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»Wollen wir beide?«
»Was?«
»Wollen wir beide, Herrchen?
»Nee, weiß Gott, wir wollen nicht!« sagte Gunnar und lachte.
»Warum nicht, Herrchen ... Ach, doch ... kommen Sie!«
»Nein!« sagte Gunnar hart.
»Dann hol' Sie der Deuwel«, sagte die Dame und setzte ihre Route auf den Fliesen des Bürgersteiges fort.
Warberg war auf einem abendlichen Spaziergang in der Stadt in eine der kleinen Gäßchen in der Umgebung von Vartow gelangt. Und er sah nun dem Mädchen nach, das geputzt und sich in den Hüften wiegend gerade eine Gaslaterne passierte, unter der sie stehen blieb, um einen leuchtenden hochroten, langen Schal zu ordnen, den sie um den Hals trug.
»Kennst du Jesus?« fragte da plötzlich eine tiefe Stimme dicht an seinem Ohr.
Warberg wandte sich überrascht um.
Es war ein großer nachlässig gekleideter Mann mit wildwachsendem Bart und großen brennenden, geisteskranken Augen.
»Armes, bedauernswertes, elendes Menschenkind«, fuhr der Mann fort und legte seine Hand auf Gunnars Schulter, »was willst du tun! Du willst deine unsterbliche Seele für eine kurze Lust verkaufen!«
»Mein Lieber«, sagte Warberg, der nun die Situation begriffen hatte. »Du zerbrichst dir den Kopf über alles mögliche ... kümmere dich um deine Sachen!«
Der Fremde fixierte ihn scharf.
»Es ist unser Los, daß man uns verhöhnt«, sagte er dann. »Aber mir nehmen das Martyrium auf uns wie unser Herr Jesus Christus.«
»Mit Ch?«
»Wie beliebt?«
»Christus mit Ch oder mit K? ... Ja, denn es gibt nämlich zwei dieses Namens, einen milden und guten und menschenfreundlichen, das ist der mit K; und einen drohenden und harten und bösen, das ist der mit Ch. Welchen von beiden meinst du nun?«
»Mit jeder Schale des Spottes, die über unser Haupt ausgegossen wird«, sagte er, »wachsen wir im Reiche Gottes.«
»So ist die Sache«, nickte Gunnar. »Was bekomme ich dann von dir, mein guter Mann, wenn ich hier stehe und dich ein Stündchen verhöhne?«
»Lieber junger Freund«, begann der Missionär, »ich will dir eine Geschichte erzählen von ...«
»Danke«, sagte Gunnar, »aber gestatten Sie, daß ich Ihnen erst eine berichte? ... wissen Sie, was Sie durch Ihre Aufdringlichkeit bewirkt haben? Daß ich nun gerade mit dem Mädel nach Hause gehe ...!«
»Mathilde, oder wie du nun heißest«, rief er das Mädchen an, das sich auf seiner Wanderung hin und zurück wieder der Laterne näherte, »komm hierher, mein Kind. – Ich gehe doch mit dir ein zur ewigen Freude!«
Die Dame kam eiligst auf sie zu.
»Ich heiße Laura«, sagte sie. »Uff, Sie, Johannes der Täufer!«
Sie stieß mit dem Fuß nach dem Missionär. »Alle Abende geht er hier herum und stört uns in unserem Geschäft.«
»In Jesu Namen müssen alle ...«
»Ach, halt's Maul!«
Sie packte Warbergs Arm mit ihren beiden Händen und wollte ihn mit sich ziehen; aber der Missionar hielt ihn bei dem anderen fest.
»Bedenke doch, du verblendeter ...«
Gunnar wußte nicht recht, sollte er weinen oder lachen; er riß sich los und wollte beinahe von allen beiden weglaufen. Aber plötzlich kam ihm die Erkenntnis: Das Mädel hat recht! Sie wird wirklich in ihrem gesetzlichen Geschäft gestört von diesem ... Schwärmer!
Und er legte seinen Arm in den Lauras und folgte ihr.
Sie führte ihn in eines der nächsten Häuser und eine schmale dunkle Treppe hinauf, wo am Absatz der ersten Treppe eine kleine blakende Petroleumlampe an der Wand hing.
»Hier wohne ich«, sagte sie und, öffnete die Tür rechts.
Warberg trat ein:
Es war ein außerordentlich gemütliches Zimmer mit Gardinen, Portieren und Möbelbezügen von gleicher Farbe. Und an den Wänden hingen herrliche Öldruckbilder und Messingschüsseln und eine gestickte Zeitungsmappe mit dem »Familienjournal« darin. Und ein Klavier stand da. Und zwischen dem Klavier und dem Fenster thronte auf einer Säule Gott Amor in Gips mit Pfeil und Bogen.
»Sieh, sieh«, lächelte Gunnar und deutete auf den Gott in der Ecke, »der Herrscher des Hauses!«
Laura lachte gellend. Sie war im Begriff, Hut und Mantel abzulegen. Der lange Schal hing schon über einer Stuhllehne.
Er betrachtete das Mädchen: groß und stattlich und kräftig war sie und gesund und frisch ... anzusehen. Aber ihr Gesicht war bleich und gepudert; und ein paar gierige, etwas herausquellende Augen leuchteten darin. In diesen Augen lag etwas, das an Binse erinnerte.
»Na, Kleiner, willst du nicht den Rock ausziehen? Hier ist eingeheizt!«
Sie stellte sich vor Gunnar auf, der in einem »Faulenzer« saß.
»Hier wohnen Sie ja nett«, sagte er und deutete umher.
»Ja, das muß man«, sagte sie, »hier kommen viele bessere Herren her.«
»Sind das Ihre eigenen Möbel?«
»Ich glaube wahrhaftig, er sagt Sie! Schäfchen! Nein, sie gehören der Wirtin. Ziehen Sie nun den Rock aus.«
Sie half ihm den Überrock ablegen, den sie auf einen Haken an der Tür hing.
»Setz dich auf die Chaiselongue«, sagte sie dann.
»Danke, ich sitze hier ganz gut.«
»Ja, aber ich will neben dir sitzen.«
»Daraus mache ich mir gar nichts.«
»Wozu bist du dann heraufgekommen?«
»Um ein bißchen mit dir zu plaudern ... und dann übrigens auch, um den Prediger da unten zu foppen.«
»Der!« lachte sie gellend auf. »Der Schafskopf! ... wenn ich nur ein Mann wäre, ich würde die Mädels gehörig lieben, hoho! ... Wollen wir wirklich nicht?«
»Nein, bestimmt nicht«, lächelte Gunnar. »Sie sollen mir ein bißchen erzählen, wie Sie leben, und ...«
»Glauben Sie, ich lasse mich zum Narren halten?« sagte sie und stand auf.
»Gott bewahre, nein! Sie sollen natürlich Ihre Bezahlung haben!«
Er nahm sein Portemonnaie und legte etwas Geld auf den Tisch.
»Sie sind doch ein merkwürdiger Dummkopf«, sagte sie besänftigt. Dann nahm sie das Geldstück, spie es an und steckte es in die Tasche. »Das ist das Handgeld für heute abend«, sagte sie.
»Was liegt da für ein Brief?« fragte Gunnar und deutete auf ein auf dem Tisch liegendes Kuvert.
»Der ist von meinem Bruder.«
»Darf ich ihn lesen?«
»Hä ... was haben Sie denn davon?«
»Ja, es macht mir Spaß ...«
»Ja, bitte schön, aber ein bißchen fix, denn ich muß wieder herunter.«
Das Mädchen setzte sich ans Klavier und tastete ein paar Liedchen zurecht: patriotische Gesänge, Couplets und Bruchstücke von Psalmen. Und Warberg nahm den Brief und las:
»Holbaeck, den 18. November 18..
Meine innig geliebte Schwester Laura!
Gestern abend erhielt ich Deinen Brief, ich sage Dir Dank dafür, daß Du meinen so schnell beantwortet hast. Mit großer Verwunderung las ich Deinen Brief, aber sein Inhalt erzürnte mich freilich sehr, da ich erfahre, auf welchem Platz Du angelangt bist; nun sehe ich ein, liebe Laura, daß alles für Dich verloren ist, Glück und Wohlfahrt Deines ganzen Leben sind vernichtet. Du bist ja nun in eine Stellung eingetreten, wo Dir nur Scham und Schande folgen werden. Du hast nun Deinen Körper jedem Menschen preisgegeben, was soll daraus werden, hat es denn für Dich keine andere Stellung gegeben, liebe Laura, wo Du als ein ehrliches und anständiges Mädchen hättest dienen können. Du mußt mir wirklich glauben, meine liebe Laura, daß es mir um Dich leid tut, denn ich weiß genau, daß ich nie soviel auf eines meiner Geschwister gehalten habe, wie auf Dich, und Dich dann in einer solchen Stellung zu wissen, wo Du jeden Augenblick der rohen Behandlung jedes Mannes ausgesetzt bist, das sei sicher, geliebte Laura, das tut mir sehr weh; aber ich sehe ja freilich jetzt, daß es zu spät ist, trotzdem es mir scheint, als ob noch Rat wäre, aber ich habe längere Zeit sehr für Dein Schicksal gefürchtet, denn eine bange Ahnung hat sich stets meines Inneren bemächtigt, weshalb, das habe ich nicht gewußt, aber ich kann mir jetzt selbst den Grund erklären, aber darüber habe ich im übrigen so lange nachgedacht, und ich habe eingesehen, daß das aus Deinem Leben werden mußte, liebe Laura, denn Du mußt ja doch zugeben, daß Du schon in so jungen Jahren einen sehr ausschweifenden Lebenswandel geführt und auch Deinen eigenen Wandel befleckt hast. Glaube mir, meine innig liebe Laura, diesen Brief schreibe ich Dir als eine Strafpredigt, denn Du hast sie gewiß verdient. Du schreibst in Deinem Brief, Du glaubst, ich werde Dich hassen für das was Du betreibst, nein im Gegenteil, ich liebe Dich herzlich und brüderlich und werde Dein Betragen niemals wieder tadeln als nur diesmal, aber diesmal sollst Du es dulden. Ich habe einen Brief von Mutter erhalten, sie schmäht und lästert Dich in so hohem Grade, wie ich es Dir nicht sagen kann, aber sie und Hanne haben sich ja auch gegen Dich verschworen. Aber vielleicht fügt es das Glück, daß sie eine Range zu behüten kriegen, dann werden sie wohl andere Sorgen haben, denn der Schwede sitzt gewiß Tag und Nacht bei ihnen im Hause, und es wäre merkwürdig, wenn das ohne Folgen bliebe.
Ich will nun heute schließen mit einem liebevollen Gruß an Dich, Laura, in der Hoffnung, daß Du diese Zeilen mit dem Gedanken liesest, daß sie in einer guten Absicht und aus einem liebevollen Herzen geschrieben sind, das versichere ich Dir, und hoffe ich, daß Du mir bald wieder schreibst und nun lebe wohl, geliebte Laura, und sei geküßt von mir und der kleinen Julle. Schreibe Deine Adresse deutlich.
Dein ergebener
J. G. Petersen.«
Warberg saß eine Weile mit dem Briefe in der Hand, nachdem er ihn gelesen hatte ... Laura saß noch am Klavier und klimperte. Es waren ein paar Takte aus »Schön ist die Erde« ... von der Straße her ertönten Schritte und Stimmen. Und es war ihm, als könne er des Missionars »Kennst du Jesus?« deutlich hören. Dann erklang lautes Gelächter und Plaudern unten von der Haustür her und Schritte kamen die Treppe hinauf.
»Jetzt hat Theodora auch einen Happen bekommen«, sagte Laura und hielt mit Musizieren inne.
Warberg legte den Brief wieder auf den Tisch:
»Das ist ja ein hübscher Brief«, sagte er.
»Ja, es ist ein guter Junge«, nickte das Mädel. »Wir beide haben immer zusammengehalten.«
Und sie sagte das warm und menschlich, wie eine »unschuldige« Schwester, die von ihrem liebsten Bruder spricht.
Gunnar erhob sich. Ach, was geht mich das an, dachte er. Ein kluger Mann hat hier auf der Welt nichts weiter zu tun als den Zuschauer zu spielen.
»Ja, dann will ich gehen«, sagte er laut und nahm seinen Überrock.
»Hätten der Herr nicht Lust, die ganze Wohnung zu besehen?«
»Ja, danke, das möchte ich gerne. Aber halte ich dich nicht auf?«
»Ach, das ist ja bald gemacht!«
Sie öffnete eine Tür im Hintergrunde der Stube.
»Hier ist das Schlafzimmer, hübsch, was?«
Da stand ein großes Himmelbett mit blauen Gardinen mit breiten Spitzen. Und eine Waschtoilette war da mit Marmorplatte und geblümter Waschgarnitur. Der Teppich reichte über den ganzen Fußboden, und unter der Decke hing eine hellrote Ampel, die einen dämmerigen rosenroten Schein im Zimmer verbreitete.
»Und hier ist die Küche.«
Sie machte eine Tür sperrangelweit auf.
»Nein, wie niedlich!« entfuhr es Gunnar unwillkürlich.
Es war eine winzig kleine Puppenküche, mit Tellern, Schüsseln, Kasserollen und leuchtend blank geputzten Kupfersachen rings an den Wänden. Und vor dem Fenster hing eine hochrote, oben umgeschlagene Gardine mit weißer gehäkelter Spitze.
Laura stand und sah sich mit hausmütterlichem Stolz um.
»Ja, man hält ja seine Sachen in Ordnung«, sagte sie.
»Man ist doch nicht geradezu zum Schwein geworden! Und dann kommen doch auch manchmal Herren, die hier frühstücken wollen.«
All das Zynische und Freche, das das Mädchen an sich gehabt, war verschwunden. Sie machte auf Gunnar den Eindruck einer jungen Hausmutter, die stolz und froh ist, ihr nettes kleines Heim vorzeigen zu können.
Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrten, sagte sie:
»Wollen Sie so gut sein, mir meinen Mantel anziehen zu helfen?«
(Jetzt sagte sie die ganze Zeit »Sie«.)
Warberg half ihr.
»Mußt du nun wieder fort?«
»Ja, ich muß doch herunter!«
Sie öffnete die Tür und ließ Gunnar vorangehen.
»Adieu«, sagte er.
»Adieu. Und kommen Sie bald einmal wieder! ... Sie sind so gemütlich und ... anständig!«
Sie war immer noch die Hausfrau, die Besuch empfängt.
Aber in demselben Augenblick kam ein Mädchen die Treppe hinauf, einsam, ohne Begleiter.
Da fuhr Laura hastig mit der Hand in die Kleidertasche, holte Gunnars Geldstück vor und hielt es der Konkurrentin unter die Nase:
»Die zwei Kronen wären verdient!« sagte sie und knipste übermütig mit den Fingern.