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Ein Brief an die Mutter

Du bist doch alles, Du bist immer da. Es wundert mich nicht, daß Du kein so großes Heimweh nach mir hast. Du bist ja da. Im Anfang war ich in dieser Stadt ohne Rat, Hilfe und Trost. Auch Deine Briefe halfen mir nicht. Ich lief von einem Ende zum andern, in die Kaffeehäuser, in die Weinstuben in alten, uralten Häusern, die man hier hat, dann wieder ziellos zur Stadt hinaus, dann kaufte ich Kognak und brütete tagelang auf meiner Bude. Ich arbeitete nicht und war gepeinigt vom Gewissen und von der Langeweile. Unordnung, Trostlosigkeit, Heimweh, alles wirbelte durcheinander. Dann merkte ich auf einmal, daß Du ja da warst. Da, bei mir, als ob ich daheim wäre. Überall bist Du seitdem mit Deinem Sprechen da, mit Deinem Aussehen, mit Deinem Lachen und mit Deinem Weinen manchmal. Du bist mit Deinen Händen da, darum ist mein Zimmer immer wie neu aufgeräumt. Du bist mit Deinem Hin- und Hergehen da, ich höre Dich jeden Tag einigemal. Du bist mit Deiner Wärme da, ich müßte sonst frieren, wenn hier die feuchte, naßkalte Zeit anfängt. Du bist mit Deinen Augen da, Du siehst mich überall, und ich sehe immer wieder nach Dir auf und sage: Du bist noch da! Dann nickst Du.

Eduard Reinacher.


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