Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Schönbrunner Spaziergang

Vielleicht hätte Mira noch viel mehr darunter gelitten, daß der ordentliche Christoph Österreicher Knall und Fall wie ein Abenteurer nach Amerika gegangen war, hätte sie nicht zur selben Zeit die Bekanntschaft der Baronin Lodersdorf gemacht, der sie anläßlich eines Besuches bei der Fürstin Albertine unvermuteterweise vorgestellt wurde.

Die Baronin, eben erst vom Gut zurückgekommen, war noch ganz sommerbraun im Gesicht, trug aber bereits einen entzückenden Pariser Herbsthut auf dem Kopfe, der den Neid aller anwesenden Damen erregte und sogar der Tante gefiel. Das wollte etwas sagen, denn die Fürstin Albertine, obwohl reaktionär bis in die Knochen und nur dem Vergangenen zugewandt, war doch in bezug auf Hüte stets für den allerneuesten Schick. Allerdings war sie es nur für die anderen. Sie selbst trug seit Kriegsausbruch immer dieselben alten Deckel; und wenn man sie in der Familie schonend darauf aufmerksam machte, sagte sie regelmäßig mit ihrem reizenden Altfrauenlächeln: »Wem ich nicht elegant genug bin, der braucht nicht mit mir zu verkehren.«

Was hatte die Baronin Tinett in den fünf Monaten ihrer Abwesenheit auf dem Lande getrieben? »Ein bißl gestickt, ein bißl gelesen und ein bißl geträumt«, wie sie einmal dem Doktor Höfer schrieb, den diese Äußerung nachhaltig träumerisch stimmte. Indessen hütete sie sich, sie im Beisein der Tante zu wiederholen, der sie vielmehr antwortete, sie hätte mit ihren Buben gelernt, den ältesten im Klavierspiel und den jüngsten in den Anfangsgründen der französischen Sprache unterrichtet, was gleichfalls wahr war und vielleicht noch wahrer. Auch eine oder die andere Jagd hätte sie mitgemacht und einmal sogar einen Rehbock erlegt. »Blattschuß!« sagte sie. »Auf hundertzwanzig Schritt!« Der Jäger behaupte sogar, hundertfünfzig. »Aber ich glaub, er übertreibt«, fügte sie, für Schmeicheleien nicht sehr zugänglich, auch selbst nicht schmeichelnd, wahrheitsliebend hinzu. Dann stand sie auf und schlängelte sich, mit der Begründung, daß sie noch Erkundigungen nach einer neuen Köchin einziehen müsse, gewandt zur Türe. Auf dem Wege dahin sagte sie zu Mira, die sie unverwandt mit glänzenden Backfischaugen angestarrt hatte: »Wenn ich nächstens einmal ein Tanzerl geb, lad ich Sie ein!«

Mira war von dieser Bekanntschaft entzückt; hier trat ihr zum erstenmal in einer weiblichen Gestalt entgegen, was sie an Frauen schätzte, doch nie vereinigt fand: adelige Bestimmtheit des Wesens, Freiheit, Offenheit, Selbständigkeit und Humor. Aber auch die Baronin fühlte sich zu Mira hingezogen, zumal nachdem sie ihren Spitznamen »Der Solospargel« in Erfahrung gebracht hatte, der so hübsch und treffend war, als ob sie ihn selbst erfunden hätte. Erblickte das junge Mädchen in der im Verhältnis zu ihr reifen Frau die Vollendung ihrer eigenen Anlagen, so hatte wieder diese in Mira sich selbst im noch formlosen, ungeschliffenen Zustand vor Augen, dessen erst halbentwickelte Möglichkeiten sie an die eigene Mädchenzeit erinnerten. Beide Frauen blickten aufeinander wie in einen Spiegel; und so war es nur natürlich, daß sie sich einander zuneigten.

Mira, die genau so handelte, wie die Baronin Tinett in ihrem Alter und an ihrer Stelle gehandelt haben würde, machte den Anfang. Tinett hatte bei Schilderung des Gutslebens ein Buch erwähnt, das sie gern einmal gelesen hätte: die »Dorf- und Schloßgeschichten« der Ebner-Eschenbach. Mira wußte, daß es sich, aus dem Nachlaß einer Großtante stammend, die die Baronin Ebner noch persönlich gekannt hatte, in der kleinen Bücherei ihrer Eltern befand, erwähnte dies aber nicht, sondern kramte den Band am selben Abend heraus und trug ihn am nächsten Tag zu Tinett, bei der sie ihn mit ein paar Zeilen abgab. Die Baronin wußte, wo das hinauswollte; sie ließ Mira noch vor dem beabsichtigten »Tanzerl« zu sich kommen und empfing sie in der Mausefalle, wenn auch nicht bei Kerzenbeleuchtung. Und von diesem Tage angefangen war das junge Mädchen, wie so viele vor und nach ihr, ihrem Scharm verfallen.

Aber es blieb nicht bei dem Scharm, er setzte sich, dem tätigen, tätig-aufnehmenden Wesen der beiden Frauen entsprechend, in Wirkung um. Die Baronin begann, als eine Frau, mit dem Anzug und der Haartracht des jungen Mädchens, die beide noch die Einwirkung der frommen Schwestern und der Provinz allzu deutlich bekundeten. Sie gewöhnte ihr ein paar überflüssige Unterröcke ab, einen unmöglichen, kindischen Talisman, den sie am Halse trug, und lehrte sie, daß sich das Haar zu wellen und vorteilhaft in die Stirn zu biegen noch lange kein Verbrechen sei. Dann schliff sie ein wenig an ihrer Sprache, gewöhnte ihr durch artigen Spott im Handumdrehen ab, alles, nach Backfischart, entweder »fabelhaft« oder »scheußlich« zu finden, und brachte ihr dafür Wendungen bei wie »à cœur ouvert sprechen« – was eine der Leidenschaften der Baronin war –, wie »anguille sous roche«, wenn es galt, vor irgend etwas auf der Hut zu sein, oder das melancholische »partir c'est mourir, c'est laisser ce qu'on aime«. Bei dieser Gelegenheit ließ sie sich ernsten Gesichtes Miras kleine Herzensgeschichte beichten, das Kreditansuchen im Rücken der Marschkolonne, den Schreibmaschinenhandel und was vorangegangen war, den romantischen Kuß unter dem Wasser im Beisein einer Lachsforelle. Besonders diese verwegene Situation reizte die Baronin augenscheinlich und beschäftigte ihre Einbildungskraft; sie sagte lustig, daß sie das auch einmal versuchen müsse, schon, um zu wissen, wie es schmecke. Und um auch Mira ihr Vertrauen zu beweisen, gönnte sie ihr einen Einblick in ihr Tagebuch, das bis in ihr fünfzehntes Jahr zurückreichte, und las ihr einzelnes daraus vor. Stellen wie: »Ich kann nicht einfach glücklich sein, ich muß stets daran arbeiten«, oder die im Krieg geschriebene: »Zum erstenmal im Leben fühle ich, daß ich einem Staatsgemeinwesen angehöre, daß ich einen ›Nächsten‹ im wahren Sinn des Wortes habe«, und die ungleich leichtsinnigere: »Bin ich untreu? Ach, es ist ja Neugierde …« machten auf das aufhorchende Mädchen einen tiefen Eindruck. Als sie aber die Sätze las, in denen die junge Mutter, von der Wiege ihres Jüngsten kommend, ihrem Herzen Luft gemacht hatte: »Wenn er so ruhig schläft, die kleinen Fausterln fest zusammengeballt, da überkommt mich so eine große Ruhe, und nur ein Wunsch beseelt mich: eine gute Mutter zu sein –« da beschloß Mira, sich an dieser Frau ein Beispiel zu nehmen und zu werden wie sie. Genau wie sie.

 

Einmal, als Mira bei der Baronin saß, wurde Doktor Höfer gemeldet. Das junge Mädchen wollte sich gleich verziehen, aber die Baronin hielt sie mit den Worten zurück: »Bleib nur wenigstens ein paar Minuten noch. Es sieht dumm aus, wenn du so davonläufst!«

Mira sah einen dunkelgekleideten, ernsten Mann vor sich, unter dessen tiefschürfendem Richterblick sie angenehm erschauerte. Aber zugleich lehnte sich irgend etwas in ihr auf gegen die Unberührbarkeit seines Urteils. Sie betrachtete ihn, während er ganz förmlich mit ihrer großen Freundin sprach, nicht ohne Eifersucht von der Seite; und an dieser Eifersucht vor allem – einem ihr völlig neuen Gefühl – erkannte sie, daß er der Baronin nicht ganz gleichgültig war.

Unter dem Eindruck dieser Empfindung stand sie vorzeitig zum zweiten Male auf und wollte sich entfernen. Aber die Baronin hatte eben, um eine Brücke zu schlagen, das Gespräch auf Luck gebracht, wo Höfer, ohne daß er sich dessen sofort bewußt wurde, unter dem Oberkommando von Miras Vater gestanden hatte. Beide waren sie damals das Opfer einer dilettantisch-dynastischen Kriegführung geworden. Aber während Papa, in Pension geschickt, niemals darüber sprach und das Kaiserhaus deckte, wie Benedek, wie Tegethoff es gedeckt hatte, machte Doktor Höfer aus seiner Meinung kein Hehl. Mira hatte den Eindruck, mit einem Revolutionär zu reden, obwohl er nichts anderes sagte, als was ihr höchst ehrenwerter Vater dachte.

»Ich muß jetzt aber wirklich laufen!« sagte Mira und schlüpfte aus der Mausefalle.

Allein geblieben begann Doktor Höfer sofort, von der polnischen Bodenreform zu berichten, über deren Fortschritte ihn sein Kollege auf dem laufenden hielt. Die Baronin hörte ihm lächelnd zu; sie wußte, was er ihr zu sagen hatte, bereits und vielleicht auch, was er ihr nicht zu sagen hatte. Denn nach einer Weile, als er die ihm eingesandten Papiere und Drucksorten aus der Tasche zog, um das Gesagte zu beglaubigen, legte sie abwehrend die Hand auf den ganzen Wust und fragte, als er betroffen verstummte, das Thema wechselnd, in ihrer heiteren Art:

»Wie geht's Ihnen denn?«

Er gab gewissenhaft Auskunft über seine äußeren Verhältnisse, die nach wie vor ziemlich traurige waren. Seine richterliche Wiederverwendung ließ auf sich warten, er lebte von seinem immer magerer werdenden Gehalt, das ihm weiter ausbezahlt wurde, und kleinen juristischen Nebenarbeiten. Auch eine größere Schrift plante er, über das »Arbeiterrecht«. »Aber in meinem Hotelzimmer«, sagte er: »Es ist schwer …«

»Sie bleiben also in dem Hotel mit dem morgenroten Titel?« fragte sie ein bißchen herausfordernd.

»Ja, allerdings!« erwiderte Doktor Höfer, wie gewöhnlich nach einiger Zeit auf ihren Ton eingehend: »Es heißt noch immer nicht ›Zum Sonnen untergang‹!«

Die Baronin lachte wie ein übermütiges Schulkind. Aber alsbald wurde sie wieder ernster:

»Und sonst?« erkundigte sie sich zum zweitenmal: »Wie geht's Ihnen sonst?« Und, da er bloß trübselig mit den Achseln zuckte:

»Was hören Sie denn von Ihrer geschiedenen Frau?«

»Die hat wieder geheiratet, einen Konzertdirektor in Prag, und schwimmt, wie es scheint, in tschechoslowakischen Kronen. Es hat sie immer nach der Geldseite hinübergezogen. – Überhaupt: am Nachfolger merkt man, was eigentlich beabsichtigt war wie mein Freund Weidenau immer sagt …«

»So, sagt er das?« fragte die Baronin eigentümlich spitz.

Dann zum dritten Male, den Ton wieder ganz hochnehmend:

»Und sonst?«

Dabei »drehte sie die elektrische Beleuchtung auf«, wie Weidenau ein gewisses Mienenspiel bei ihr benannte, das darin bestand, daß sie, den Blick erweiternd, ihre schönen Augen gleichsam aufglühen ließ.

»Und sonst? Ich mein', wie geht's Ihnen sonst?«

Allein über diesen Punkt gab Doktor Höfer niemals genauere Auskunft, und gerade das gefiel ihr an ihm, diese Sprödigkeit und Verschlossenheit, die doch nur von einer weiblichen Hand gelöst und entriegelt werden konnte.

Überhaupt seine Art gefiel ihr: seine Männlichkeit, sein finsterer Blick, seine bittere Anständigkeit; und darum hätte sie gerne Näheres über seine Gemütsverfassung in Erfahrung gebracht. Aber alles, was er schließlich auf das dringliche »Und sonst?« erwiderte, waren nur zwei Worte:

»Danke – schlecht!«

 

Schnee war gefallen, und sie spazierten zusammen unter den hohen Praterbäumen, die über schwarzen Ästen weiße Zweige in den fast weißen Himmel spreizten. Sie gingen mit raschen Schritten bis zum zweiten Rondeau hinunter und kamen etwas langsamer, an dem vereisten Heustadelwasser entlang, in die Hauptallee zurück, wo sie ihren eigenen Fußspuren noch im lockeren Schnee begegneten. So wenig war in diesen aufgeregten Zeitläuften der stille Prater begangen.

Sie erörterten die Chronik der Zeit, deren haßentstelltes Antlitz sich nur langsam unter immer neuen Krämpfen und Verzerrungen beruhigte. Oder aber der Richter erzählte aus seiner Ehepraxis, sonderbare Fälle und Spielarten der ewigen Tragikomödie, die er sachlich, aber auch menschlich auseinanderzulegen und zu beleuchten verstand. Oder er sprach von Jugendtagen, von seiner Schulzeit, von Weidenau: wie dieser schon im Alter von dreizehn, vierzehn Jahren auf seine, Höfers, Eltern den Eindruck eines vollendeten Weltmannes gemacht hätte; wie artig er einzutreten, sich zu verneigen, ein Gespräch anzufangen, mit einer hübschen Wendung, mit einem lachenden Wort zu kommen und zu gehen verstand. Ganz besonders aber wäre sein, keineswegs von den Eltern ererbter Geschmack schon damals in der Klasse bekannt und geschätzt gewesen. Sein Schönheitssinn war sprichwörtlich; auch ging er immer durch die schönsten Straßen ihres Bezirkes zur Schule, obwohl er dabei sogar einen Umweg machen mußte. »Im Gegensatz zu mir!« sagte Doktor Höfer.

Die Baronin schaute ihn, während er sprach, von der Seite an. »Eine neue Krawatte?« sagte sie.

»Gefällt sie Ihnen?« erkundigte er sich etwas unsicher.

Sie sagte vorsichtig, die Krawatte wäre, für sich allein betrachtet, gar nicht übel, nur gerade zu diesem Anzug passe sie nicht. Rot und Dunkelgrau gehe nicht sehr gut zusammen. »Wie war' denn Blau oder Violett?«

Ein andermal wieder gingen sie zusammen in die Oper. Doktor Höfer besorgte durch Vermittlung der Kunststelle die Billette, und dann saßen sie, einen ganzen Abend lang, nebeneinander auf der vierten Galerie und hörten »Manon« an oder »Butterfly« oder die zärtliche »Boheme«, die Lieblingsoper der Baronin Lodersdorf. Es war reizend, fand Doktor Höfer, neben dieser reizenden Frau im Theater zu sitzen, die warme Luft einzuatmen, die Luft des Opernhauses, die, wie sie sagte, noch immer »so gewiß nach Pelz und Schokolade roch«, und, in ein und dasselbe Textbuch blickend, das Fortschreiten traurig-heiterer Liebesangelegenheiten tief drunten auf der Bühne zu verfolgen. Manchmal verlor Doktor Höfer sich derart an diese träumerische Theaterstimmung, in der nur noch das Unwirkliche wirklich war, daß seine Begleiterin ihn lachend wieder ins Leben zurückrufen mußte, etwa indem sie ihn mit den Worten: »Und meine dicken Handschuhe? Ich hab' sie Ihnen doch zur Aufbewahrung gegeben?« oder: »Und mein Operngucker? Den krieg' ich wohl überhaupt nicht mehr zurück?« wieder zur Besinnung brachte. Und Doktor Höfer griff mit der einen Hand in die Brusttasche, mit der anderen in die Schoßtasche seines Jacketts, wo er das Theaterglas verborgen hatte, und entschuldigte seine Vergeßlichkeit, während sie, des Glatteises wegen oder weil frischer Schnee gefallen war, beim Überqueren der Trottoirs seinen Arm nahm und sich ganz leicht bis zur Haltestelle auf ihn stützte.

Dann kam Weihnachten, und die Baronin war tagelang nicht zu sehen und zu sprechen. Ihre Buben kamen von Kalksburg herein, ihre Mutter vom Gut, und es gab allerhand zu tun. Sie ging in einer weißen Schürze im Hause herum, mit Taschen, in denen goldene Nüsse steckten, oder stand auf der Leiter oder am Herd und buk Lebkuchenherzen nach einem alten Rezept, das sich aber jedes Jahr neu bewährte. Doktor Höfer bekam auch eins, und darauf stand: »Dem braven Kinde!«

Bald nach Weihnachten begannen die Gesellschaften, kleine Teezusammenkünfte nach dem Abendessen, deren die Baronin höchstens drei oder vier in einem Winter veranstaltete. Es kam die Fürstin Albertine als »gestiefelter Kater« mit hohen Schneeschuhen und in Papier eingewickelten kleinen Goldlackschuhen, die sie im Vorzimmer anzog; es kam der düstere Feldmarschalleutnant samt Frau und Tochter; es kam Admiral Amerling, der sein eigener Diener und imstande war, mitten in einer Bridgepartie sich mit der Bemerkung von seinem Sitz zu erheben: »Bitt' tausendmal um Entschuldigung, aber ich muß heut noch Geschirr abwaschen!«; es kam Weidenau, Exzellenz Malik und, zu seiner eigenen Verwunderung, auch Doktor Höfer, obwohl er das bestimmte Gefühl hatte, in dieser Gesellschaft nichts zu suchen zu haben.

Der einzige, der ihn interessierte, war Exzellenz Malik, mit seinen geistreichen Wutausbrüchen und »mots heureux«, wie die Fürstin Albertine sagte. Er wußte die Geheimgeschichte aller österreichischen Kabinette der letzten sechzig Jahre und erzählte die köstlichsten Anekdoten vom Kaiser Franz, von dem er einmal witzig behauptete, daß er in Österreich bis zum Jahre 1916 regiert habe. Aber obwohl er solcherart die alte Monarchie verurteilte, zog er ebenso schonungslos gegen die neue Republik los, und er tobte in einem Atem gegen Ludendorff und gegen Lloyd George, gegen das Versailler Diktat und gegen den Völkerbund, ganz besonders aber gegen das allgemeine Wahlrecht, obwohl er selbstverständlich auch gegen das Kuriensystem war. Schließlich beruhigte er sich und sprach mit der Fürstin, ihr näherrückend, über Scotus, Thomas von Aquino und die Philosophie der Scholastiker.

Doktor Höfer verhielt sich meistens schweigend, und da er weder perorierte noch schmeichelte, noch Anekdoten erzählte, wurde er kaum bemerkt. Einmal, als er, nachdem die Gesellschaft vom Tee aufgestanden war, im Salon auf Geheiß der Hausfrau in dem einzigen noch freien Lehnstuhl Platz genommen hatte, der unglücklicherweise zwischen dem Fauteuil der Fürstin und demjenigen der geborenen Hohenbruck sich befand, ließen diese beiden hochadeligen Damen sich in einem angefangenen Gespräch nicht stören und unterhielten sich weiter über die »Gisi« und den »Poldi« und die »Nixi« und den »Dodi«, sich munter über seinen Kopf hinweg die Gesprächsbälle zuwerfend, nicht anders als man Tennis spielt über ein Netz hinweg, das in diesem Falle Doktor Höfer war. Er erwog, was da zu machen wäre, wollte aufstehen, blieb aber dennoch sitzen und blickte hilfesuchend um sich, bei welcher Gelegenheit er dem Blick des ihm schräg gegenübersitzenden Generals begegnete, dessen Steingesicht ihn aus tiefen Augenhöhlen erbarmungslos fremd anstarrte. In diesem Augenblick trat die Baronin Lodersdorf auf Höfer zu und sagte, sich auf die Lehnen seines Marterstuhles stützend:

»Was ist, Doktor? Gehen wir diese Woche wieder einmal zusammen in die Oper?«

Höfer stand auf, trat mit Tinett beiseite, und das Gespräch der beiden alten Damen verstummte plötzlich; jetzt, wo sie um so vieles bequemer miteinander hätten reden können, hatten sie einander nichts mehr zu sagen. Aber auch dem Baron Weidenau, der eben eine Anekdote vom Prince de Ligne und Friedrich dem Großen zum besten gab, blieb das Wort im Halse stecken, so daß ihn Malik, nicht ohne Verschmitztheit, erinnern mußte:

»Aber verehrter Freund, Sie sind uns ja noch die Pointe Ihrer Geschichte schuldig!«

 

Einmal, schon gegen das Frühjahr zu, gingen sie zusammen in Schönbrunn spazieren.

Als Tochter des ehemaligen Kommandanten der Arcierenleibgarde, der in unmittelbarer Nähe des Monarchen Dienst machte, hatte Tinett Lodersdorf die reizendsten Kindheitserinnerungen, die sie mit hundert zarten Stimmungsfäden an dieses Schloß und diesen Garten banden. Zumal ein Feuerwerk, das anläßlich einer Hoffestlichkeit für die kaiserlichen Gäste auf der Gloriette abgebrannt worden war und dessen Lichtgarben sie noch heute, wenn sie die Augen schloß, sich wie einen Riesenfächer vom tiefdunkelblauen Nachthimmel abheben sah, war ihr unauslöschlich gegenwärtig. Indem sie es beschrieb, kam sie auf andere Schaustellungen des Hofes zu reden, die sie alle aus nächster Nähe von einem bevorzugten Platz aus mit angesehen hatte: das malerische Fronleichnamsfest etwa, zu dem der Kaiser sich in einem von acht milchweißen Pferden bespannten Glaswagen begab, um dann zu Fuß, barhäuptig hinter dem Allerheiligsten einherschreitend, auf einem weiten Umweg durch die Stadt in die Stefanskirche zurückzukehren; oder das Farbengestöber der Frühjahrsparade auf der Schmelz, wo die Suite des Kaisers wie eine arabische Fantasia das feine Hechtblau seiner im wiegenden Galopp vorüberschwebenden Uniform umschwärmte. All das wußte sie, mit einfachen Worten, auf eine sehr exakte Weise gegenständlich zu machen, so daß Höfer diese schönen Bilder greifbar nah vor Augen zu haben vermeinte. Er hörte aufmerksam zu, dann sagte er, daß er die Fronleichnamsprozession und die Frühjahrsparade gleichfalls noch in Erinnerung habe: bei der einen hatte er als Freiwilliger im Spalier gestanden, bei der anderen war er in einem schlecht einschwenkenden Zug mitdefiliert.

Von dem noch in jüngeren Jahren verstorbenen Vater kam die Baronin Lodersdorf im Weitergehen ganz von selbst auf den gleichfalls verstorbenen Onkel Statthalter zu sprechen. Die Baronin nannte ihn immer nur den Onkel Josef und schilderte seine Eigenheiten, die mit denjenigen des ihm in jeder Hinsicht maßgebenden alten Herrn, zu dessen Lieblingen er gehörte, ziemlich übereinstimmten. Ohne jemals selbst Minister gewesen zu sein, hatte der Onkel Josef dennoch an der Zusammenstellung mehr als eines Ministeriums mitgewirkt, und da sein Einfluß unberechenbar war, so bildete sich um ihn herum ganz von selbst ein Hof von Strebern, Anwärtern und um Geltung Ringenden, in dessen immer in Gang begriffenes Uhrwerk nur die Allernächsten Einblick hatten. Zu ihnen gehörte die hübsche Nichte, von der sich der Onkel manchmal vorlesen ließ und die er einmal sogar – Zeichen allerhöchster Gnade – auf eine Gemsjagd mitnahm. So lernte sie frühzeitig mit den Augen des erfahrenen Mannes sehen und die Menschen voneinander unterscheiden. Als sie achtzehn war, wußte sie bereits, daß es, von welchem Rang und Namen immer sie auch sein mochten, unter ihnen nur zwei Gattungen gäbe: solche, die von einem etwas wollen und die man, indem man ihre Wünsche erfüllt, verzögert oder narrt, ihr ganzes Leben in Dienstbarkeit erhält, und jene anderen, die wenigen, die ganz wenigen, die nichts wollen, die für Geld und Geldeswert nicht zu haben sind und denen man sein Vertrauen schenkt, weil sie es verdienen. Ein solcher Mann, sagte Tinett Lodersdorf, gegen Höfer gewendet, wäre auch ihr Onkel gewesen. Als er starb und aufgebahrt lag, hatten die Orden auf dem Kissen zu Füßen des Sarges kaum Platz; aber er starb arm und hinterließ soviel wie nichts. Auch das Gut, das ihrer Tante gehört hatte und auf dem jetzt ihre Mutter hauste, erwarb die Tante erst nach dem Tode des Statthalters durch eine zweite Heirat, bei der der Nimbus, der den Verblichenen umgab, freilich eine gewisse Rolle gespielt haben mochte. Aber das war nicht mehr Sache des Toten.

Sie gingen, von Hietzing kommend, an dem Schloß entlang, durch dessen verfallende Prunkräume eben eine Herde Neugieriger getrieben worden war. Seine Ausläufer, in denen früher die kaiserliche Dienerschaft untergebracht war, waren zur Zeit von den Invaliden bewohnt, was die Baronin »horribel« fand und zum Anlaß nahm, um sich gegen das sozialistische Wohnungsanforderungsgesetz auszusprechen, das neuestens auch sie bedrohte, denn die Wohnungskommission des Bezirks Landstraße hatte herausgefunden, daß im Erdgeschoß ihres Hauses neben der Küche zwei unbenutzte Räumlichkeiten lagen, die sie einem aus dem Krieg zurückgekehrten Eisendreher hätte abtreten sollen. »Ich habe Ihnen ja unlängst davon erzählt!« sagte sie.

Doktor Höfer nickte lebhaft:

»Gut, daß Sie davon sprechen. In diesem Zusammenhang muß ich Ihnen nämlich ein Geständnis machen, Baronin. Ich habe unlängst von Ihnen geträumt!«

»Endlich!« rief die Baronin lustig, und Doktor Höfer erzählte ihr seinen Traum, der allerdings wenig Phantastisches hatte und den ehemaligen Richter nicht verleugnete.

Ihm hatte geträumt, daß er als Berufungsinstanz über die Anforderung eines Teiles der Wohnung der Baronin zu entscheiden hatte. Der Anfordernde war aber nicht jener Eisendreher, sondern ein Kamerad aus dem Felde, seines Zeichens Arzt, der, heimgekehrt, mangels einer Wohnstätte seine Praxis nicht ausüben konnte und sich mit den Seinen rettungslos der Proletarisierung preisgegeben sah. Die Verhandlung fand in der Mausefalle statt, die sich im Augenblicke der Urteilsfällung zum Gerichtssaal erweiterte, und der Richter im Traumzustand sagte sich ununterbrochen innerlich vor, daß er sich von dieser Örtlichkeit nicht beeinflussen lassen dürfe und ohne Ansehen der Person Recht sprechen müsse. Schließlich tat er es auch, und zwar zuungunsten der Baronin, die, wenn sie die zwei Zimmer abtrat, immer noch fünf behielt. Aber er tat es, merkwürdigerweise, indem er das Urteil »Im Namen Seiner Majestät des Kaisers« verkündete.

Die Baronin hatte aufmerksam zugehört, dann sagte sie, nach einer Weile:

»Sie sind schrecklich gerecht!«

»Allerdings«, versetzte Doktor Höfer ernst: »Ich glaube an die Gerechtigkeit. Es ist vielleicht sogar das einzige, woran ich glaube.«

»Gut, daß das meine Tante nicht hört!« scherzte die Baronin: »Bei mir macht's ja weniger!«

Dann blieb sie stehen und bemerkte in ihrer erfrischend munteren Art:

»Übrigens, für den Fall, daß Sie noch einmal von mir träumen sollten – alles ist möglich –: Der Prozeß mit dem Wohnungsamt ist bereits entschieden.« Und sie erzählte, daß sie einen Ministerialrat kenne, der die Spitalsangelegenheiten leite. Unlängst nun sei der ihr aufsässige Wohnungskommissär ihres Bezirkes bei eben diesem Herrn gewesen, um sich um ein Bett im Spital für seine tuberkulöse Frau zu bewerben. Es wurde nicht viel hin und her geredet zwischen dem Vertreter der alten Bürokratie und demjenigen der aufstrebenden Volksmacht. Aber man verstand sich nach der ersten Zigarette, die der Rat anbot und die der Volkskommissär rauchte … »Die Frau ist im Spital, und ich hab' Ruh'!« sagte die Baronin: »Ist das nicht lustig?«

»Nein«, sagte Doktor Höfer, »es ist traurig.«

Sie waren beim Meidlinger Tor angelangt und traten in die graue Vorstadtstraße. Harte Augen aus Armengesichtern schauten die Spaziergänger dumpf oder drohend an.


 << zurück weiter >>