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Im Justizministerium begegnete man dem seine Rückversetzung erbittenden Doktor Höfer sehr freundlich. »Gewiß!« sagte der Präsidialist, Hofrat Keller: »Ihr Fall ist äußerst berücksichtigungswürdig, Herr Collega. Besonders da Sie ja auch schon früher zu uns gehört haben. Nur … der Andrang ist natürlich enorm und wird von Tag zu Tag größer. Wir haben für so viel richterliche Kräfte keine Verwendung. Wie wär's denn beim Generalkommissariat für Kriegs- und Übergangswirtschaft? Sie kennen ja den Grafen Dominik Trau, dessen Bruder Cälian sich seinerzeit für Ihre Versetzung nach Czernowitz so warm verwendet hat. Gehen S' einmal zu ihm hinauf. Ein Wort von ihm, und Sie sind drin!« …
Am nächsten Tag trat Doktor Höfer in den Bankkurs ein, den ein zugewanderter ehemaliger Prokurist und Buchsachverständiger allabendlich zwischen sechs und acht in seiner Wohnung abhielt. Den Banken, hieß es, gehörte die nächste Zukunft, und so machten sich die durch den Umsturz Unterstandslosen ehestens mit den nötigsten kaufmännischen Vorkenntnissen bekannt. In der Hauptsache waren es die verabschiedeten Offiziere, die hier stenographieren und doppelte Buchhaltung lernten, aber auch Flüchtlinge aus den besetzten Gebieten, Gutsbesitzer, verarmte Adelige und entwurzelte Intellektuelle bildeten die Schülerschaft, die, wie sie alle Stände enthielt, auch alle Altersklassen umfaßte.
Doktor Höfer saß neben Christoph Österreicher, dem besonnenen jungen Offizier vom Revolutionstag, den er später beim Mittagessen in der Gemeinschaftsküche des Kriegsministeriums wiedergesehen hatte. Der junge Mann war ihm aufgefallen, weil er immer mit einem Tauchnitzband in der Hand dasaß. Er erkannte in ihm den Angehörigen jener Familie Österreicher, der das Haus in der Lindengasse gehörte, »das Haus der Originale«, wie Weidenau es gesprächsweise nannte. Indessen war der Oberleutnant Christoph Österreicher nichts weniger als ein Original. Er war ein ordentlicher junger Mensch, an dem weiter nichts Auffallendes war als seine unverhältnismäßig schönen Hände und sein immer etwas bekümmerter Gesichtsausdruck. Auch daß er, wie Höfer bald heraus hatte, in eine junge Feldmarschalleutnantstochter, Baronin Mira Winkler, verliebt war, deren Vater zu seinem Kummer in Graz stationiert war, und daß er, außerstande, sie zu erringen, mit einem Trupp junger Offiziere im Frühjahr nach Amerika auszuwandern gedachte, war nicht eben originell.
Eines Tages, als der mit Wartegebühr beurlaubte ehemalige Richter an der Seite seines neuesten Schulkameraden nach Schluß des Kurses über die Mariahilferstraße ging, geschah es, daß sie nächst der Mariahilferkirche einer hochgewachsenen, beweglich ausschreitenden Dame begegneten, die im Vorübergleiten Höfer stark anschaute und, da er nicht dergleichen tat, mit einem freien Lächeln seinem Gruß zuvorkam. Doktor Höfer zog den Hut und erkannte, erst jetzt, die Baronin Lodersdorf.
»Kennen Sie die Baronin?« fragte er, nicht ganz sicher, ob dieses Kopfnicken ihm gegolten hatte, den bedächtig neben ihm schreitenden jungen Mann.
»Ich? Die Baronin? Welche Baronin?« erwiderte dieser, aus seiner Versonnenheit aufgestört. Es stellte sich heraus, daß er die Grüßerin weder kannte, noch überhaupt gesehen hatte.
Also hat der Gruß mir doch gegolten! dachte Höfer bei sich selbst, von dieser Auskunft seines sympathischen Begleiters irgendwie befriedigt. Ihm war, als wäre soeben ein Sonnenstrahl über seinen grauen Weg geglitten.
»Finden Sie nicht?« fragte er, nach einer Weile, höher erhobenen Hauptes um sich blickend: »Finden Sie nicht, daß Wien seit Weihnachten doch einen etwas besseren Eindruck macht?«
Aber Christoph Österreicher, der besorgt umherschaute, konnte das eigentlich nicht finden. Im Gegenteil, er empfand die Lage als völlig trostlos.
Wie sich herausstellte, war seine Angebetete, Mira Winkler, noch immer bei ihren Leuten in Graz, und es bestand fast keine Aussicht, daß diese nach Wien übersiedelten, da der Feldmarschalleutnant die rote Republik oder, wie man im Kasino sagte: die Judenrepublik, aus tiefster Seele verachtete und für ihr Zustandekommen die abtrünnige Kaiserstadt in erster Linie verantwortlich machte.
Zwei Tage nach jener Begegnung übergab das zahnlose und auch sonst bedenklich aussehende Hotelstubenmädchen Höfer beim Nachhausekommen einen Brief, der, sichtlich von Damenhand herrührend, in seiner Abwesenheit von einem Bedienten abgegeben worden war.
Der Richter übernahm ihn mit Verwunderung. Er lebte ganz außerhalb aller gesellschaftlichen Beziehungen. Wenn er nicht mit Weidenau zusammen war, was hin und wieder geschah, so saß er entweder in seinem kahlen Hotelzimmer hinter seinen Aufgaben und Büchern oder in einem Kaffeehause hinter einem Berg von Zeitungen, in denen er oft nur blätterte, um sich unbemerkt wärmen zu können. In Gesellschaft ging er nie, und von Frauen, die lavendelblaue Briefe schrieben, bildete er sich ein, keine einzige zu kennen.
Oder doch vielleicht?
Er trat ans Fenster und überflog die wenigen, in einer großen, festen Schrift geschriebenen Zeilen. Dann legte er den Brief auf seinen Arbeitstisch und begann zwischen Fenster und Türe nachdenklich in dem engen Raume auf und ab zu schreiten, bis es dunkel wurde.
Hierauf entzündete er die blecherne Karbidleuchte, die ihm als Studierlampe diente, und schlug bei ihrem grünlichen Schein ein Buch auf, das ihm der Baron unlängst geliehen hatte. Es war eine französisch geschriebene Geschichte der Französischen Revolution, eines der Lieblingsbücher Weidenaus, der, wie die meisten seiner Standesgenossen, wenn er französisch oder englisch las, ungleich vorurteilsloser dachte als im Deutschen. So erwartete er sich auch in der Politik alles Heil von jenem menschenverbrüdernden sozialistischen Geist im Ausland, den er im eigenen Land verabscheute.
Aber das Karbid wollte heute durchaus nicht brennen.
Man mußte, da die Verordnungen höchstens eine Glühbirne für jeden Raum gestatteten die im Zimmer des Doktor Höfer sinnreicherweise dicht unter der Decke angebracht war –, sich mit solchen Ersatzmitteln behelfen, und man tat es nach Maßgabe seiner Verhältnisse: die Armen mit Karbid, die Begüterten mit Wachskerzen, die in gewissen Devotionaliengeschäften noch immer in hinreichender Menge zu haben waren.
Das sah wie Sorglosigkeit aus, aber es steckte noch etwas anderes dahinter. Denn im Schein jener in den Klöstern hergestellten Altarkerzen, die zugleich wärmten und dufteten, ging manchem auch ein deutlicheres Licht über den Unterschied zwischen Monarchie und Republik auf.
Es war die Zeit unmittelbar vor den Wahlen, und man arbeitete mit allen Mitteln.
In ihren hellblauen Bademantel eng eingewickelt wie eine griechische Statue, stand die Baronin Lodersdorf am Telefon und kommunizierte mit Weidenau, der heute etwas früher als gewöhnlich angerufen hatte. Das neugierig zuhörende Telefonfräulein vernahm folgendes Gespräch:
Der Baron: Guten Morgen, gnädigste Freundin. Wie geht's Ihnen?
Die Baronin: Beruhigen Sie sich! – Ich winde mich auf dem Grund meiner Wanne in einem Lackerl Wasser wie ein Aal.
Der Baron: … Muß ein hübscher Anblick sein.
Die Baronin: Haben Sie mir sonst nichts zu sagen?
Der Baron: O doch, gestern war große Versammlung beim »Wilden Mann«.
Die Baronin: Wer hat denn g'sprochen?
Der Baron: Unser guter Altgraf und dann natürlich auch der Oberst … Der spricht ja jetzt immer.
Die Baronin: Und ist etwas beschlossen worden?
Der Baron: Nichts anderes, als nach Möglichkeit dahin zu wirken, daß die Wahlen in unserem Sinne ausfallen. Besonders der dritte Bezirk ist sehr gefährdet. Es kommt auf jede Stimme an.
Die Baronin: Man darf keine auslassen. Übrigens, bei der Gelegenheit: wohnt dort nicht Ihr Freund?
Der Baron: Freilich. Im Hotel »Zum Sonnenaufgang«.
Die Baronin: Er ist doch nach Wien zuständig. Hat man ihm schon eine Wahllegitimation zugestellt?
Der Baron: Sicher. Aber die Gegenpartei vermutlich auch. Sie suchen ja jetzt alle Hotels ab.
Die Baronin: Und Sie halten es für möglich –?
Der Baron: Liebe Freundin, heutzutage ist alles möglich – überhaupt unter den Richtern gibt's viele Sozialdemokraten.
Die Baronin: So? Wirklich? … Da bin ich aber neugierig …
In diesem Augenblick mußte das gleichfalls neugierige Telefonfräulein, sehr zu seinem Mißvergnügen, eine neue Verbindung herstellen, so daß es dem Gespräch nicht mehr länger zu folgen vermochte.
Aber am Nachmittag ebendesselben Tages hielt Doktor Höfer in seinem tristen Hotelzimmer den lavendelblauen Brief der Baronin Lodersdorf in der Hand.
Denn es war tatsächlich sie, die ihm schrieb, um ihn, in ebenso höflicher wie gerader Form, zu veranlassen, sie, wenn es seine Zeit erlaube, an einem der nächsten Nachmittage zu besuchen. Sie hätte eine juristische Auskunft von ihm zu erbitten, die die Grundverhältnisse in dem zu Polen geschlagenen Teil Galiziens betreffe und ihre Kinder nah berühre.