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Begegnung am 12. November

Die beiden Jugendfreunde hatten einander seit vier Jahren nicht gesehen, und als sie nun, unter so außerordentlichen Umständen, auf der Rampe des Parlaments zusammenprallten, starrte jeder von beiden in ein fremdes Gesicht.

Aber an diesem Tage redeten auch die Fremdesten zueinander. Dicht gedrängt und verkeilt standen die Menschenmassen an den Rampenbögen, dicht geschart, hundertköpfig, auch hinter dem mächtigen, eisenvergitterten Glastor des Abgeordnetenhauses, das der zweifache Druck von außen und von innen geschlossen hielt. Unmöglich, sich da nicht anzusprechen.

Ein ernster Mann in mittleren Jahren, halbmilitärisch mit Wickelgamaschen, Feldbluse und einer Art Radfahrkappe bekleidet, drängte mit anderen von innen gegen das Tor. Es ging langsam auf, er trat beherzt in den Spalt, da warf sich ihm, von außen nach innen gerissen, mit hochgeschwungenem Spazierstock, verzerrten Gesichts, ein ungefähr gleichaltriger Herr entgegen. Und mit beschwörender Stimme rief er, die Augen angstvoll vergrößert, den Vordringenden an:

»Gehen Sie nicht da hinaus! Ich rat' Ihnen gut!«

Der Eindruck war so stark, daß der Angerufene zurücktaumelnd nach dem schon halb in seinem Rücken befindlichen, sich langsam schließenden Torflügel griff; mit voller Kraft nach rechts drängend, gelang es ihm, sich außerhalb des Kreises, den er beschrieb, zu behaupten. Der schwere Flügel fiel neben ihm dröhnend ins Schloß, wurde unter stärkerem Geheul von außen rasselnd abgesperrt. Die beiden Männer standen einander atemnahe gegenüber, und nun erst erkannte der Gewarnte in dem Warner seinen Jugendfreund, den Baron.

»Weidenau!« rief er.

»Höfer!« rief der andere und ließ den noch angstvoll erhobenen Spazierstock gemütlich sinken: »Nein – so was! … Aber ich hätt' dich wirklich nicht erkannt. Du hast dich etwas verändert!«

»Du gar nicht!« erwiderte der als Höfer Angeredete, indem er mit einem gymnasiastenhaft ironischen Ausdruck seines mageren, dunkeläugigen Gesichts auf die fein abgestimmte Krawatte des Barons schielte, der auch sonst ziemlich elegant, wenngleich im Stile der Vorkriegszeit, gekleidet war. Und er fügte hinzu:

»Du bist auch noch an Revolutionstagen elegant!«

Weidenau zog ihn geschmeichelt lachend weiter, aus dem Atrium in die hermenbesetzte Säulenhalle, in deren länglichem Geviert das Gedränge etwas verebbte. »Du kannst von Glück sagen!« meinte er, da der Lärm in ihrem Rücken wieder stärker anschwoll, und er deutete mit erhobenem Finger durch die Außentür.

Doktor Höfer warf einen Blick zurück. Er übersah durch die Glasscheibe des Torgitters ein aufgeregtes Meer von Menschenköpfen, das, den ganzen Ring schwärzlich überflutend, in wilder Brandung zu dem weißen Marmorgebäude des Parlaments emporschäumte. Nicht nur die Einfassungsmauern der Rampe waren dicht besetzt und wie bepelzt von hängenden, klammernden Menschenleibern, auch in den Ringstraßenbäumen hingen sie wie Raupennester, und sogar der Sockel und die Arme der vor dem Abgeordnetenhause stehenden, die Lanze wehrhaft vor sich hinhaltenden Pallas Athene gaben Zielpunkte für die Unternehmungslust kühner Kletterer ab, die sich mit dem Drang aller Revolutionen, hochzukommen, über ihre Brüder in den Bäumen noch hinausschwingen wollten.

In der Säulenhalle, hinter einer zweiten Glastüre, versickerte die mächtige Erregung der Stadt zu einer nur noch leise siedenden Unruhe. Es war etwas mehr Platz, man konnte sich freier bewegen, ja sogar auf und ab gehen.

Der Baron, ein nicht mehr junger, jung aussehender Mann von knabenhafter Schlankheit und Beweglichkeit, hängte sich mit anmutiger Vertraulichkeit in den Freund ein. Teilnehmend betrachtete er ihn dabei von der Seite; er sah schlecht aus, in seinem abgebrauchten Soldatenrock, der fleckig und völlig entfärbt war, und mit der verschobenen Radfahrkappe über der faltigen Stirn. Das Leben und der Krieg schienen ihm gleich übel mitgespielt zu haben.

»Von wo kommst du?« erkundigte sich Weidenau: »Ich hab' dich zuletzt als Richter in Czernowitz verlassen.«

Doktor Höfer gab Auskunft.

Dem Verband der Nordost-Armee angehörend, war er erst gestern über Lemberg nach Wien zurückgekehrt. Sein Bursche war in Lundenburg geblieben und auch die Distinktion; eine übernähte Stelle an seinem Blusenkragen machte allein noch den Platz kenntlich, wo sie sich befunden hatte. Es sah aus wie ein ausgestochenes Auge.

»Was warst du zuletzt?« fragte Weidenau zart, die übernähte Stelle ins Auge fassend.

»Infanterie-Hauptmann.«

»Aber du bist doch Jurist. Wie kommt's, daß man dich nicht zum Auditoriat –?«

»Ich war den Herren wohl nicht streng genug … Da hat man mich der Truppe zugeteilt … Und du?« fragte er nach einer Pause, da der andere still blieb:

»Du warst wohl enthoben?«

Es klang nicht gut, dieses »enthoben«, es klang wohl sogar etwas aufrührerisch und gehässig. Aber Weidenau nahm es dem Freund nicht übel.

»Du irrst«, erwiderte er: »Ich war an der Front … am Piave … Seit dem fünfzehnten Oktober allerdings bin ich beurlaubt, und zurückzukehren bestand und besteht keine Veranlassung mehr. Übrigens, wer weiß, ob wir nicht sehr bald hier im Hinterland etwas zu tun bekommen werden. Es sieht ganz danach aus.«

Der Baron machte ein besorgtes Gesicht, dessen Ausdruck aber nicht lange vorhielt, denn eben entdeckte er eine hübsche, kokett beschleierte Dame, die mit einem lächelnden Seitenblick an ihm vorbei auf eine der in den Sitzungssaal führenden Türen zusteuerte.

»Verzeih«, rief Weidenau, seine Hand aus der Armbeuge des Freundes ziehend: »Einen Augenblick … Ich muß nur rasch einer guten Freundin ein Wort …«

»Natürlich«, dachte Doktor Höfer, dem Freund, den er nicht seit gestern kannte, nachblickend: »Wenn die Welt zugrunde ginge, hätte Weidenau vorher noch rasch einer hübschen weiblichen Bekannten ein Wort zu sagen.«

Er schickte sich an, auf die Galerie des Sitzungssaales hinaufzugehen, um, mit Benützung einer Einlaßkarte, die er sich mühsam genug verschafft hatte, der Proklamierung der Republik beizuwohnen. Aber auf der engen Treppe kam ihm der Berichterstatter eines radikalen Blattes entgegen, dem er vor einem Jahre im Hauptquartier seines Armeekommandos begegnet war. »Die Republik ist bereits proklamiert«, sagte er, ohne den geringsten Überschwang, als er gehört hatte, was Höfer herführte. »Und eine andere Tagesordnung gibt's heute nicht. Das Gezänk zwischen den koalierten Parteien wird erst morgen anheben!«

»Heißt das, wenn die Republik morgen noch besteht!« mischte sich ein sonderbar aussehender alter Herr in das Gespräch. Er schien eine populäre Figur zu sein, denn alle lachten über die mürrische Bemerkung, während er in seinen gestickten Morgenschuhen gleichgültig weiterschlurfte, aus der Tasche essend und die Begrüßung seiner Bekannten, die ihn herausfordernd mit »Herr kaiserlicher Rat« anredeten, mit verdrossener Geringschätzung zurückgebend. Seinen weitgehenden Skeptizismus in bezug auf die soeben feierlich ausgerufene Republik schien niemand übel zu nehmen, auch die Republikaner taten es nicht, die sich übrigens augenscheinlich stark in der Minderzahl befanden.

Die Einladung des Berichterstatters ins Büfett höflich ablehnend, blieb der aus dem Krieg Zurückgekehrte neuerlich im Gedränge allein. Nachdenklich beschritt er, hin und wider wandelnd, die bunten Marmorfliesen der hohen, säulengeschmückten Halle, die jetzt, von Menschen durchflutet, wie sie war, einen forumähnlichen Eindruck machte. Zwischen den antiken Säulen aus gelbem Marmor standen die überlebensgroßen Büsten backenbärtiger, österreichischer Politiker und Staatsmänner, deren zuchtvolle Professoren- und Beamtenköpfe eher biedermeierisch anmuteten. Doktor Höfer ging von einem zum anderen, ihre Namen, die ihm aus den Gesprächen seines verstorbenen Vaters wohl vertraut und geläufig waren, von den Sockeln herunterlesend. Keiner von ihnen hatte einen so starken Klang, daß er sich im Lärm der Ereignisse behauptet hätte. Das eine große Wort »Republik« überschrie sie alle.

Eben wurde es von der Rampe her vernehmlich. Ein Mann im Bratenrock hatte sich, in Begleitung zweier anderer, hinausbegeben und redete zu der Menge. Man konnte nicht hören, was er sagte, und sah nur von Zeit zu Zeit seinen in die Höhe geschwungenen Rednerarm. Plötzlich aber schien der Mann zu wachsen; er riß seinen Hut vom Kopf, hielt ihn schräg aufwärts und schrie, auf den Fußspitzen stehend, aus Leibeskräften: »Es lebe die Republik!«

Der Ruf setzte sich tausendfältig fort, zerrann in ein einziges ungestaltes Brausen. Aber schon wurde ein anderer hörbar, der den ersten übertönte. »Es lebe die soziale Republik!« schrien die Floridsdorfer Arbeiter, die dicht vor dem Parlament Aufstellung genommen hatten.

»Es lebe die Republik!« schrie nun auch Doktor Höfer, seine Radfahrkappe schwenkend; aber niemand bekräftigte seine Kundgebung. Diejenigen, die drinnen waren, überließen es dem Volk, zu schreien.

Der Richter im Soldatenrock verstummte betreten und blickte sich im Kreise um. Dabei begegnete sein Blick demjenigen des Barons Weidenau, der sich eben, hinter einer Herme, von seiner Dame, ihr die Hand küssend, verabschiedete. »Weißt du, wer das war?« fragte er, angeregt zurückkommend. »Die Frau vom Abgeordneten, Pardon, jetzt: Nationalrat Doktor Neuwirth. Eine lustige Frau! …« fügte er anerkennend hinzu. Doktor Höfer zuckte ablehnend die Achseln. »Ich kenne sie nicht!« sagte er. – »Aber ja. Freilich kennst du sie!« fuhr Weidenau lebhaft fort: »Sie war doch eine gute Bekannte deiner Frau, damals, wie du noch in Wien warst … Bei der Gelegenheit: Wie geht's denn eigentlich deiner Frau Gemahlin?«

»Ich weiß es nicht, wir sind geschieden …«

»Ah! Wirklich!«

Es klang nicht sonderlich überrascht; und während der Baron, mehr aus Wohlerzogenheit, das Gesicht eines Leidtragenden machte, dachte er bei sich selbst:

»Also war doch etwas daran, damals, an der Geschichte mit dem Grafen Trau!«

Aber schon wurde das intime Gespräch der beiden Freunde abermals unterbrochen. Ein Trupp junger Leute, Schnellschreiber vermutlich, die im Sitzungssaal augenblicklich nichts zu tun hatten, stürmte an ihnen vorbei, und einer von ihnen, der Weidenau aus seiner Privatpraxis kannte, raunte diesem, auffallend blaß im Gesichte, die Worte zu: »Die Floridsdorfer Arbeiter halten das Parlament umzingelt. Es heißt, daß die Rote Garde stürmen und die rote Fahne hissen will.« – »Um so besser!« ließ sich der Greis in Morgenschuhen vernehmen, der, gleichmütig aus der vollen Tasche essend, über die Marmorstiegen schlurfte: »Dann geht's wenigstens in einem. Was, Exzellenz?« wendete er sich, boshaft meckernd, an einen vorübereilenden kleinen, runden Mann mit einem glattrasierten Schauspielergesicht, der, so eilig er es hatte, dennoch aus Respekt vor ihm stehen blieb. – »Jawohl«, nickte der Angeredete, die kleinen Augen pfiffig schließend: »Die Engländer werden schon Mode machen! … Ich habe Nachrichten …« Und den erfreuten Greis an den Schultern fassend und wie einen Fruchtbaum schüttelnd, fügte er hinzu: »Die machen keine Geschichten, aber Geschichte! …« Er blickte um sich, ein Publikum für seinen Witz suchend, der im Revolutionsgedränge zu verhallen drohte, und entdeckte erst jetzt den in seiner Nähe stehenden Weidenau. »Sie hier, lieber Freund!« rief er, ihn handgreiflich anredend: »Was macht Alkibiades auf dem Forum?« – »Er sucht Sokrates!« erwiderte Weidenau, nach seiner Art auf den Ton des anderen eingehend. Während dieser sichtlich geschmeichelt auflachte, fragte der Baron, ihm näher tretend, im Ton einer vertraulichen Erkundigung: »Wie beurteilen Exzellenz unsere Lage?« Der mit Exzellenz Angesprochene ließ eine effektvolle Pause eintreten. Dann sagte er Weidenau ins Ohr, aber immerhin laut genug, daß die Umstehenden es hören konnten: »Lieber Freund, ich geb Ihnen einen guten Rat: Danken Sie nie ab! … Und dann geb ich Ihnen noch einen Rat: Abonnieren Sie die Arbeiter-Zeitung! Ich habe sie heute früh abonniert – für ein Vierteljahr!« – »Exzellent!« sagte Weidenau, durch seinen Beifall zu erkennen gebend, daß er die Bosheit verstand, während derjenige, der sie abgesondert hatte, sich bereits dem nächsten seiner Bekannten, einem Professor des Kirchenrechts und ausgedienten Minister in die Arme warf, diesmal mit der Anrede: » Verehrter Freund!« – »Wer ist das?« fragte Höfer seinen Begleiter. – »Du kennst Exzellenz Malik nicht?« verwunderte sich dieser, »unser letzternanntes Herrenhausmitglied?« Aber es stellte sich heraus, daß Höfer in Wolhynien nichts von Maliks Ernennung und Herrenhausreden erfahren hatte.

Indessen verstärkte sich das meeresbrausenähnliche Volksgeschrei und nahm, von schrillem Gekreisch übertönt, eine bedrohliche Färbung an. »Ich denke, wir schauen, daß wir aus diesem Fuchsbau herausfinden!« sagte Weidenau: »Der Aufenthalt wird ungemütlich!« Und er zog Höfer über halbdunkle Treppen und hallende Gänge einem Seitenausgang zu, der in die Stadiongasse mündete und den sie von Ängstlichen und Unschlüssigen besetzt fanden. Niemand wagte sich auf die Straße, auf der das gefährliche Heulen wieder unheimlich anschwoll. Der Baron trat vor und fragte einen jungen Mann in Uniform, aber ohne Kappe, der gewissermaßen die Führung des kleinen Trupps übernommen zu haben schien: »Wie beurteilen Sie die Sachlage, Herr Oberleutnant?«; und, indem er sich nachlässig vorstellte: »Rittmeister Baron Weidenau.« Der andere nahm in korrekter Weise, ohne Faxigkeit, Stellung: »Oberleutnant Christoph Österreicher«, sagte er. Weidenau schüttelte die Hand des jungen Mannes, dessen ernster, besorgter Gesichtsausdruck ihn älter erscheinen ließ, als er augenscheinlich war; »Österreicher?« fragte er: »Ich wohn' bei einem Herrn Österreicher. Rudolf Österreicher!« – »Das ist mein Onkel!« sagte der junge Offizier.

Beiseite tretend berieten sich die beiden Männer einige Augenblicke lang. »Ich halte das Parlament für den unsichereren Aufenthalt«, meinte der Jüngere; der Baron war derselben Meinung. Durch seine Zustimmung ermutigt, trat der Oberleutnant nun wieder unter die Wartenden und öffnete resolut die kleine Tür, die niemand zu öffnen gewagt hatte. »Mir nach!« rief er im Kommandotone, indem er auf die Straße trat; die angesammelte Menge folgte ihm. Eine vorüberlaufende elegante Dame schloß sich an.

Aber kaum hatte der kleine Trupp die ungefähre Mitte der Stadiongasse erreicht, als ein eigentümliches Geknatter vom Volksgarten her vernehmlich wurde. Der Oberleutnant blieb stehen; doch schon überhob ihn eine panikartig vom Ring heraufflutende Bewegung weiterer Erwägungen; ihr Widerstand zu leisten war ebenso unmöglich wie Umkehr; nur der Weg über die Einfriedung des Rathausparks stand noch offen.

Im Nu war das Gittergestänge wie eine Barrikade gestürmt. Fallende überkugelten sich, darunter zwei halbwüchsige Kinder mit erschrockenen Gesichtern, die eine Frauensperson noch im Hinstürzen an den Händen krampfhaft festhielt; ein alter Herr saß rittlings auf der oberen Querstange, die hochgewachsene Dame, die sich angeschlossen hatte, schlüpfte eidechsenhaft gewandt dicht neben seinen herabhängenden Beinen durch und machte, sich wieder emporrichtend, eine halb verlegene, halb lustige Miene, als hätte sie ein turnerisches Kunststück ausgeführt, wie der junge Mann, der sich soeben im Handstand über die Einfassung hinwegschwang. Aber schon begannen alle vom Parlament weg im Laufschritt durch das winterlich kahle Gestrüpp zu dringen: der alte Herr, dem der Kneifer von der Nase gefallen war, der Baron, die Kinder und die elegante Dame mit ihrem fußfreien Rock, die Doktor Höfer im Laufen mit einer etwas hoch und trocken klingenden Stimme fragen hörte: »Ja, von wo wird denn eigentlich geschossen?« Er wollte antworten, als ihm der voranstürmende junge Oberleutnant zuvorkam. »Von den Dächern!« sagte er, besorgt an den Fronten der Rathauspaläste und zu dem aschgrauen Novemberhimmel emporblickend. – »Aber dann rennen wir ja mitten hinein in den Kugelregen!« meinte die Dame und blieb, an einem Baum geschmiegt, unschlüssig stehen. Doktor Höfer eilte weiter, dem Oberleutnant nach, der, mit ausgestrecktem Arm, die Bretterhütte hinter dem Kinderspielplatz als nächstes Ziel bezeichnete und, nachdem er sie in Sprüngen erreicht hatte, sich, zurückblickend, in einer Weise dahinter niederließ, als gälte es, einer noch unerfahrenen Mannschaft den Begriff »Deckung suchen!« anschaulich beizubringen.

Unter den Dahinstiebenden wurden zwei Meinungen in abgerissenen Worten vernehmlich: die einen sprachen von einem monarchistischen Putsch, der das »Gesindel« im Parlament zu Paaren treiben sollte, die anderen von einem kommunistischen Vorstoß nach russischem Muster. Irgend jemand wollte gesehen haben, daß die rotweiße Flagge, das Banner der demokratischen Republik, heruntergerissen und die eindeutig rote Fahne auf der Lanzenspitze der Pallas Athene aufgepflanzt worden sei. Und sofort riefen mehrere, als gälte es, ein entstandenes Feuer auszuschreien: »Die rote Fahne! Die rote Fahne!«

Doktor Höfer sah sich nach seinem Freund um, der unbekümmert um das Verhalten der anderen mit einem kleinen Trupp in der Richtung zur Universität weitergezogen war. Dabei bemerkte er die elegante Dame von vorhin, die noch immer ihren Baum umklammert hielt. Sie schien unschlüssig, welcher Partei sie sich anschließen sollte, als eine neue Salve sie zu einer Entscheidung zwang. Mädchenhaft laufend erreichte sie die Bretterhütte und ließ sich, Deckung suchend, auf ein Knie nieder.

Ein paar Worte wurden gewechselt, und Höfer erfuhr von der dicht bei ihm knienden artigen Revolutionsgefährtin, daß sie, im Wagen zu einer Bridgepartie fahrend, vom »Volk« gezwungen worden wäre, auszusteigen.

Sie sprach vom »Volk« in unverkennbar ironischen Anführungszeichen; Doktor Höfer hatte die Empfindung, daß er jetzt eigentlich, seiner demokratischen Gesinnung entsprechend, etwas Republikanisches äußern müßte. Doch unterließ er es vorerst, mit Rücksicht auf die immerhin noch etwas gespannte Lage, die ihm für theoretische Auseinandersetzungen wenig geeignet schien.

Nach einer Weile gewann das Gefühl die Oberhand, daß drüben eine Art Waffenstillstand geschlossen worden sei. Der junge Oberleutnant mit dem besorgten Gesichtsausdruck, der die Führung übernommen hatte, erhob sich als erster und schlug, nach gewissenhafter Umschau, den Weg zur Universität ein. Die anderen folgten und verließen, durch sein Beispiel ermutigt, die selbstgewählte Deckung. Doch stürmten sie jetzt nicht mehr, wie früher, durchs Gebüsch und über die Rasenflächen hinweg, sondern hielten sich manierlich an den gebahnten Weg.

Unmittelbar vor Doktor Höfer ging mit langen Schritten die antirepublikanisch gesinnte Dame. Bei einer Wegbiegung blieb sie zögernd stehen, witterte mit beweglichen Nasenflügeln ins Weite, dem kleinen Trupp nachblickend, der sich eben unter der Führung des jungen Offiziers gegen die Votivkirche hin verlor, und eilte dann, bevor ihr Doktor Höfer mit einem Ratschlag beizustehen vermochte, mit großer Entschiedenheit in der entgegengesetzten Richtung weiter.

Er folgte ihr, von der knabenschlanken, in der Bewegung besonders anmutigen Gestalt angezogen, deren freies Ausschreiten und wachsam spähender Blick das Bild einer Jägerin beschworen. Der kurze Rock und der nach der Mode der Zeit einseitig geschulterte Schal, der ihr wie ein Köcher über die Schulter hing, ließen an eine schreitende Diana denken.

Beim Ringstraßenausgang trat ihnen, mit seinem schon wieder jungenhaft verschmitzten Gesichtsausdruck, Weidenau entgegen. Er wollte seinen Schulfreund begrüßen, auf den er gewartet zu haben schien, erkannte jedoch im gleichen Augenblick die auf ihn zukommende Dame. »Sie hier, Baronin?« rief er, den Hut ziehend und in der Hand behaltend, indem er ihr lebhaft entgegenkam: »Sind Sie auch unter die Revolutionäre gegangen?«

»Nein, bei Gott!« wehrte die mit Baronin angeredete schöne Jägerin ab und erwähnte stehenbleibend noch einmal mit einer gewissen Wichtigkeit die beabsichtigte Bridgepartie und die so unliebsame Störung.

»Mir scheint, da wird heut nichts mehr daraus!« sagte sie halb besorgt, halb lustig, nach dem Wetterwinkel des Parlaments hinüberäugend.

»Ja, es ist wirklich skandalös!« erhitzte sich der Baron in der gleichen spöttischen Tonart: »Das souveräne Volk hat rein vor gar nichts mehr Respekt! Nicht einmal vor den Bridgepartien der Exzellenz Hittmaneck!«

»Genannt ›die gestrickte Mumie‹!« schaltete seine Standesgenossin munter ein, auf die bekannte Vorliebe der ehemaligen Statthalterin für selbstgestrickte schwarze Jumper anspielend.

Doktor Höfer, für den dieses gesellschaftliche Rotwelsch Chinesisch war, wollte mit einem verlegenen Gruß an dem so vertraut plaudernden Paar vorbei auf die Ringstraße hinaustreten, die wieder ihr normales Aussehen zurückgewann. Nur ein paar auflösende Menschenschwärme zogen noch über die Fahrbahn, auf der, zu Ehren des Tages, der Verkehr der Elektrischen völlig eingestellt war.

Aber Weidenau hatte, trotz der Dame, Höfer nicht aus dem Auge verloren. »Sie kennen doch meinen Jugendfreund?« fragte er, indem er ihm den Weg vertrat und die Hand auf seine Schulter legte: »Bezirksrichter – oder bist du schon Landesgerichtsrat? – Doktor Guntram Höfer – Baronin Tinett Lodersdorf.«

Die schöne Jägerin reichte dem Richter in Felduniform die Hand. »Sind Sie nicht ein Bekannter vom Grafen Trau, Herr Doktor?« fragte sie artig: »Der Graf hat mir, glaub' ich, von Ihnen erzählt!«

»Das ist schon möglich!« erwiderte der Gefragte, dem die Frage sichtlich nicht angenehm war.

Sie überquerten zu dritt den Ring, in der Richtung zum Liebenbergdenkmal. Dort angelangt, wollte Höfer sich empfehlen, aber wieder hielt ihn Weidenau, der seine Verstimmung gespürt hatte, zurück. »Wo wohnst du eigentlich, lieber Freund?« fragte er.

»Hotel Zum Sonnenaufgang … Ganz nah beim Ostbahnhof.«

»Ich weiß!« nickte Weidenau: »Ich besuch' dich nächstens!«

Er reichte dem Freunde die Hand, der, gegen die Dame salutierend, links abbog, während die beiden ihren Weg nach rechts, zum Minoritenplatz hin, fortsetzten. Vorsichtig zurückblickend, fragte nach ein paar Schritten die Baronin:

»Zum Sonnenaufgang? – Ist das eigentlich ein mögliches Hotel?«

Und wieder nach ein paar Schritten erwiderte Weidenau:

»Bis gestern war's ein ganz unmögliches. Aber von morgen an wird's vielleicht ein mögliches. Wir gehen einer neuen Zeit entgegen, liebe Freundin …« Und beschwingt neben der schönen Frau einherschreitend und in seiner Art weiterplaudernd, ließ er verspielt den Spazierstock über die wuchtigen Eisenketten hintanzen, die noch immer, wie vor dem Jahr achtundvierzig, die altersgrauen Paläste des Minoritenplatzes gegen das profane Straßentreiben in Schutz nahmen.


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