenne ich! ... Nein, aber sehen Sie, mein lieber Warberg, ich schätze Sie sehr hoch und möchte gern, daß Sie reussieren. Sie sind fein und nobel und klug, aber es fehlt Ihnen vollständig an Willen. Und gewiß hauptsächlich Frauen gegenüber ... Sie sehen, ich habe Ihre Geschichten gelesen ... und verstanden! ... Sagen Sie sich los von all dem Schmutz, in den Sie hineingeraten sind! Haben Sie nicht Lust, etwas Sicheres zu ergreifen? Ich habe gute Verbindungen. Es würde mir Freude machen, etwas für Sie zu tun. Was sagen Sie zu einer Stellung an einer der Bibliotheken?«

»Ja – a, gnädigste Gräfin, Dank für Ihre Freundlichkeit, aber ich glaube, ich eigne mich nicht dazu!«

»Und warum nicht?«

»Ich habe zuviel Zigeunerblut im Leibe. Ich liefe in den ersten Tagen davon.«

»Ach, Schnickschnack! Jugendlichkeit! Einbildung! Das soll nun genial sein, das mit dem »Zigeunerblut«! Mein Gott, jeder vernünftige Mensch ist doch zu guter Letzt froh, wenn er in geordneten Verhältnissen leben kann!«

»Nein!«

»Sie sagen: Nein!«

»Ja, das tu' ich. Ich habe es schon ein paarmal versucht, aber es ging nicht. Ich lief jedesmal aus der Lehre.«

»Schnickschnack!« sagte die Gräfin und stampfte mit dem Fuß auf den Teppich. – »Was sind das doch für Proletarier-Ideen, die Sie sich zugelegt haben, mein Guter! Dann haben Sie wohl auch angefangen, den Fisch mit dem Messer zu essen?«

»Hä – nä ...«

»Ja, es ist also bei Gott Ihre Schuld!« fuhr die alte Dame eifrig fort. »Entweder – oder, mein Lieber! Ich weiß noch, was für Furore Sie auf Rudersholm machten, als sie die Gabel mit der Linken handhabten. Es war wirklich allerliebst! Aber: Entweder – oder!«

Gunnar rückte seinen Stuhl näher an den der Gräfin heran.

»Ich darf wohl von der Leber weg reden?«

»Ja, mein Kind, sprechen Sie nur ... Ich habe immer Ihre bescheidene natürliche Art, sich zu geben, goutiert.«

»Glauben Sie nicht, Frau Gräfin, daß diese Herren und Damen, die in den so hochgepriesenen geordneten Verhältnissen leben – daß sie die allerschönsten Bohêmiens sind, wenn die Sonne zur Ruhe gegangen ist?«

»Ja«, weiß Gott, das glaub' ich, mein Lieber! Aber sie tun es hübsch insgeheim. Sie schämen sich ihrer kleinen oder großen Ausschweifungen und gehen nicht mit ihren Liebhabern oder Geliebten am hellichten Tage auf der Promenade spazieren ... Und dabei hat der Monsieur doch den Blick abgewendet, um mich nicht grüßen zu müssen!«

»Ich habe Sie nicht gesehen, Frau Gräfin!«

»Hätten Sie sonst gegrüßt?«

»Ja!«

»Gott steh' Ihnen bei, hätten Sie's getan, mein Lieber!«

Gunnar lachte:

»Na, aber, Frau Gräfin meinen, es sei besser, im Dunkeln auszuschweifen,?«

» Parfaitement, ja! Denn dann sieht es niemand! Glauben Sie, ich weiß nicht, daß wir alle die Lust und den Drang empfinden, alle Gesetze und alle gesellschaftliche Konvenienz zu durchbrechen? Doch! Und wir tun es auch mehr oder weniger. Aber die Klugen schlagen den Landauer auf, mein Lieber, und huldigen weder Venus noch Bacchus im offenen Char- à-banc! Und ich glaubte einst, daß Sie zu den Klugen gehörten!«

»Frau Gräfin meinen: daß ich zu den Lügnern gehörte!«

»Ho! Ho! Sollen wir im großen Stil reden!« lachte die Gräfin. »Die Lügner! Mein Gott, lieber Warberg, was nützt es, die Welt reformieren zu wollen! Sie ist Euch zu stark, sie lacht Euch nur aus! Und sie lacht am besten, denn sie lacht zuletzt! Ich habe alles gelesen, was Sie in Ihrem Blatt geleistet haben. – Ich halte nämlich dieses Blatt, aber meine Tochter weiß es nicht – und Sie und die anderen jungen Menschen haben recht mit allem, was Sie da schreiben. Aber was will das sagen? Ihr bekommt ja doch nicht recht! Na, lieber Gott, Ihr seid jung und freut Euch eine Weile an Eurem eigenen Kikerikigeschrei! Aber früher oder später lernt Ihr die Pfeife einstecken. Aber seht, mein guter Warberg, dann wird es schwieriger für Euch, in die Gesellschaft Eingang zu finden. Und man muß in die Gesellschaft aufgenommen werden, wenn man mit zu Tisch kommen will ... Ach, tun Sie mir den Gefallen, diesen Brief mitzunehmen, wenn Sie gehen, und ihn in den Briefkasten in der Köbmagergade zu stecken. Ich möchte gern, daß er mit dem Abendzug mitkommt.«

Die Gräfin hatte sich erhoben und reichte Gunnar den Brief, der auf dem Schreibtisch gelegen hatte. Sie nickte freundlich und fuhr fort: »Es war hübsch von Ihnen, Warberg, einmal nach mir zu sehen. Sie wissen, ich halte große Stücke auf Sie. Dank für Ihren Besuch!«

Gunnar stand auf, ein bißchen verwirrt. Er hatte über einen langen Gegenstoß gebrütet, aber nun sah er ein, daß die Audienz ein Ende hatte. Er verneigte sich und nahm den Brief.

»Er soll besorgt werden.«

»Und Sie kommen bald wieder herauf?«

»Ja, danke, aber geniere ich die Frau Gräfin nicht?«

»Durchaus nicht ... Ich habe Mathilde Ordre gegeben, Sie nur einzulassen, wenn ich allein bin ... Ja, sie mißverstehen mich doch nicht ... ich ...«

»Nein, keineswegs! Frau Gräfin praktizieren ja bloß Ihre eigene geheime »Lebensphilosophie«.«

»Na also! Adieu, lieber Warberg!«

»Adieu, Frau Gräfin!«

»Sie sind mir doch nicht böse?« fragte die Gräfin plötzlich und ließ ihre weiche kleine Hand über Gunnars Wange gleiten.

»Nein, im Gegenteil, gnädige Gräfin, ich bin ganz verliebt in Sie!«

Die alte Dame lachte:

»Und nun versprechen Sie mir, daß sie diesem Fräulein Binse den Abschied geben«, sagte sie.

»Binse!« rief Gunnar – – »woher wissen denn ...«

»Ach, man weiß alles in dieser Stadt! ... Sie sind viel zu gut und lieb für sie!«

Und wieder glitt die seine weiche Hand über seine Wange.

» Au revoir, mon ami

Warberg verneigte sich schweigend und ging.

Aber als er auf die Straße kam, sang er laut:

»Die Welt ist rund und muß sich drehn,
Rund ist die Welt und muß sich drehn.«

Vetter Benjamin war bei Warberg zu Besuch. Er tat Gunnar von Herzen leid: Fadenscheinig, schmutzig und schlapp war er anzusehen, schlapp trotz seines Fettes, als ob er mit Wasser gefüllt wäre. Die unsterblichen Hosen, die er trug (Gunnar hatte ihn nie in anderen gesehen), waren zerrieben, faserig, unten zerfranst und auf den Knien blank. Dem Rock, ein etwas zu kleiner »Diplomatenrock« mit zu kurzen Ärmeln, fehlten ein paar Knöpfe; und den Hut, Gunnars ausgedienten Filzhut mit rundem Kopf, hatten Sonne und Wasser grün gefärbt und sein Rand war abgegriffen vor lauter Höflichkeit ...

Ach, Herrgott, wie schwer doch mancher Mensch zu Verstand zu bringen ist!

»Setz' dich, Benjamin! Willst du eine Pfeife haben? Ich habe keine Zigarren.«

»Danke, ich habe selbst Zigaretten. Du weißt, seit ich in Rußland gewesen bin, rauche ich nur Zigaretten ... Darf ich bitten ...?« Mette holte ein Päckchen dicker untersetzter Zigaretten (»Elefantenzigaretten«, zehn Öre das Päckchen) aus der Innentasche seines Rockes und präsentierte:

» S'il vous plaît ...«

»Danke, ich halte mich an die Pfeife! – Hör' mal, Benjamin«, fuhr es Warberg plötzlich heraus, »du mußt sehen, daß du etwas zu tun bekommst!«

Mette wurde rot bis zum Halse hinunter und wandte den Blick ab.

»Aber ich bitte dich, Gunnar«, sagte er scheu, »ich gebe mir wirklich soviel Mühe wie ich nur kann. Ich komme eben von der Berlingske Tidende. Ich habe in der Haustür gestanden und nachgesehen, ob sich nicht irgendetwas finden will.«

»Und war gar nichts Passendes?«

»Nein. Aber es wird schon kommen; es wäre ja sonst ganz merkwürdig.«

Warberg dachte einen Augenblick daran, ihn zu fragen, wovon er lebte und Miete bezahlte, unterließ es aber.

»Und dann habe ich an Frau Hartmann geschrieben, du weißt, bei der ich drüben in Schonen war, ob sie mir nicht helfen könne; und sie schickte mir zehn Kronen. Ach, sie ist so ein guter Mensch, Gunnar!«

»Schrieb sie etwas von einer Anstellung für dich?«

»Nein ... sie sandte nur die zehn Kronen und ihre Visitenkarte.«

»Hm ...«

»Ja, aber, das war doch nett, Gunnar!«

»Ja, wahrhaftig!«

»Es liegt auch zum großen Teil daran, daß ich nicht so oft zu dir hinaufkomme, Gunnar«, fuhr Mette fort und machte seine Taubenaugen, »denn du wirst immer so traurig, wenn du mich siehst!«

»Na – aa, wenn du zufrieden bist, dann ...«

»Ja, das bin ich, Gunnar, das bin ich wirklich! Denn es gibt in der Tat doch trotzdem so viele gute Menschen!«

Mette legte mit einer Schillerschen Handbewegung den Rest seiner Zigarette fort und steckte sich eine frische an.

»Und du bist einer der besten«, sprach er weiter. »Bei dir finde ich viel Trost. Und du hast doch eigentlich mit dir genug zu tun. Wie geht es mit der Novelle, wegen deren du angeklagt bist? Das ist auch ein Hauptgrund, weshalb ich zu dir hinaufgekommen bin, denn ich weiß ja, du hast viel zu tun. Meinst du, daß du verurteilt wirst?« »Weißt du, was ich an deiner Stelle tun würde, Gunnar?«

»Na?«

»Ich würde zu allen Richtern gehen und sie begrüßen ...«

Warberg lächelte.

»Ja – a, du«, nickte der Vetter. »Ich bin sicher, wenn sie dich sähen, dann würden sie dir nichts tun, du kannst ja die Leute gewinnen, wenn du willst. In der Hinsicht gleichst du mir.«

»Nee, ich gehe zu gar keinem«, sagte Gunnar. »Wollen sie mich verurteilen, dann mögen sie's tun.«

»Ja, aber, wenn du nun ins Gefängnis kommst!«

»Ach, so schlimm kommt es wohl nicht. Und selbst, wenn sie es täten, so wäre es ja ganz interessant, auch das mal zu erleben.«

»Du hieltest es nicht aus, Gunnar! ... Gott sei Dank, daß man nie etwas mit der Polizei zu tun gehabt hat!«

Warberg blickte ein bißchen überrascht zu dem Vetter empor, der unschuldig-sorglos dasaß und seine Zigarette dampfte und die Hotelgeschichte von Helsingör total vergessen zu haben schien.

Der Teufel lasse sich von Mitleid verzehren, dachte Gunnar. Der Mann gehört ja zu der Kaste der Allerglückseligsten! Unsereiner zerbricht sich oft den Kopf über alles mögliche! Was tut es, Schwerenot, daß die Hosen Fransen haben, wenn nur die Laune heil ist!

»Ja, mein »berühmter Prozeß« geht flott vorwärts«, sagte er laut und lebhaft. »Die Sache ist schon bis zur Beratung des Urteilsspruchs gediehen. Hör' mal übrigens die Erwiderung meines Verteidigers; sie ist glänzend. Werde ich daraufhin nicht freigesprochen, dann – werde ich verurteilt!«

»Ja, laß hören«, sagte Mette vergnügt, und schlug ein Bein über das andere. Seine Schuhe hatten keine Sohlen, und seine Absätze sahen aus, als wären sie jahrelang den schiefen Turm von Pisa auf und ab gerutscht.

»Hier ist sie«, sagte Warberg und holte einen Brief in Großoktav aus seiner Schreibtischlade. »Der Mann schickte sie mir für den Fall, daß ich irgendwelche Bemerkungen hinzuzufügen wünschte; übrigens sehr anständig von ihm. Aber das ist ein so prachtvolles Document humain, daß es Blasphemie wäre, auch nur ein Komma daran zu verbessern ... Jetzt höre:

»An das Kopenhagener Kriminal- und Polizeigericht.

Indem ich mich als Verteidiger des Angeschuldigten Gunnar Johannes Warberg präsentiere, lege ich meine Bestallung vom 23.v.M. vor.

Wie der hochgeehrte Ankläger schon erwähnt, hat der Angeschuldigte bei der Veröffentlichung der betreffenden Novelle die Absicht gehabt, die Aufmerksamkeit der Eltern darauf hinzulenken, wie vorsichtig man bei der Wahl seiner Kindermädchen sein soll, da diese häufig durch unzüchtige Behandlung die Sinne der Kinder erwecken, und hat mir der Angeschuldigte geschrieben, daß er die Schilderung auf eigenen Erlebnissen aufgebaut hat, indem er Zeuge eines Attentates wie des dargestellten seitens eines Kindermädchens gewesen ist, und fügt er ferner hinzu, daß verschiedene ältere sowie jüngere Personen ihm ganz ähnliche Erlebnisse berichtet haben. Der Angeschuldigte hat deshalb nicht im entferntesten die Absicht gehabt, mit seiner Schilderung die Sinnlichkeit der Leser zu wecken, wie er auch der Ansicht ist, daß diese sich nicht als unzüchtige Schrift charakterisieren läßt. Dagegen ist es, wie schon erwähnt, seine Absicht gewesen, den Eltern einen höchst notwendigen Fingerzeig in bezug auf bessere Beobachtung ihrer Kinder zu geben, und da dies nach der Ansicht des Angeschuldigten eine Sache von größter Wichtigkeit ist, so hat er, um seine Warnung möglichst deutlich und eindringlich zu machen, ein wenig starke und grelle Farben angewandt, aber daß er hierdurch die Freiheit überschritten haben sollte, die der Literatur bei der Behandlung derartiger Themata eingeräumt worden ist, kann ich nicht einräumen, und möchte ich nicht unterlassen, darauf aufmerksam zu machen, daß die neuere Literatur, gestützt auf die größten Schriftsteller des Auslandes, eine stets wachsende Neigung zeigt, die geschlechtlichen Verhältnisse mit größerer Freiheit und Offenheit zu behandeln als bisher, um dadurch besser zum großen Publikum reden zu können, und ich möchte in der Beziehung darauf hinweisen, daß selbst ein so angesehener Schriftsteller wie Daudet in seiner »Sapho« diesen Weg eingeschlagen hat, und zwar, ohne daß irgendein Land, so viel ich weiß, Veranlassung zum Einschreiten genommen hat.

Ich möchte deshalb prinzipiell beantragen, den Angeschuldigten freizusprechen und ihn subsidiär dem mildesten Urteil des geehrten Gerichtshofes empfehlen.

Was mit dem Ersuchen um Salär hierdurch anheimgestellt wird.

Kopenhagen, im November 18..

Sören P. Golther.

Scholz, Bürovorsteher.«

»Das ist wirklich gut geschrieben!« rief Mette bewundernd aus.

»Großartig!« nickte Gunnar. »welche Beredsamkeit! Welche Stilkunst, klassisch wie eine lateinische Übersetzung in Meisterlektionen!«

»Du kommst ganz gewiß um die Strafe herum, Gunnar!«

»Aller Wahrscheinlichkeit nach, ja! ... So ein Gedanke, einen alten sechzigjährigen Geschäftsjuristen zum »Verteidiger« einer »unzüchtigen« Schilderung eines jungen Mannes von fünfundzwanzig zu bestellen! Das ist dasselbe, als ob man einen pensionierten Barbier zum Mitgliede eines Komitees zur Errichtung eines Kunstgewerbe-Museums ernennt.«

»Du bist witzig, Gunnar.«

»Nee, ich bin wütend!«

Warberg schmiß das Papier in die Schreibtischlade und schloß sie zu.

Mette begriff seine Wut nicht, denn Mette erschien es im großen ganzen famos, verteidigt zu werden.

Und nun saßen die beiden Verwandten eine Weile schweigend und kauten jeder an seinen Gedanken. Endlich sagte Benjamin:

»Ich kann dich von Binse grüßen, Gunnar; ich sah sie gestern abend im »Tannhäuser«, aber sie sah mich nicht.«

»So, du warst gestern abend im Theater?«

»Ja, ich bekam doch das Geld von Frau Hartmann; und dann hatte ich so lange keine gute Musik gehört. – Oh, die Ouvertüre, du! Ich wünschte, ich könnte an einem solchen Abend im Theater sterben, wie Andersen!« »Es war aber Thorwaldsen.«

»So, war es Thorwaldsen?«

Neue Pause, während deren Warberg nervös mit einem Fuß auf den Boden klopfte. Dann sagte er plötzlich:

»Hör' mal, Mette, du mußt mir's nicht übelnehmen, aber du mußt jetzt gehen! Ich stecke mitten in einer Sache, die fertig werden muß. Du darfst mir's nicht übelnehmen! ... Du kannst ja ein andermal wiederkommen ... nicht?«

Der Vetter erhob sich sofort:

»Ja, aber, lieber Gott, das hättest du mir doch sagen können, Gunnar! Ich habe dich doch gefragt, ob ich dich nicht störte, und du sagtest nein!«

»Ja, ja, aber ...«

»Du weißt doch, daß ich dich nicht gern störe«, fuhr Mette fort und klopfte Warberg auf die Schulter. »Aber, du bist ja der einzige, zu dem ich kommen kann ... der einzige gebildete Mensch, mit dem ich sprechen kann. Aber ich weiß auch sehr wohl, daß ihr Dichter eure Ruhe haben müßt ...«

Er stand schon an der Tür und hatte sie geöffnet:

»Ja, dann adieu, Gunnar, dann komme ich ein andermal wieder ...«

Und er glitt still hinaus und zog vorsichtig die Tür hinter sich zu.

Aber als Gunnar allein war, streckte er in komischer Verzweiflung beide Arme in die Luft und sagte:

»Herr, du mein Gott, Herr, du mein Gott, ich kann doch nicht mein ganzes Leben lang die Wärterin dieses guten Mannes bleiben!«

Und dann setzte er sich an die Arbeit. Aber er sah doch in Gedanken Mette scheu und abgeschabt und armselig und einsam an den hohen Häusern der Straßen entlangsocken auf seinen schiefen bodenlosen Schuhen.

 


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