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»Und nun« – nahm Amalek das Wort – »was habt Ihr gethan während dieser drei Wochen?«
– »Der König Dareios«, sagte der Gallier, »war so schnell geflohen, indem er unterwegs (vielleicht um uns aufzuhalten) seinen Schatz und sein ganzes Gepäck zurückließ, daß er leicht einen Vorsprung von zwölf Stunden gewann. Wir folgten ihm gleichwohl und wir sind es, die ihn sterbend, durchbohrt von den Pfeilen seiner eignen Diener, gefunden und eigenhändig begraben haben. Alexander, der mit der thessalischen Reiterei in der Entfernung eines Tagemarsches hinter uns her zog, kam nur an, um auf seinem Grabe schöne Worte zu sagen.«
– »Wie! Dareios ist tot?« schrie Amalek.
– »Dareios ist tot«, wiederholte Pendragon, »und das Reich der Perser und der Meder ist gestürzt. Asien gehört heute dem, der es nehmen will.«
Da neigte sich die alte Arachosia, die mit uns auf dem Wagen Drangianes war, gegen die Prinzessin und sprach mit gedämpfter Stimme:
»Meine Tochter, du siehst, meine Prophezeihungen gehen in Erfüllung. Du wirst eines Tages Königin sein, und hier ist der Herr, der über das Land der Sonne zu herrschen bestimmt ist.«
Sie zeigte mit der Hand auf Pendragon.
Während dieser Reden fuhren wir unter der »Pforte des Tages« durch, über welcher der höchste der Türme von Babylon emporragt. Dort nimmt die große Assurstraße ihren Anfang, welche in gerader Linie zwei Dritteile der Stadt durchschneidet und am Euphrat ausmündet. Gewaltige Denkmäler, bis dreihundert Fuß hoch, begrenzen sie zu beiden Seiten. Es sind Tempel, Paläste, Bibliotheken. Das Erdgeschoß aller dieser Denkmäler, welches nicht weniger als sechzig Fuß hoch ist, bildet ein ungeheurer, eine Meile langer Bazar, wo alle Waren und Wunder Asiens zur Schau ausgestellt sind. Eine zahllose Menge von Männern und Frauen von allen Rassen und allen Religionen füllt die Bazars und strömt von da in diese Straße.
Wir kehrten also auf der großen Assurstraße nach Babylon zurück, mitten im Gewoge einer gewaltigen Volksmenge, welche von allen Seiten rief: »Es lebe Amalek! gepriesen sei Pendragon!« denn die letzte Heldenthat des Galliers war schon bekannt. Er stieg vor dem Portal der Außengebäude des großen Baalstempels ab, welchen Amalek ihm als Wohnung bis zur Ankunft Alexanders angewiesen hatte. Zehn der verlornen Söhne wohnten bei ihm, die andern wurden in einem benachbarten Wachthaus untergebracht. Alle priesen um die Wette den Mut und den Edelsinn ihres Anführers. In ihren Augen war der makedonische König ihm kaum ebenbürtig.
Am Tage vor dem Einzuge Alexanders – d.h. drei Tage nach der Ankunft Pendragons und seiner Truppe – war ich in der äußeren Umgebung des Baalstempels und machte Pendragon meine Aufwartung (denn wozu sollte ich es leugnen? nachdem ich gesehen, wessen er fähig war, betrachtete ich ihn bereits als meinen Herrn), als Freund Samuel mich aufsuchte, um mir die Stadt zu zeigen.
Sobald wir auf der Straße waren, fragte ich: »Was giebt es Neues?«
– »Komm mit mir in das Gasthaus, du wirst es sehen!«
»Ins Gasthaus? Du vergissest, daß ich in der Tracht eines chaldäischen Priesters bin.«
– »Nur ruhig! Ich vergesse nichts. Überdies mußt du mit eignen Augen sehen. ... Was ich dir sagen könnte, würde nicht genügen, um dich zu überzeugen.«
Wir traten also in ein Gasthaus, vielleicht das größte in Babylon, denn es hatte eine Länge von 600 und eine Breite von 200 Fuß und war durch Säulen von 100 Fuß Höhe gestützt. Im Hintergrunde des einzigen Saales, der aber in Räumlichkeiten auf Brusthöhe eingeteilt war, sah man das Bild Baals, des grausamen Gottes, zu dessen Füßen man die Kinder der angesehensten Familien erwürgt, wenn der Euphrat über das Ufer tritt und die Ebene bedeckt, oder wenn der Feind Babylon zu überfluten droht.
Rechts und links, vom Hintergrunde des Saales bis zum Eingang, waren die Tische der Trinker aufgestellt, welche mit gekreuzten Beinen dasaßen und ihre Augen auf einen Dichter richteten, der in chaldäischer Sprache bald elegische, bald heroische Verse zum Preise der alten assyrischen Helden vortrug, auf Nabopolassar, Sinachiirib und Nabukudurussur, den König, der, wie Samuel mir erzählte, während sieben Jahre lang in einen Ochsen verwandelt war.
Mein Freund und ich nahmen einen Platz im Hintergrunde des Saales, ganz nahe bei dem Bilde.
»Von hier aus«, sprach Samuel, »werden wir besser sehen und hören.« In der That konnte es keinen besseren Platz geben, denn wir lehnten mit dem Rücken gegen das Piedestal der Statue. Wenn wir den Kopf nur ein wenig nach rechts drehten, konnten wir das ganze Schauspiel sehen.
Denn dieses Gasthaus war auch ein Theater. Dort brachten die Babylonier, reich und arm, jeden Abend drei Stunden zu. Die Fremden waren noch zahlreicher vorhanden als die Babylonier, denn sie hatten weder Haus noch Familie und wußten nicht, was treiben, wenn sie nicht von ihren Geschäften in Anspruch genommen waren. Das erklärte mir Samuel sogleich.
Auf diesem Theater tanzte man, sang man, führte man Komödien und Tragödien, wie die des Aristophanes, des Äschylos und Sophokles auf – wenigstens soweit Dichter fremder Völker sich denen nähern können, welche Phöbos Apollo seiner Eingebungen gewürdigt hat.
Der erste Schauspieler, der auftrat, war mit prächtigen Kleidern, wie ein König angethan, sein Rock war von Seide und Purpur, sein Kopf bedeckt mit einer demantgeschmückten Mitra. Er setzte sich auf einen im voraus hergerichteten Thron. Seine Wachen stellten sich links und rechts von ihm auf, auf lange Speere gestützt und bereit, seine Befehle zu vollziehen. Er war da, um seinem Volke Audienz zu geben.
Eine zahlreiche Menge trat auf; jeder hatte natürlich eine Klage vorzubringen.
Zuerst erschien ein armer Mann und sagte:
»Herr! Soldaten sind gekommen. Ich hatte nur ein Huhn und einen Hammel, sie haben mir Huhn und Hammel genommen. Ich wollte schreien und den Hammel bei einem Hinterbeine zurückhalten; aber da haben sie mir zehn Stockschläge gegeben, haben mich auf dem Pflaster liegen lassen und sind weggegangen.«
– »Der Fall ist schwer!« erwiderte der König und dachte einen Augenblick nach. Alle Zuschauer sahen mit Unruhe auf ihn. Endlich entschied er sich. »Man lasse die Soldaten kommen«, sprach er.
Die Soldaten erschienen mit dem Schwert in der Hand.
»Also ihr habt diesen Mann geschlagen und beraubt?«
Der Älteste antwortete:
»O Herr, wir haben weder geschlagen noch geraubt.«
– »Oh! der Lügner! rief der arme Mann.
– »Herr!« erwiderte der Soldat, »das ganze Land gehört doch dir?«
– »Allerdings«, sagte der König.
– »Auch deine Armee gehört dir, wie alles übrige?«
– »Noch mehr wie alles übrige«, erwiderte der König, »meine Armee ist mein rechter Arm.«
– »Nun denn, Herr, mußt du nicht deinen rechten Arm nähren, ebenso wie deinen linken Arm und deine ganze Person?«
– »Ja wohl, allerdings«, sagte der König.
– »Also«, fügte der Soldat hinzu, »seit mehr als sechs Monaten haben wir nicht eine Dareike bekommen. Dein rechter Arm wurde mager, elend. ... Was haben wir gethan? Mit dem Bewußtsein, daß alles auf Erden dir gehört, haben wir bei diesem Manne, der dir gehört, nur das genommen, was du uns versprochen hast, was du uns selber gegeben haben würdest, wenn du dagewesen wärest, großer König, das heißt das Huhn und den Hammel. Wir sind deine Sklaven, mußt du uns nicht zu essen geben?«
– »Ich muß es«, sprach der König.
– »Wir haben also nicht gestohlen?«
– »Ihr seid dessen nicht fähig, meine Freunde!«
– »Dieser Elende«, fuhr der Soldat fort, »hat uns also beschimpft, indem er uns Diebe nannte!«
– »Allerdings! allerdings!«
– »Und wenn er uns beschimpft hat, hatten wir das Recht, ihm Stockschläge zu geben?«
– »Ihr hattet es.«
– »Und wenn wir in irgend etwas Unrecht hatten, so war es darin, daß wir ihm bloß zehn Stockschläge aufbrannten, denn dieser Mann wollte uns die Ehre abschneiden und die Ehre eines Soldaten ist mehr wert als zehn Stockschläge.«
– »Gewiß!« sagte der König.
– »Also wir waren drei, deren Ehre gefährdet war. Dreimal zehn macht dreißig. Soll ihm Recht geschehen, so muß er noch zwanzig Schläge erhalten.«
– »Wenn ihr sie ihm schuldig seid, bezahlt ihn!« sagte der König. »Man muß seine Schulden immer bezahlen.«
Das geschah denn auch auf der Stelle, zur großen Freude der Zuschauer, die nicht genug lachen konnten, und trotz des Jammerns und Schreiens des unglücklichen Bauers.
»Was sagst du zu diesem Stück?« fragte mich Samuel. »Hast du den Titel ›König und Bauer‹ beachtet?«
– »Ich sage, daß der König auf sonderbare Weise Gerechtigkeit übt.«
– »Nun ja, und so wird sie überall in Asien geübt, und das bewirkt die Erfolge Alexanders. Sollten sich die Völker etwa hinschlachten lassen, um solche Herrn zu behalten, wie du eben einen gesehen hast? Daher kommt es, daß, wenn die Armee geschlagen ist, alles sich dem Sieger zu Füßen wirft. ...
»Willst du jetzt etwas Lustigeres sehen? Höre aufmerksam zu und verfolge die kleine Szene, die du aufführen siehst.«
– »Wie heißt das Stück?«
– »Die beiden Ehemänner.«
Die Pause zwischen den zwei Stücken wurde mit Gesängen und Tänzen ausgefüllt. Der Schauspieler, der die Rolle des Königs gab, bewahrte eine imponierende Würde, während die jungen Babylonierinnen mit unaussprechlicher Grazie tanzten, um die Augen der Zuschauer zu entzücken.
Endlich ließ sich hinter dem Vorhang, der den Hintergrund des Theaters verhüllte, ein Trommelgewirbel vernehmen, und das Stück, welches Samuel mir angezeigt hatte, begann.
Die Leibgardisten, welche einen Augenblick weggegangen waren, um den Tänzerinnen Platz zu machen, nahmen rechts und links vom König ihre Plätze wieder ein.
Dieser selber zeigte sich in erhöhter Majestät. Ein Chor von Satrapen sang Verse zu seinem Lobe:
Wie groß ist er, wie schön und hehr
Dareios, unser stolzer Herr!
Wenn dreimal er die Lanze schwingt,
Sein Volk dann in die Feinde dringt,
Zermalmt zu Staub sie, wie der Stein
Das Korn zermalmt zu Mehl so fein;
Wie groß ist er, wie schön und hehr,
Dareios, unser stolzer Herr!
Der König schien von dieser Poesie entzückt und schwang in der That dreimal seine Lanze, um zu beweisen, daß die Satrapen nicht gelogen hatten, wenn sie ihn als einen unbezwingbaren Krieger priesen.
Hierauf erschien ein armer Mann, der sich auf einen Stock stützte; sein Gesicht war übel zugerichtet, der Kopf in Binden eingewickelt; er trat vor bis zum Fuß des Thrones. Hier warf er sich auf die Erde.
– »Wer bist du? was willst du von mir?« fragte der König.
– »Oh, oh, sie, sie ...« stotterte der arme Mann, indem er sich das Kreuz rieb.
»Nun, wird's bald, was willst du denn von mir?«
– »Herr, verzeiht mir! ich habe Mühe, mich aufrecht zu halten: sie hat mich so stark geschlagen!«
– »Wer hat dich geschlagen, Dummkopf?«
– »Meine Frau, Herr!«
– »Du hast es ohne Zweifel verdient.«
– »Ach! Herr, ich bin der sanfteste Mann des ganzen Quartiers.«
– »So hast du zu viel getrunken?«
– »Herr! ich trinke nur Wasser!«
– »Aber sie hatte doch einen Grund, denke ich?«
– »Ach! Herr, ja, sie hatte einen Grund, wenn man das einen Grund nennen kann!«
– »Ich dachte mir doch, daß sie etwas gegen dich haben mußte! So laß doch diesen Grund hören, du Esel!«
– »Ja, ja, Herr. Ich bin meines Handwerks ein Bäcker und ich arbeitete Tag und Nacht, um meinen Nachbarn und dem ganzen Quartier Brot geben zu können.«
– »Ja, das ist wahr!« rief das Volk.
– »Und ich mache gutes Brot, ich darf mich wohl rühmen.«
– »Das beste in Babylon!« rief wieder das ganze Volk.
– »Aber«, fuhr der Bäcker fort, »während ich in der Backstube bin ...«
– »Läßt dich deine Frau dort«, unterbrach ihn der König und lachte über seinen eignen Witz.
– »Wie Ihr sagt, Herr! Sie läßt mich in der Backstube, aber mehr noch, sie geht zu unsern Nachbarsfrauen, um von diesem und jenem zu schwatzen. Heißt das eine gute Aufführung? was? heißt das dem Mann und seiner Bäckerei Ehre machen? was?«
– »Ich merke«, sprach der König. »Deine Frau ist eine Klatschbase, aber wenn ich alle Klatschbasen im Lande wollte ins Gefängnis stecken lassen, so würden die Gefängnisse nicht ausreichen. Übrigens hat sie dich doch nicht mit ihrer Zunge in einen solchen Zustand versetzt?«
– Ach! Herr, nein«, erwiderte der arme Mann. »Aber diesen Abend, als mein Essen nicht bereit war – eine Schüssel Linsen mit Wasser und Brot, erlauchter Herr – wollte ich mich beklagen und sagte, sie thäte besser daran, Linsen zu kochen als von den Leuten Übles zu reden und mir in der Stadt Feinde zu machen; da geriet sie in Zorn, hat die Teigrolle genommen und mir soviel Schläge gegeben, daß ich beinahe daran gestorben wäre ...«
– »Aha!« sagte der König, das Kinn auf seine Rechte stützend, um bequemer nachdenken zu können. »Ist das alles? ...«
– »Ei! Herr, ist das nicht genug? Seht Ihr nicht, wie sie mich zugerichtet hat?«
Zu gleicher Zeit nahm er seine Binde weg und zeigte sein rechtes Auge, das von Schlägen ganz entstellt und geschwollen war, und seine beinahe ausgerenkte Kinnlade; er wollte auch sein Kleid ausziehen und uns noch viel mehr zeigen, aber der König gebot ihm Halt und sagte, indem er sich mit Hoheit erhob:
»Armer Junge, du dauerst mich; aber sieh selber, ob du der einzige deiner Art bist.«
Mit diesen Worten zog er seinen Purpurrock aus, nahm sein blauseidenes Wams von ausgesuchtester Arbeit, dann seine mit Diamanten geschmückte Mitra weg und zeigte uns seine mit Narben und Schrunden bezeichneten Schultern, und seinen Schädel, an dem man noch Blutspuren sah.
»Du siehst«, sagte er, »wie meine eigne Frau, ja wohl, die Königin Stagira, mich gestern behandelt hat. Wie soll ich dir zu deinem Recht verhelfen, da ich mir selber nicht dazu verhelfen kann?«
Bei diesen Worten brachen die Zuschauer in schallendes Gelächter aus und der König entfernte sich würdevoll mit seinem ganzen Volke durch eine Hinterthür; seine Satrapen folgten ihm und sangen stärker als je im Chor den Refrain:
Ach! wie groß, wie schön und hehr
Ist Dareios, unser Herr!