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Miras erste Schritte

Seit Christoph Österreicher, zwei Tage nach jenem Besuch beim Onkel, Mira zu seinem Leidwesen hatte benachrichtigen müssen, daß die von ihm in Aussicht genommene Wohnung in dem alten Hanfstänglschen Familienhause nicht mehr zu haben wäre, waren zwei Wochen vergangen, während welcher er täglich zweimal dem Briefträger auflauerte – öfter wurde die Post nicht ausgetragen –, ohne daß er jemals die gleichmäßig perlende Sacré-Cœur-Schrift seiner Angebeteten hätte wahrnehmen können. Endlich, in der dritten Woche, kam doch ein Brief von ihr – ein Freudenbrief, obwohl er eine Trauernachricht enthielt: der Bruder des Feldmarschalleutnants, ein in Wien lebender Hofpensionist, war plötzlich an der Grippe gestorben – so plötzlich, daß der General nicht einmal mehr zu seinem Begräbnis hatte kommen können –, und die von ihm behauste Wohnung in der armseligen Kölblgasse wurde frei. Sie war zweizimmerig und das Haus ein Proletarierhaus. Aber der Hausherr war ein kaisertreuer Mann – Hof- und Gerichtsadvokat Regierungsrat Doktor Schummler –, ein Mann, der seinen zweigeteilten Kaiser-Franz-Joseph-Bart unerschrocken in die Republik hineintrug und der, noch bevor die Wohnungskommission von der Leerstehung Wind bekam, an den Feldmarschalleutnant telegrafierte, er möge binnen drei Tagen in Wien eintreffen und die Wohnung besetzen. Eine vollzogene Tatsache wäre in diesen liederlichen Zeiten noch immer dasjenige, was auf die Behörden am meisten Eindruck machte.

Zwei Tage später erwartete Christoph Österreicher, bei grimmer Kälte in seinem von dem Flickschneider entmilitarisierten Militärmantel fröhlich auf und ab schreitend, auf dem Perron des Südbahnhofes den Personenzug aus Graz, der um 7 Uhr früh in Wien eintreffen sollte.

Er langte mit eineinhalbstündiger Verspätung und verendenden Kräften rumpelnd gegen dreiviertel neun in der Bahnhofshalle an. Aber je länger er ausblieb, desto vergnügter wurde Christophs gleichmäßig besorgtes, gutmütig unschönes Gesicht. Denn wie immer die Sache ausging, der Zeitpunkt, zu dem er Mira wiedersehen sollte, rückte doch unaufhaltsam näher. Und leichtfüßig trat er in seinen dicken Bundschuhen den Boden.

Als der endlose Zug endlich keuchend haltmachte, stellte sich der ehemalige Offizier dicht beim Ausgang auf, um die ganze Waggonreihe bequem überblicken zu können. Richtig sah er in dem sich entwickelnden übelriechenden Braunkohlennebel – die kleine Maschine stieß unverhältnismäßig große Rauchschwaden aus – aus einem der uralten, erst in der Kriegszeit wieder eingestellten Dritte-Klasse-Wagen, deren Abteile noch einzeln seitlich zu öffnen waren, die Familie des Feldmarschalleutnants herausklimmen. Christoph Österreicher machte Laufschritt, um den Damen beim Absteigen behilflich zu sein. Aber bevor er zur Stelle war, hatte sich die aus drei Personen bestehende kleine Gruppe unter Führung des Feldmarschalleutnants geformt, der, sein »Aufferl« selbst tragend und alle Träger – teils aus Mißtrauen, teils aus Sparsamkeit – heftig abwehrend, Frau und Tochter martialisch voranschritt. Christoph, der ihn vor drei Monaten in Graz auf der Durchreise zuletzt gesehen hatte, hatte Mühe, ihn in seinem kurzgeschorenen weißen Pfründnerbart, der um das knochige, angewiderte Gesicht herumwuchs, zu erkennen. Trug der Feldmarschalleutnant die Sparsamkeit, die seit dem Umsturz notgedrungen seine hervortretendste Eigenschaft geworden war, solcherart schon im Gesicht – denn nur aus Sparsamkeit ließ er sich nicht mehr rasieren –, so verriet sie sich auch dadurch, daß großes Gepäck nicht auszulösen war, wozu sich Christoph übereifrig erbötig machte. »Es kommt als ordinäres Frachtgut nach!« bedeutete ihm der Feldmarschall ohne Rücksicht auf die Frau, die bei dem Wort »ordinär« schmerzlich zuckte: »Für die ersten Tage wird's auch so gehen!« Die Behauptung schien etwas übertrieben, angesichts der beiden kleinen Segelleinwandkoffer, die Mutter und Tochter in der Hand trugen. Mira allerdings schlenkerte auch noch ein Bündel in der Linken, das ihr Christoph abnahm. Es war, wie sich später herausstellte, ihr Bettzeug.

Die Familie des Feldmarschalleutnants, die aus Sparsamkeit dritter Klasse Personenzug gereist war, hatte eine zwölfstündige Nachtfahrt im ungeheizten, aber glücklicherweise überfüllten Kupee – denn dadurch wurde es wärmer – hinter sich. Seine Exzellenz sowohl wie seine Gattin, eine geborene Gräfin Hohenbruck, sahen erbärmlich aus, blau vor Kälte, verquollen und gealtert. Aber Mira schritt in ihrer vollen Länge – man nannte sie dieser Länge und ihrer etwas bleichsüchtigen Blondheit wegen in ihrem Bekanntenkreis immer nur den »Solospargel« – rank und schlank einher, als ginge es zum Tanz. Ihr Gesicht war lieblich gerötet – allerdings hatte sie es noch schnell in Liesing, auf dem Trittbrett stehend, resolut mit Schnee gewaschen –, und sie war hübsch, ja sogar bildhübsch anzusehen, trotz Elend, Umsturz, Grippe, Pest und Braunkohlendampf, was alles ihrer Jugend nichts anzuhaben vermochte.

Auf dem Platze vor dem Bahnhof angelangt, schlug Christoph vor, die Elektrische zu benützen, aber der Feldmarschalleutnant, der die örtliche Lage genau kannte, sagte rauh: »Das sind ja nur zwei Stationen! Da können wir ebensogut zu Fuß gehen!«, und da es in seiner Familie keinen Widerspruch gab, so setzten sich denn auch die vier Gepäckstücke schleunigst in schaukelnde Bewegung. Das freiherrliche Paar schritt geziemend voran, und Christoph, unbewußt Miras Bett tragend, neben Mira, deren Arm einmal den seinen streifte – o Seligkeit! –, obwohl sie das Geschehene sofort mit einem stolz abweisenden »Pardon!« mädchenhaft richtigstellte.

Schließlich erreichten sie, durch den kurzen Marsch angenehm erwärmt, ihr Ziel und hielten ihren Einzug, von der neben einer Müllkiste im Tore stehenden proletarischen Hausmeisterin scheel angesehen. Sie wartete sichtlich darauf, daß der Feldmarschalleutnant und die geborene Hohenbruck sie zuerst grüßen würden, was jedoch nicht geschah, und Frau Pumberger – so nämlich nannte sie sich – veranlaßte, die Feindseligkeiten sofort zu eröffnen, indem sie dem Feldmarschalleutnant, noch ehe er den ersten Treppenabsatz erklommen hatte, boshaft nachrief: »Die Wohnungskommission ist bereits verständigt!« Seine Exzellenz blieben stehen und wandten sich um – ja, blieben in einer Weise stehen und wandten sich in einer Weise um, als wollten sie die Person auf der Stelle hängen lassen. Der Feldmarschalleutnant suchte sichtlich mit seinen halberloschenen Augen in dem weißumrahmten Steingesicht einen Galgen. Aber da er keinen fand, stieg er rasch entschlossen, ohne ein Wort zu reden, mit den Seinen die vier Treppen hinan. Die Zeit wird kommen! … dachte er grimmig bei sich selbst.

Droben erwartete sie die Wirtschafterin des verstorbenen alten Junggesellen, eine Person, die bedeutend jünger aussah, als die geborene Hohenbruck geziemend fand, und die sich auch keineswegs wilden Verzweiflungsausbrüchen hingab, wie der Feldmarschalleutnant befürchtet hatte. Sie übergab die Orden und das Sparkassenbuch des Verblichenen – Dinge, von denen nur sie wußte, wo sie sich befanden – und machte sich hierauf sogar erbötig, für die »Herrschaften« das Frühstück zu bereiten.

»Ja«, sagte die geborene Hohenbruck, »das wär sehr gut von ihr. Aber wir machen Sie im voraus aufmerksam, meine Liebe, wir können auf Ihre Dienste leider weiter keinen Anspruch machen. Wir werden uns fürs nächste selbst bedienen.«

Die hübsche Haushälterin beruhigte sie mit einem Lächeln: Sie hätte bereits ein Engagement nach Holland, sagte sie, zu einem Mynheer van Hopp, den sie Gott weiß wo und wann kennengelernt hatte.

»Mynheer, jawohl«, sagte sie triumphierend, ein Zündholz anreibend, »holländische Gulden, jawohl!« und sie zündete den Rechaud an.

Der Feldmarschalleutnant griff in die Tasche: »Drei Portionen Ovomaltine«, sagte er, der Wirtschafterin drei winzige Päckchen übergebend: »Wir haben's uns aus Graz mitgebracht!« Und er trat, mit großen Schritten, an den Schreibtisch des verstorbenen Bruders.

Da die Frühstückszuteilung in Gegenwart Christophs erfolgt war, fühlte sich die Frau des Feldmarschalleutnants bestimmt, zu sagen: »Ja, aber der Herr Oberleutnant – der muß doch auch …« Aber Christoph erklärte sofort, daß er bereits gefrühstückt hatte, obwohl das eine schamlose Lüge war. Und dann half er Mira, ihr Bett auspacken.

Auch die Feldmarschalleutnantsfrau ließ den Deckel ihres mit einer neunzackigen Krone gezeichneten Handkoffers aufspringen. Das erste, was darin sichtbar wurde, war ihr kleines Reisekruzifix, das sie überallhin im Leben begleitet hatte. Sie wischte es mit einem seidenen Tüchlein sorgfältig ab und stellte es seufzend auf das Nachtkästchen des Verstorbenen, mit einem Blick auf dessen Sterbebett.

Seine Exzellenz aber stand noch immer vor der offenen Schreibtischlade des Bruders. Er stand regungslos, wie eine Bildsäule, das Großkreuz des Franz-Joseph-Ordens im geöffneten Etui auf der flachen, harten Hand. Und eine Träne floß über sein streng gewordenes Gesicht in den eisgrauen Stoppelbart.

Aber schon summte das heiße Wasser über dem Gaswärmer, und im Vorzimmer lachte Mira hellauf, weil Christoph beim Auspacken ihres Bündels etwas entdeckt hatte, was nicht »für seine Augen bestimmt war«.

Es war – o Schmach und Schande! – ihr Nachthemd.

Mira, die im Jahre 1899 geboren war – als sie im Winter 1900 zu laufen anfing, sagte die alte Gräfin Kolowrat, ihre Taufpatin, von ihr: »Sie wird mit dem Jahrhundert Schritt halten!« –, hatte bis zum Jahre 1914 die übliche Mädchenerziehung genossen, wie sie in den bevorzugten Kreisen gebräuchlich war. Sie war zuerst zu Hause von einer französischen Gouvernante unterrichtet worden, hatte dann durch mehrere Jahre das Sacré-Cœur besucht und schließlich auch noch, im ersten und zweiten Kriegsjahr, etwas Kunstgeschichte betrieben und einen Kochkurs durchgemacht – dies schon, um den Bedürfnissen einer neuen Zeit vorbauend Rechnung zu tragen. Dann kamen die Prüfungen der Kriegszeit – Miras einziger Bruder, Gundakar, bezahlte den Beinamen des Feldmarschalleutnants »Karpaten-Leonidas« mit seinem jungen, blühenden Leutnantsleben – es kamen die Wechselfälle des Kampfes gegen drei Fronten, es kam die Zeit des Labe- und Spitaldienstes während Miras Aufenthalt in Wien, es kam die plötzliche Versetzung in den Ruhestand des Feldmarschalleutnants, die ihn härter traf als der Tod seines einzigen Sohnes, es kam das graue Grazer Hunger- und Pensionistenjahr und schließlich der Umsturz. Als es soweit war, konnte Mira Maschinenschreiben, Stenographieren und das Notwendigste an kaufmännischer Korrespondenz. Kein Mensch in der Familie wußte, wo und wie sie sich diese Kenntnisse angeeignet hatte, da sie nachweisbar doch immer nur in die Klavierstunde gegangen war.

Die Verhältnisse im Hause des Feldmarschalleutnants verschlechterten sich im gleichen Maße wie die des Staates. Von Haus aus nicht reich – auch die Hohenbrucks hatten mit allen ihren höfischen Würden keine Seide gesponnen –, beging das Ehepaar außerdem die Unvorsichtigkeit, fast das ganze mobile Vermögen in Kriegsanleihe festzulegen. Im Anfang, als Winkler noch aktiv war, ging es ja zur Not, dann aber, als die Aktivitätszulage wegfiel und die Lebensmittel immer teurer wurden, aß man nur noch zweimal in der Woche Fleisch, Butter nur am Sonntag – obwohl ja Papa noch immer die Generalsuniform trug. Eines Tages, Oktober 1918, begegnete Mira zur Unzeit in einer Seitengasse seiner dürrgewordenen Gestalt, die sich grußlos an ihr vorbeidrückte. Aus der Wirtschaftsstelle kommend, schleppte der General, der seinen Burschen entlassen hatte, einen Block zerfließendes Pflaumenmus, an die Heldenbrust gedrückt, im Regen für die Seinen nach Hause.

Tags darauf stand die blasse Baronesse beim Pförtner des Hotels, wo immer die Schieber einkehrten, und sagte ihm:

»Hören Sie, Herr Rosenstein, wenn vielleicht ein älterer Herr bei Ihnen absteigt, der ein Schreibmaschinenfräulein braucht – da haben Sie für alle Fälle meine Adresse!« Halblaut fügte sie hinzu:

»Es kann auch ein Jud' sein!«

Eine Woche nachher führte der Portier die Baronin Mira persönlich zu Herrn S. Groß aufs Zimmer, der sie in schlapper Morgenkleidung, mit der Zigarre zwischen den Zähnen, empfing, ihr zwei Finger seiner behaarten Hand reichte und, ohne die Zigarre aus dem Munde zu nehmen, freundlich fragte:

»Also Sie sind das Fräulein! – Was können Sie?«

Mira gab Auskunft und wurde dabei um einen halben Kopf größer, wie immer, wenn sie sich bücken wollte.

Das gefiel Herrn Groß, der ein Kenner war. Er spürte Rasse, er spürte Anständigkeit; und er sagte:

»Nu, wir werden ja sehen! Fangen wir gleich an!« Und er diktierte ihr auf der Stelle ein halbes Dutzend Geschäftsbriefe, die Mira gefügig nachstenographierte. Dann begab er sich ins Nebenzimmer, um seine Morgentoilette zu beenden, und Mira schrieb die Briefe auf der Schreibmaschine ab.

Der Vorgang wiederholte sich in den nächsten Tagen. Herr Groß diktierte, Mira stenographierte und schrieb ab und las das Abgeschriebene Herrn Groß vor, ehe sie es zur Unterschrift vorlegte.

Herr Groß war zufrieden; Mira war eine intelligente Abschreiberin. Daß sie sich kleine Verbesserungen seines Konzepts erlaubte, etwa wenn er diktierte: »Unter höflicher Bezugnahme auf Ihren werten Schreiben vom 17 …«, richtig schrieb: »Auf Ihr wertes Schreiben«, oder in dem Satz »Ohne Ihrer Erlaubnis werde ich gewiß nicht weiter verhandeln«, das r in Ihrer einfach wegließ, nahm er ihr nicht weiter übel. Möglicherweise, dachte Herr Groß in solchen Fällen, hat sie sogar recht! Er stand mit den Endungen nicht auf bestem Fuß, was ihm weiter keine Schande machte, da es sich auch in ganz anderen Regionen der Gesellschaft ereignete. So schrieb ja auch die Gräfin Meisenburg etwa einem aufmerksamen Verehrer: »Mit Ihre Blumen habe ich mich sehr gefreut!« Und die Snobs fanden es entzückend …

Herr Groß war kein Snob (noch nicht), und darum ließ er Mira solche kleine Selbständigkeiten ruhig angehen, ohne für seinen persönlichen Stil mehr Respekt zu fordern, als er verdiente.

Am dritten Tage bereits bot er ihr Schokolade an, an der er selbst während des Diktierens knabberte. Mira lehnte dankend ab; sie habe eine Idiosynkrasie gegen Schokolade, sagte sie.

» Was haben Sie?« fragte Herr Groß erschrocken und vergrößerte seine große Ohrmuschel ins Ungeheure durch die dahinter gehaltene Hand. Zu Wochenende, das heißt am Freitag abend, denn am Samstag arbeitete Herr Groß nicht, schob er ihr eine ganze Tafel Schokolade in ihr Täschchen. »Für die Mama!« sagte er und nickte Mira gutmütig zu.

Herr Groß war ein Mann in den besten Jahren und kein Kostverächter. Eines Tages, beim Diktieren, bog er sich von rückwärts über Miras auf das Papier gebeugten Nacken und fragte, den Arm wie zufällig um ihre noch eckige Mädchenschulter legend:

»Was hab' ich gesagt, Kinderl?«

Mira wandte sich zurück und schaute Herrn Groß über die Achsel an, derart über die Achsel, daß er völlig aus dem Konzept kam und, die Hand zurückziehend, wie eine unüberlegte Offerte, gutmütig und indem er mit den Augen gleichsam um Entschuldigung bat, sagte:

»Nu, was hab' ich Ihnen getan?« und er fügte hinzu: »Ich hab' ja selbst eine Tochter! Eine scheene Tochter. Wenn auch nicht so scheen wie Sie!«

Mira schwieg, auf das Papier gebückt, den Bleistift in der Hand.

Nach einer Weile zog Herr Groß das Beinkleid mit den in den Taschen versenkten Händen hoch und setzte, sich einen Schwung gebend, das Diktat mit den Worten fort:

»… leere Petroleumfässer berechnen wir Ihnen das Stück zu 14 Kronen!«

Grimmig ergänzte er nach einer Pause:

»Freibleibend!«

Mira wußte, was sie wollte.

Nachdem sie vierzehn Tage lang unter dem haarigen, gestikulierenden Zeigefinger des mit geraffter Gewandung im Zimmer auf und ab schreitenden Herrn Groß Geschäftsbriefe »aufgenommen« und das »Aufgenommene« auf der Maschine vervielfältigt hatte, erfaßte sie, daß Herr Groß an der Bildung eines Petroleumkonzerns arbeitete und im Begriffe stand, in Wien eine Art Zentralbüro hierfür einzurichten.

Sie hatte im Sacré-Cœur weder gelernt, was ein Konzern ist, noch, was ein Zentralbüro bedeutet. Aber sie begriff ohne weiteres, daß das vielleicht eine Gelegenheit für Papa wäre, seine immer unsicherer werdende Pension zu ergänzen und nach Wien zu übersiedeln, wozu ihr von gewisser Seite brieflich in letzter Zeit so stark zugeredet wurde.

Nachdem sie es begriffen hatte, dachte sie darüber nach, wie sie Papa mit Herrn Groß bekannt machen könnte. Das war nicht so leicht, denn der Feldmarschalleutnant mißbilligte gründlich, daß sie zu »dem Juden« abschreiben ging.

Eines Tages, in einer Arbeitspause, als Herr Groß, um ihr angenehm zu sein, sich im Gespräch über die Schönheiten der Stadt Graz verbreitete, fragte die Baronesse:

»Kennen Sie eigentlich das Hamerlingdenkmal?«

»Nein«, sagte Herr Groß erschrocken: »Wer war das? Ein Bürgermeister?«

Mira lachte:

»Sie kennen das Hamerlingdenkmal nicht?« rief sie, als ob das die ärgste Schande wäre.

»Nu, zeigen Sie mir's!« schlug Herr Groß vor, der schon lange den ehrbaren Wunsch nährte, sich mit dem schönen Mädchen einmal auch öffentlich zu zeigen.

Es wurde vereinbart, daß sie ihn am Sonntag um halb elf im Hotel abholen würde.

Schlag halb elf war sie zur Stelle und setzte sich mit Herrn Groß in Bewegung. Sie zwang ihn, rechts von ihr zu gehen, obwohl er wiederholt um sie herumtanzte, in der Absicht, die linke Seite zu gewinnen, aber sie schlug ein Tempo ein, daß er mit seinen kurzen Beinen kaum nachkam. Er keuchte wie ein überlaufender Schnellsieder, brachte es aber doch nicht übers Herz, sie zu bitten, den Schritt zu mäßigen, weil er nicht zugeben wollte, ein älterer Herr zu sein. Das machte ihr Spaß.

Nach Besichtigung des Hamerlingdenkmals traten sie den Rückweg an, vorbei am Militärkasino. Diesmal mäßigte Mira den Schritt; denn alles kam darauf an, jetzt dem Feldmarschalleutnant zu begegnen.

Aber man konnte sich auf Seine Exzellenz verlassen. Schlag elf Uhr, wie jeden Sonntagvormittag, debouchierte er aus der Allee, um sich nach der Kirche, erfrischt durch einen Spaziergang, der Lektüre der klerikalen Provinzpresse im Lesesaal des Kasinos hinzugeben und neue glühende Kohlen auf das Haupt der »Judenrepublik« zu sammeln.

In diesem Augenblick lernte er Herrn Groß, den Vorgesetzten seiner Tochter, kennen.

Acht Tage später machte dieser dem Ehepaar Winkler seine Aufwartung. Er wurde freundlich aufgenommen, sogar von der geborenen Hohenbruck, die sich von ihm die Hand küssen ließ.

In bezug auf die Juden gingen die Anschauungen Ihrer und Seiner Exzellenz im allgemeinen etwas auseinander. Der Feldmarschalleutnant war primitiver Antisemit, wohingegen die geborene Hohenbruck, einen mehr hochadeligen Standpunkt in dieser Frage einnehmend, gegen Juden im allgemeinen nichts einzuwenden hatte. Nur mußten es »jüdische« Juden sein, die sich ihr unterwürfig näherten und die in dieser Unterwürfigkeit verharrten. Selbstbewußte Juden mit Manieren – heutzutage gab es ja schon alles! –, mit einem Wort: Juden, die auf Gleichberechtigung Anspruch erhoben, ließ sie nicht an sich heran. Die »Israeliten« hatten in ihren Augen die Aufgabe, der Menschheit Schande zu machen oder doch zumindest lächerlich zu sein. Taten sie das, so konnte man sie unter Umständen ganz gut verwenden, ja sogar mit ihnen bis zu einem gewissen Grad verkehren.

Herr Groß genügte diesen ihren Ansprüchen durchaus. Er kam wieder, augenscheinlich nicht ohne Absicht, und ehe er, kurz vor Weihnachten, Graz verließ, stellte er Seiner Exzellenz in aller Form den Antrag, im Februar in das von ihm zu bildende Wiener Zentralbüro einzutreten.

»Als Paradegaul!« sagte Herr Groß zu seinem Geschäftsfreund, dem Schreibmaschinenhändler Klein, der auch die Maschine geliefert hatte, auf der Mira die Korrespondenz des Herrn Groß zu seiner allerhöchsten Zufriedenheit vervielfältigt hatte.

Die Paradegaulqualitäten Seiner Exzellenz, des Freiherrn von Edeltreu, waren gewiß nicht zu unterschätzen. Indessen tat Herr Groß sich selbst mit dieser Feststellung gewissermaßen unrecht, denn er war gar nicht so berechnend, wie er Herrn Klein weismachen wollte. Er war es zumindest nicht in diesem Falle.

Herr Groß war bis zum Kriege ein kleiner Schmalzagent gewesen. Im Kriege wurde er zunächst ein großer Schmalzagent, der auch Öle, Fette, Pflanzenfett, zuletzt sogar Petroleum in seinen Handel einbezog und der dabei so rasch emporkam, daß er bald wie ein Fettauge auf der sozialen Oberfläche schwamm und bereits im Jahre 1916 ein Einkommen von zwölf Millionen vor der Steuerbehörde einbekannte. Dabei leitete ihn von seinen Anfängen her ein Prinzip: kein Geschäft zu machen, an dem er nicht verdiente. Wo kein Nutzen zu holen war, da setzte er sich, wie er zu sagen pflegte, nicht »in Bewegung«. Aber einmal machte der kleine dicke Mann mit den struppigen Händen und ungleich gesäuberten Fingernägeln eine Ausnahme. Einmal wollte er edel, uneigennützig, selbstlos handeln, kurz, einen Ausnahmsfall in seinem Händlerleben schaffen. Dieser Ausnahmsfall hieß Mira.


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