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Revolutionäre müßten vor allem die Jahreszeiten unterdrücken. Denn nichts kann auf den sich empörenden Menschengeist entmutigender wirken, als daß trotz einer neuen Staatsform und ganz anderen Gesetzen auf den Winter ein Frühling folgt, auf den Frühling ein Sommer, auf ihn ein früchtereicher Herbst und daß in diesem ebendieselben unruhigen Stadtmenschen, die es im April nicht erwarten konnten, »blank« zu gehen, nicht unterlassen können, sich wieder warm einzuhüllen.
Sogar das Jahr 1919 machte in diesem Punkte keine Ausnahme, es verlief, allen radikalen Theorien zu Trotz, genau wie alle anderen Revolutionsjahre.
Allerdings verlief es für die Angehörigen verschiedener Gesellschaftsklassen trotz alledem verschieden.
Doktor Höfer verbrachte auch den größten Teil des Sommers in Wien, wo er bei der Vermögensteuerveranlagung vorübergehend ein schlechtbezahltes Unterkommen gefunden hatte, das, so schlecht bezahlt es war, dennoch ein unbedingtes Vertrauen in die absolute Integrität und Unberührbarkeit des ehemaligen Richters voraussetzte. Gegen den Herbst zu unternahm er eine Reise nach Czernowitz, um seine dort noch befindliche restliche Habe in Geld aufzulösen und seinen Talar zu holen, an dem er mit einer Art Fetischismus hing, als wäre er seelisch irgendwie mit ihm verwachsen. Aber zu seinem Verdruß mußte er erfahren, daß ihn ein ehemaliger Kollege nach Warschau mitgenommen hatte, so daß Doktor Höfer schließlich ohne Talar wieder heimreisen mußte.
Er stieg wieder, wie vor einem Jahre, in dem kleinen Vorstadthotel ab, an das er sich bereits gewöhnt hatte. Es hatte nebst allerhand Nachteilen auch den Vorzug, daß die ganz großen Schieber und internationalen Geldhyänen von seinem Vorhandensein nichts wußten und daß der Österreicher infolgedessen etwas weniger über die Achsel angesehen wurde, weil er seine schwachen Kräfte nicht mit ausländischen Valutenkräften messen mußte.
Auch die Baronin Lodersdorf war den ganzen Sommer über bis in den Herbst hinein von Wien abwesend, und auch der Baron Weidenau war es, wenigstens einige Monate lang, die er zur allgemeinen Verwunderung bei seiner Familie in Groslowitz verbrachte. Groslowitz lag nur einige Stunden weit von Fenyan, wo die Baronin Lodersdorf sich mit ihren Kindern bei ihrer Mutter aufhielt. Aber zwischen den beiden Gütern verlief die neue tschechoslowakische Grenze, die sich in diesem Sommer als durchaus luftdicht erwies. Weidenau blieb nichts übrig, als mit dem jungen Schullehrer von Groslowitz, der ganz neue psychische Unterrichtsmethoden in seiner Dorfschule mit den Kindern erprobte und der nicht nur deshalb für einen Sozialdemokraten galt, Schach zu spielen. Er tröstete sich damit, daß er ja auch in Wien zeitweise mit einem ähnlich gerichteten Partner Schach spielte. Und übrigens übte der junge Pädagog nebstbei auch mit »Nur-ein-Viertelstündchen« einen Gesangschor ein, zu dem die Weidenauschen Töchter gehörten und der am Sonntag, wenn der monarchistisch gesinnte alte Pfarrer die Messe zelebrierte, von einem Sozialisten abgerichtet, das Lob Mariens sang.
Am bescheidensten verging der Sommer der Familie des Feldmarschalleutnants Winkler. Die Baronin und ihre Tochter Mira – Stubenmädchen bei Baron Winkler, wie sie von sich selbst mit Grazie zu sagen pflegte – verbrachten ihn in der Kölblgasse, mit gelegentlichen Ausflügen in den Prater oder Josephapark, der jetzt zum allgemeinen Verdruß »Schweizer Garten« hieß. Der Feldmarschalleutnant nahm ein paar Jagdeinladungen zu alten Freunden an und widmete sich im übrigen dem aufblühenden Petroleumgeschäft des Herrn Groß, durch seine ungeheure Gewissenhaftigkeit und Anständigkeit bis zu einem gewissen Grade ersetzend, was ihm an kaufmännischer Schulung und Begabung abging. Seine Frau übersah diese seine Tätigkeit geflissentlich. Doch gingen die Vorurteile der geborenen Hohenbruck gegen das »jüdische Kapital« nicht so weit, daß sie nicht an jedem Ersten und Fünfzehnten das Wirtschaftsgeld, das ihr der Feldmarschalleutnant zuzählte und das größer war als seine Pension, bereitwillig entgegengenommen hätte.
Dank diesen Zuschüssen und den ausgezeichneten gesellschaftlichen Beziehungen, über die die Baronin verfügte, entwickelte sich auch etwas wie ein geselliges Leben in der entlegenen Kölblgasse. Die geborene Hohenbruck hielt darauf, ihre »Getreuen« von Zeit zu Zeit bei sich zu sehen und empfangene Einladungen zu »rendieren«. Was in der Weise geschah, daß an einem vorbestimmten Tage ein Teil der Möbel samt Miras Bett ins Dienstbotenzimmer verschwand, worauf im Speisezimmer ein Teetisch mit strengbestimmter Sitzordnung aufgeschlagen und im Schlafzimmer zwei Bridgetische aufgestellt wurden.
Zu den Getreuesten gehörte Christoph Österreicher. Aber Miras Mutter sah ihn ungern, weil er bürgerlicher Abkunft und noch dazu Demokrat war. Hatte er doch erst unlängst in ihrem Beisein dem Edlen von Haldenwang, einem jungen Börsentipakrobaten, der auf Jours gegen den Achtstundentag loszog, ganz laut erwidert, er, Christoph, hätte nichts dagegen, wenn man diese soziale Errungenschaft wieder abschaffe, aber berechtigt, die Abschaffung zu beantragen, wären doch eigentlich nur jene Leute, die selbst mehr als acht Stunden täglich arbeiteten.
Die Baronin Winkler fand, daß solche aufrührerische Reden zu führen einem jungen Menschen am wenigsten anstünde, der so ärmlich gekleidet war und so erbärmlich aussah wie Miras beschäftigungsloser Verehrer.
Im Sommer 1914 hatte sich Christoph Österreicher, damals noch Kadett, in die fünfzehnjährige Mira auf einem Raxausflug verliebt. Zwei Jahre später, am Wörther See, wo er einen kurzen Urlaub in ihrer Nähe verbrachte und oft mit ihr um die Wette schwamm und tauchte, geschah es einmal, daß er sie unter dem Wasser küßte. Beim Mittagessen bat er sie deswegen um Entschuldigung, wurde aber die längste Zeit von ihr – eigentlich bis zu seiner Verwundung, wo sie ihn im Spital besuchte – »kalt« behandelt. Und auch seit ihrer Übersiedlung nach Wien war von Liebe zwischen ihnen nicht die Rede. Abgesehen von ihrer mädchenhaften Unbeteiligtheit schienen auch seine Sorgen dies vorläufig auszuschließen.
Tatsächlich wurde Christophs immer schon besorgtes Gesicht um diese Zeit von Tag zu Tag ernster. Auch magerte er sichtlich ab und wurde auffallend nervös. Bereits bei ihrem ersten Tee-Empfang im Mai glaubte Mira zu bemerken, daß seine Hand, als er nach den belegten – sehr dünn belegten – Brötchen griff, merklich zitterte, was vielleicht darauf schließen ließ, daß er ungenügend zu Mittag gegessen hatte. Im Juni sprach er geringschätzig von zwei ehemaligen Kameraden, von denen der eine mit Notizbüchern und Bleistiften agentierte, der andere in einer Bar täglich von zehn bis ein Uhr nachts verführerisch zum Tanz aufspielte. Im Juli verschwand er dann plötzlich für längere Zeit auf einen hochgelegenen Meierhof im Ennstal, der seinem Onkel Adolf Hanfstängl gehörte und wo er, seiner eigenen schriftlichen Aussage zufolge, »Kühe melken und Ochsen treiben« lernte. Erst kurz vor Weihnachten tauchte er wieder auf, diesmal in einem funkelnagelneuen Anzug, aber ohne das Selbstbewußtsein auftretend, das einen gutgewachsenen jungen Mann in einem neuen Anzug zu erfüllen pflegt. Er brachte Mira eine Schachtel Schokoladeplätzchen, die, zusammen mit dem geckenhaften Anzug, das Mißtrauen des Feldmarschalleutnants erweckten. »Wovon lebt er?« fragte er seine Frau Ferdinanda unter vier Augen. Und er gab deutlich zu verstehen, daß ein mittelloser Oberleutnant ohne feste Anstellung, der sich noch dazu schön anzog, nicht dasjenige wäre, was er sich für Mira wünschte.
Auch Mira wünschte es nicht – sie dachte vorläufig überhaupt nicht ans Heiraten –, aber sie war doch neugierig, was hinter dem verschlossenen, schmerzlich verriegelten Gesichtsausdruck des Unter-dem-Wasser-Schwimmers eigentlich steckte. Und da sie in allen Dingen fürs Handeln war und nicht fürs Reden – das hatte sie von ihrem Vater –, so tat sie einen mädchenhaften Schritt, indem sie einmal in Gegenwart ihrer Freundin Mausi das Gespräch aufs Kunsthistorische Museum brachte und, gleichsam einer augenblicklichen Eingebung Raum gebend, Christoph Österreicher aufforderte, mit ihr und Mausi die Kaiserliche Gemäldegalerie am nächsten Vormittag gründlich zu besichtigen.
Mausi war auch gleich einverstanden, denn erstens war sie eingeweiht, und zweitens hatte ihr Mira einmal einen ähnlichen Dienst erwiesen – die beiden Klosterfreundinnen standen in einer Art Abrechnungsverkehr; hingegen lehnte Christoph Österreicher mit den Worten: »Tut mir leid! Am Vormittag schlaf ich!« kategorisch ab.
Er sagte aber nicht, wie ein anderer zivilisierter Mensch: »schlaf ich!«, sondern »schlafff ich!«, mit mindestens drei erbost aufeinanderfolgenden f. Dabei runzelte er die Stirn und schaute schräg vor sich hin zu Boden, mit einem Blick, als starrte er in sein Grab.
Mira wiederholte das merkwürdig klingende Geständnis im vertrauten Kreise und schaute dabei mit verzogenem Gesicht genau wie Christoph. Alle lachten über die Treffsicherheit ihrer Beobachtung und Nachahmung. Nur der Feldmarschalleutnant lachte nicht, obwohl er aufmerksam zuhörte. Niemand hatte den düsteren Mann seit länger als einem Jahre jemals lachen gesehen.
Um diese Zeit geschah es, daß der erste Buchhalter der Firma S. Groß und Comp. eines Morgens um halb zehn in dem neueingerichteten Zentralbüro den Besuch eines jungen Mannes empfing, der sich, etwas trübselig die Hacken seiner ausgetretenen Schuhe zusammenklappend, als Christoph Österreicher vorstellte und eine Schreibmaschine mit finsterer Entschlossenheit anbot.
Der Oberbuchhalter, ein früherer Generalstäbler, witterte sogleich den ehemaligen Offizier; auch bestand in dem sich ausdehnenden Geschäfte Bedarf für eine zweite Maschine. Major Zeller – es war derselbe, der Weidenau an die Front geschickt hatte – wies daher den Agenten zu dessen offenkundiger Überraschung nicht gleich ab, sondern ersuchte ihn, Platz zu nehmen, bis der Bürochef käme.
Christoph Österreicher saß da mit seinem jungen, vom Leben geprügelten Gesicht und wartete, finster blickend. Nach einer Weile stand er auf und klappte das mitgebrachte Modell einer Schreibmaschine auseinander, neben der er dann stehenblieb, wie der Reiter neben dem Pferd.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Chefzimmers, und Seine Exzellenz, der Feldmarschallleutnant, trat ein.
»O – Exzellenz!« rief Christoph und wurde dunkelrot im Gesicht, denn er dachte nicht anders, als daß der General, von dessen Nebenbeschäftigung er ebensowenig eine Ahnung hatte, wie dieser von der seinen, hier lediglich auf Besuch wäre.
Der Freiherr schien dasselbe zu denken, und da Herr Groß noch nicht gekommen war, so lud er den jungen Mann, auf einen Heiratsantrag für Mira gefaßt, gemessen ein, ihm in sein Zimmer zu folgen.
Aber Christoph Österreicher hielt keineswegs so früh am Vormittag um Miras Hand an. Andererseits hütete er sich, von der Schreibmaschine zu reden, und beschränkte sich darauf, verlegen nach dem Befinden der Damen Winkler zu fragen, die er seit dem letzten Jour in der Kölblgasse nicht gesehen hatte.
»Ich danke«, sagte der General etwas förmlich, »es geht ihnen beiden gut.« Und da er nie recht wußte, was er mit einem Hofmacher Miras reden sollte, so fragte er, nach einer Weile, um das Gespräch in Gang zu erhalten, aufs Geratewohl in seiner unverblümten und nicht gerade freundlichen Art:
»Aber was machen denn Sie so zeitlich in der Früh? Ich hab' geglaubt, Sie ›schlaffen‹ am Vormittag.«
»Ich?« verwunderte sich Christoph Österreicher. »Ich fang jeden Tag um acht Uhr früh an –« er wollte sagen »herumzugehen«, ersparte sich aber das peinliche Wort, da Herr Groß eben eintrat.
»Wo ist der junge Mensch mit dem Schreibmaschinenoffert?« fragte Herr Groß, die Zigarre im Mund; und indem er diese, sie gleichsam als Zeigefinger benützend, auf Österreicher richtete, setzte er hinzu: »Ist es der da?«
»Nein, ich glaub', der wartet draußen«, sagte der ehemalige Divisionär, noch immer völlig ahnungslos.
Zugleich stellte er als Mann von Erziehung seinen Gast vor. »Sehr erfreut!« sagte Herr Groß und reichte dem Oberleutnant zwei Finger seiner stark behaarten Hand. Herr Groß gab bei Vorstellungen immer nur zwei Finger – wie behauptet wurde, aus Sparsamkeit –, manchmal sogar nur einen. Christoph Österreicher, dem man die Ordentlichkeit vom Gesicht ablas, gefiel ihm, darum bekam er zwei.
Nun aber erschien Major Zeller mit der in einen schwarzen Koffer verschlossenen Maschine, die er dem schamhaften Agenten nachtrug. »Das ist der Herr, der die Schreibmaschine offeriert«, meldete er, ganz sachlich, dem Chef.
Diesmal wurde Christoph Österreicher braunrot vor Verlegenheit. Aber auch der General, obwohl er doch während seiner Dienstzeit viele Leute am Galgen hatte hängen sehen, fühlte sich plötzlich von seinem Hemdkragen gewürgt und machte den verlegenen Versuch, ihn mit dem Zeigefinger am Hals entlang fahrend, zu erweitern.
»Also doch!« sagte Herr Groß, der nichts so gern hatte, als wenn seine Leute in Verlegenheit kamen, und schaute triumphierend von einem zum anderen. Dann nahm er die Zigarre aus dem Mund und fragte den Offerenten:
»Welche Firma vertreten Sie, junger Mann?«
»S. Klein und Söhne«, antwortete Christoph Österreicher mit dem Mute der Verzweiflung. Und er begann, sich dem Feuer der auf ihn gerichteten Blicke glühenden Gesichts entgegenwerfend, seine Offerte herunterzuschnurren, die ihm geläufig war. Er wies auf die Vorzüge der Maschine hin, ließ sie rasseln und klingeln, erwähnte auch, daß sie Umlaute schreibe, und nannte zuletzt ihren Preis.
Herr Groß nickte zu all dem und ließ ihn ausreden. »Mein alter Freund Klein,« sagte er dann, ohne auf die Offerte näher einzugehen. »Sie müssen mir mehr von ihm erzählen. Kommen Sie, junger Mann, spazieren Sie weiter!« Und mit auszeichnender Vertraulichkeit den ehemaligen Offizier am Rockärmel fassend, zog er ihn weiter in sein Privatkontor, während die beiden Stabsoffiziere, zurückbleibend, einen stummen Blick miteinander wechselten.
Nach Verabschiedung seines Besuchers kam Herr Groß zurück und fragte Winkler, der, über dieses Zusammentreffen finster brütend, nachdachte, in sichtlich aufgeräumter Stimmung:
»Sie haben natürlich keine Ahnung, daß das mit der Schreibmaschine nur ein Schwindel war?«
»Ein Schwindel?!« Der alte General fuhr auf, offenkundig bereit, sofort seinen Dienstaustritt zu melden. Aber Herr Groß beschwichtigte ihn, die Hand auf seine Schulter legend.
»Ein ungefährlicher Schwindel!« sagte er.
Und bequem auf dem Schreibtisch Seiner Exzellenz mit baumelnden Beinen Platz nehmend, was er in jovialen Augenblicken gern tat, entschleierte er den Sachverhalt. Herr Groß war Herrn Klein kürzlich in einer Gesellschaft begegnet und hatte ihm anvertraut, daß er einen jungen Mann für Galizien mit dem Standort Lemberg suche. Daraufhin hatte ihn Herr Klein auf Österreicher aufmerksam gemacht. »Für mein Geschäft ist er etwas zu fein –« hatte er gesagt, »aber für Petroleum –?« Und die beiden Geschäftsfreunde hatten miteinander vereinbart, daß Herr Klein den Aspiranten mit einer Schreibmaschine zu Herrn Groß schicken werde, um diesen in die Lage zu versetzen, den Bewerber unbefangen zu beurteilen.
Das war geschehen, und drei Tage später machte Herr Klein Christoph Österreicher den Vorschlag, als Platzagent bei Herrn Groß einzutreten, was Christoph ablehnte, offenbar weil ihm Lemberg zu weit war. Da ging er noch lieber für Herrn Klein in Wien herum.
Seine Exzellenz aber merkte sich dieses Erlebnis, und als Mira wieder einmal Christoph Österreicher nachmachte, wie er damals gesagt hatte: »am Vormittag schlaff ich«, hob der General mit einem eigentümlichen Lächeln – es geschah zum erstenmal seit achtzehn Monaten, daß ihn jemand lächeln sah – den dürren Finger und sagte:
»Du tust deinem Kavalier bitter unrecht. Der schlaft nicht am Vormittag. Im Gegenteil …«
Der Freiherr sagte nicht, was in diesem Falle das Gegenteil von schlafen wäre, und Mira hatte den Mut nicht, ihn danach zu fragen. Aber sie hatte die unbestimmte Empfindung, daß sie Christoph Österreicher dafür lieben müsse.
Und plötzlich bekam sie Lust, sich gelegentlich auch über dem Wasser von ihm küssen zu lassen.
So wurde auch dieser grüne Apfel reif, wenngleich erst im Spätherbst des unruhvollen Jahres. Aber schon wurde er, noch vor dem Genusse, dem schönen Mädchen aus der Hand gerungen.
Es war auf einem jener Sonntagausflüge, die Major Zeller veranstaltete und an denen ein paar Offiziere mit ihren Familien nach einem gewissen Turnus teilzunehmen pflegten – man nannte sie die »Marschkolonne«: es geschah auf dem Heimweg von einer solchen sonntäglichen Exkursion, die bis nach Klosterneuburg geführt hatte, daß Christoph Österreicher Mira, neben ihr hergehend und absichtlich etwas zurückbleibend, sein Geheimnis anvertraute. Er hatte, wie er sagte, keine andere Wahl. Denn seinen reichen Verwandten wollte er nicht zur Last fallen – sie jammerten überdies wie alle reichen Leute fortwährend über Kursverluste –, und als Schreibmaschinenagent vermochte er sich auf die Dauer auch nicht zu behaupten. Andererseits konnte er, dank seinem fleißigen Studieren am Mittagstisch in der Gemeinschaftsküche, bereits notdürftig Englisch, und das Schiffsbillett stellte eine kleine, ad hoc gebildete Auswanderergesellschaft ehemaliger Offiziere gegen halbe Anzahlung zur Verfügung. Einmal drüben angelangt, würde sich für einen arbeitsamen Menschen gewiß eine Beschäftigung finden.
Christoph Österreicher machte eine Pause, dann fragte er beklommen, vor Mira stehenbleibend:
»Geben Sie mir auf ein Jahr Kredit?«
Sie war bereits hinlänglich in der Kaufmannskunde vorgeschritten, um zu wissen, wie er es meinte, und sie wollte, indem sie, blaß geworden, seine Frage ernst bejahte, ihm die Hand geben, um ihm doch irgend etwas zu geben. Aber in diesem Augenblick schrie der Major Zeller, der den lockeren Zug befehligte, haltmachend mit seiner lustigen Kommandostimme von vorne:
»Nachhut vor!«
Und unter allgemeinem Gelächter mußte das säumige Paar vorrücken und defilieren.