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Die Mausefalle

Barhäuptig, wie es der Mode der Zeit entsprach, und seine Mappe unterm Arm wie ein Schulknabe, ging, in bürgerlicher Kleidung, der ehemalige Oberleutnant Christoph Österreicher diesen Nachmittag über die Mariahilferstraße. Sein junges Gesicht war faltig und besorgt wie gewöhnlich; aber sein Schritt und seine Haltung verrieten eine gewisse Zuversicht, die auffiel, weil sie in der allgemeinen Lage keineswegs begründet war.

Diese war trostlos. Hunger, Kälte und Krankheit vereinigten sich, um die besiegte Stadt bis zur Unkenntlichkeit zu demütigen. Aber noch immer wehrte sich ihre Lebenslust dagegen. Während die Leute an der Grippe wie die Fliegen starben, der Eisenbahnverkehr stockte, ja sogar die Elektrische Kohlenmangels wegen eingestellt werden mußte und die Mütter zu Hunderten sich bei den fremden Militärmissionen anstellten, um mit ihrem schönsten Lächeln eine Konserve oder etwas Kondensmilch für ihre Kinder zu ergattern; während in Berlin wilde Schlachten zwischen Spartakisten und Republikanern geschlagen wurden und Rußland sich in den Fieberkrämpfen der noch frischen bolschewistischen Krankheit wand, wehrte sich der Wiener Optimismus noch untergehend gegen den Untergang. In den ungeheizten Theatern, die um vier Uhr nachmittags spielten, wie vor zweihundert Jahren, saßen, in ihre Mäntel und Tücher gehüllt, mit blauen Nasen und brennenden Augen Schaulustige, und nicht nur in den Nachtlokalen, wo der Sieger und der Schieber das Leben genossen, auch in den Privathäusern wurde oft bis zum Morgengrauen getanzt. Manchmal drang die Volkswehr ein, um solchem Unfug ein Ende zu machen. Aber nicht immer erwiesen die halbverhungerten Wehrmänner ihre sittliche Widerstandskraft gegen Schweinsrippchen und Kalbskeulen, die, bei Tage nirgends erhältlich, bei Nacht auf rätselhafte Weise massenhaft zum Vorschein kamen, und, indem sie Cato zum Mitschuldigen des beargwöhnten Lasters machten, die Stimmung einer allgemeinen Liederlichkeit wie das Öl die Lampe nährten.

Christoph Österreicher gehörte weder zu den Verwöhnten noch zu den Bestochenen. Er war auf seine magere Löhnung angewiesen, der in wenigen Monaten die gänzliche Einstellung drohte und von der er nicht nur die auf Raten erstandene Zivilkleidung, sondern auch das Schulgeld in seinem Handelskurs bezahlen mußte. Er hatte weder Eltern noch Geschwister. Er stand allein in der Welt. Er war als begeisterter Jüngling in den Krieg gegen Italien gezogen und geschlagen heimgekehrt. Er war, einem patrizischen Geschlecht entsprossen, in dem sich wohlhabendes Fabrikantentum mit einem an der Regierung teilhabenden Beamtentum verschränkte, so tief ins Proletariat gesunken, daß er, der Sohn eines Sektionschefs, wenn auch eines arm gebliebenen, bei einem mit Stoffen handelnden böhmischen Flickschneider als Untermieter wohnte. Und trotzdem war er gut gelaunt. So viel vermag unter Umständen ein Brief, der den Poststempel Graz trägt, über das Gemüt eines in Wien lebenden jungen Mannes.

Er hatte ihn heute morgen erhalten, und dieser Brief war auch der Grund, weshalb er jetzt am Nachmittag Onkel und Tante Österreicher in ihrem Hause in der Lindengasse aufsuchte.

Christoph Österreicher tat das nicht allzu häufig. Das Verhältnis des verstorbenen Sektionschefs zu seinem jüngeren Bruder Rudolf, der erst Schulden, später eine reiche Heirat machte und der nachher ebenso sparsam wurde, als er vorher leichtsinnig gewesen war, war immer ein wenig herzliches gewesen, und wie die Meinung der Eltern gewöhnlich im Betragen ihrer Kinder, kam dies schon in Christophs frühen Knabenjahren deutlich genug zum Ausdruck. »Stolz!« sagte die Tante Karoline, wenn er bei einem Besuche mit den Eltern ihre meist altbackene Bäckerei zurückwies, und »Stolz lieb' ich den Spanier!« rief dann auch regelmäßig der Onkel Rudolf, rief es mit zunehmendem Hohn; denn das jahrelange Siechtum der Mutter Christophs hatte fast das ganze Vermögen aufgezehrt, so daß, als der Sektionschef bald nach seiner Frau starb, soviel wie nichts übrigblieb, und Onkel Rudolf um ein Haar Christophs Studium hätte bezahlen müssen. Zum Glück gelang es ihm in zwölfter Stunde, dem Jungen einen halben Freiplatz an der Wiener-Neustädter-Akademie zu verschaffen, und Christoph fügte sich, aus Stolz, obwohl er sich zum Soldatenstand wenig hingezogen fühlte und viel lieber Diplomat geworden wäre.

Stolz war Christoph Österreicher auch jetzt noch, stolzer, als es einem armen Verwandten zukam. Als er nach dem Zusammenbruch, ausgeplündert und entwaffnet, ohne Diener und Gepäck, nach Wien zurückkehrte, um sich hier eine Zivilstellung zu schaffen, wäre es das natürlichste gewesen, daß er im Hause seines kinderlosen Onkels Zuflucht gesucht hätte, die man ihm unter den gegebenen Verhältnissen nicht hätte verweigern können. Aber eben deshalb vermied es Christoph, bei seinem Onkel auch nur anzuklopfen. Und wenn er seither sich bei Onkel und Tante zeigte, brachte er fast immer eine kleine Aufmerksamkeit mit, um dem Verdacht zuvorzukommen, den er in ihren geldstolzen Bürgergesichtern ständig lauern sah, daß er sie anzapfen wollte. Er, der arme Verwandte, beschenkte die Reichen, nur um nicht den Anschein zu erwecken, daß er von ihnen beschenkt zu werden hoffte.

Auch heute brachte er ein Stückchen Frühstückspeck für den Onkel mit, das die Tante wie eine ihr gebührende Huldigung gnädig entgegennahm. Sie war eine kleine Frau mit großem Kopf und immer aufwärts gewendetem Gesicht, dem ein hochreitender schwarzgefaßter Hornkneifer ein gewisses, von ihr stark betontes Ansehen gab. Seit dem Tage, an dem die Republik proklamiert worden war, trug sie sich schwarz, und wenn man sie fragte, warum, so antwortete sie wie die Fürstin Metternich: »Ich trauere um die Monarchie!« Allerdings starb bald darauf ihr Vater, der alte Hanfstängl, kaiserlicher Rat und Teppichfabrikant, so daß von diesem Tage angefangen die Staatstrauer in die Familientrauer überging.

»Was verschafft uns das Vergnügen?« fragte die resolute kleine Dame und bot dem Neffen einen der unbequemen hochlehnigen Renaissancestühle in ihrem nur schwach beheizten Speisezimmer an, indem sie gleichzeitig dem sichtlich unterernährten Mädchen einen Wink gab, den »gnädigen Herrn« zu verständigen.

Der Onkel trat ein, bevor Christoph Österreicher antworten konnte. Er kam im Winterrock mit aufgestelltem Rockkragen und setzte sich hüstelnd an den Tisch. Sein offenbares Bestreben war, einen möglichst bemitleidenswürdigen Eindruck zu machen, was ihm aber infolge seiner Wohlgenährtheit, die Krieg und Grippe bisher siegreich überdauert hatte, nur sehr unvollkommen gelang.

Christoph erkundigte sich nach dem Befinden der beiden und brachte dann das Gespräch vorsichtig auf die Wohnungsfrage. Ob sie nichts von dem neuen Anforderungsgesetz zu befürchten hätten, fragte er. »Zu befürchten?« schrie der Onkel Rittmeister, »sie sollen's nur probieren! Wenn jemand in meine Wohnung kommt, so schieß ich!« – Wie alle, die es vorgezogen hatten, den Krieg im Hinterlande zu führen, war der superarbitrierte Rittmeister a. D. besonders kriegerisch und jederzeit bereit, mit Worten ein Blutbad anzurichten.

»Wieviel Zimmer habt ihr eigentlich?« fragte Christoph und bot, da ihm keine angeboten wurde, dem Onkel eine Zigarette an.

Rudolf Österreicher bediente sich, ohne zu danken. »Wir bewohnen den ganzen ersten Stock!« sagte er, mit dem natürlichen Selbstgefühl eines Mannes, der von der Mitgift seiner Frau lebt, und er fügte hinzu: »Das heißt, vorläufig hat die Witwe Prohaska noch die beiden Hofzimmer. Aber die werden wir demnächst los.«

Die Witwe Prohaska war die überlebende Lebensgefährtin eines langjährigen Prokuristen des Hanfstänglichen Unternehmens, der das besondere Vertrauen des alten Herrn Hanfstängl genossen hatte, weshalb man sie bei seinen Lebzeiten im Genusse eines Teiles der von ihr behausten Wohnung belassen hatte. Außerdem bezog sie eine Witwenpension von zweihundert Kronen monatlich. Die erhielt sie auch nach dem Tode des alten Herrn; hingegen trachtete man sie aus der Wohnung »hinauszumanövrieren«, wie Rudolf Österreicher sagte, was in der Weise geschah, daß man ihre Pension, von der sie längst nicht mehr leben konnte, zwar nicht erhöhte, ihr dafür aber eine kleine einmalige Abfertigung für die Wohnung anbot. Schon war die Frau Prohaska nur noch ein bleicher Schatten, und es ließ sich voraussehen, daß der Handel schließlich zur vollen Zufriedenheit des sparsamen Ehepaares Österreicher enden würde, das an eine lukrativere Verwertung der zwei Zimmer dachte.

Christoph Österreicher, der zwar Diplomat hatte werden wollen, aber keiner war, rückte mit der Farbe heraus. Eine ihm bekannte junge Dame, sagte er: Baronin Mira Winkler in Graz, deren Eltern eine Dreizimmerwohnung in Wien suchten, hätte sich brieflich an ihn gewendet. Ihre Mutter wäre eine geborene Gräfin Hohenbruck – Großnichte des ehemaligen Botschafters beim Heiligen Stuhl –, der Vater der bekannte Karpatenverteidiger Winkler von Edeltreu. Ob die Tante nie von der Baronin Mira gehört habe, der einzigen Tochter des Feldmarschalleutnants, dessen Sohn im Krieg gefallen sei? Sie hätte eine Zeitlang beim Labedienst am Nordbahnhof sich betätigt und wäre dort trotz ihrer Jugend sogar Tischvorsteherin geworden.

Nein, sagte die Tante, sie hätte nichts von der Baronin gehört. Ihr Gesichtsausdruck, ursprünglich hochnäsig abweisend, war bei der Aufzählung der Adelsprädikate zusehends milder geworden; denn Tante Karoline hatte eine Schwäche: den Adel. Aber Onkel Rudolf hatte auch eine: das Geld. Und diese beiden Schwächen hielten in der Österreicherschen Ehe einander das Gleichgewicht.

Bevor daher die Tante sich weiter einlassen konnte auf die Vorschläge ihres Neffen, fuhr der Onkel dazwischen.

»Hat er Geld, dein Herr von Edeltreu?«

Um wahr zu sein, war dies der schwache Punkt bei den Edeltreus wie auch bei den Hohenbrucks und der Grund, weshalb der Feldmarschalleutnant die Übersiedlung nach Wien anstrebte, wo dem seine Abneigung gegen die Judenrepublik und das rote Wien Überwindenden eine Stellung im Petroleumhause des Herrn Groß winkte. Christoph ließ alle diese Einzelheiten, die er zudem aus Miras Brief kaum kannte, unerwähnt und beschränkte sich darauf, zu äußern, daß der Feldmarschalleutnant jedenfalls ein Mann von Ehre sei und den Zins gewiß nicht schuldig bleiben würde.

»Was hab' ich davon«, sagte Onkel Rudolf, »wenn er mir in österreichischen Kronen zahlt?« Und er gab bekannt, daß ihm ein anderes Angebot seitens eines italienischen Missionsoffiziers, des Capitano Cardutti, vorliege, der für zwei Gassenzimmer dreihundert Lire monatlich biete.

Christoph Österreicher, der am Piave und am Isonzo gestanden hatte, wurde rot. »Würdest du jemand ins Haus nehmen«, fragte er, »… der auf österreichische Soldaten geschossen hat?«

»Warum nicht?« erwiderte der Onkel gleichmütig: »Wir haben ja auch auf sie geschossen.«

Christoph Österreicher war aufgestanden und empfahl sich, von der Tante, die auf Formen hielt, hinausbegleitet.

Im Vorzimmer, als er den Mantel vom Nagel nahm, fiel sein Blick auf einen aus Blech gestanzten eisernen Doppeladler, der an der Wand hing und dessen Fänge als Aufhängeort für die Schlüssel des Hauses dienten. Die Frage: »Hängt der Kassaschlüssel da auch dabei?« schwebte ihm auf den Lippen. Doch unterdrückte er sie rechtzeitig, und das war gut; denn Tante Karoline sagte im letzten Augenblick, als er schon die Türe öffnete:

»Schreib dem Exzellenzherrn, wenn er den Zins in Lire bezahlt, wär über die Sache allenfalls zu reden, anders aber nicht.«

Das war ihr Ultimatum, der Ausgleich zwischen Geld und Adel.

 

Die Baronin bewohnte unweit der Rochuskirche ein winziges Stadtschlößchen, das ihrer Mutter gehörte. Der Eingang erfolgte seitlich durch ein schmales Gärtchen. Ein alter Kastanienbaum kennzeichnete es als solches, zu dem sich in der schönen Jahreszeit zwei magere, süßduftende Oleanderbäume gesellten, die rechts und links von den drei Stufen des schönumrissenen Portals in grüngestrichenen Holzkübeln standen. Die Abgeschlossenheit gegen die Straße, die schmalen hohen Fensteröffnungen des oberen Stockwerks und eine gewisse zur Schau getragene Gleichgültigkeit der verfallenden Fassade ließen auf den ersten Blick den adeligen Besitz erkennen.

Der Besucher setzte einen mechanischen Klingelzug in Bewegung. Ein älterer Diener erschien nach einer Weile und führte ihn, ohne sich zu übereilen, die barocke Innentreppe hinan. Doktor Höfer betrachtete den würdig Voranschreitenden von der Seite; er sah mit seinem glattrasierten Mimengesicht und dem strähnigen grauen Haar aus wie ein bejahrter Schauspieler.

Das erste, was der in einen dreifenstrigen ungeheizten Salon Eingeführte zu hören bekam, war eine durch die Türe dringende singende Frauenstimme. Es mußte wohl die Stimme der Baronin sein, denn sie verstummte unmittelbar nach dem Abgehen des Dieners. Gleich darauf hörte er Türen klappen, und die Baronin erschien an der Schwelle des an den Salon anstoßenden Raumes. »Ach, da sind Sie!« rief sie mit ihrer gewöhnlichen hohen Kopfstimme, die kaum den Silberton ihrer Singstimme ahnen ließ, ziemlich erstaunt: »Der Heldenspieler hat doch den Auftrag gehabt, Sie durchs Speisezimmer zu mir zu führen!« Und, indem sie ihren Gast in das angrenzende, von ihr selbst gewöhnlich als Mausefalle bezeichnete kleine Zimmer zog, fügte sie in ihrer munteren Art zu seiner Aufklärung hinzu: »Der Heldenspieler, das ist nämlich unser alter Diener!«

Doktor Höfer trat, gegen seine Art lächelnd, ein in einen Raum, der selbst zu lächeln schien. Ein spinettartiges Klavier, auf dessen Pult aufgeschlagen die Partitur der Oper »Manon« lag, ein Rokokoschreibtischchen und zwei um ein Chodowieckisofa aufgestellte ebensolche Fauteuils ergaben zusammen ein Zimmerbild in der heiteren und galanten Art des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts, in welchem Zeitalter die bevorzugte Wiener Gesellschaft noch immer lebt.

Die Baronin begann die Unterhaltung damit, daß sie ihrem Revolutionsgefährten die liebenswürdigsten Vorwürfe machte, weil er sie unlängst auf der Straße nicht erkannt hatte. Doktor Höfer entschuldigte sich, nach Männerart, mit einem ihn befremdenden Hut; aber sie ließ diese Entschuldigung nicht gelten. »Sie haben ja auch einen Hut statt einer Kappe aufgehabt und waren noch dazu in Zivil. Ich hab' Sie aber trotzdem gleich erkannt!« rief sie lustig.

Eine Türe öffnete sich lautlos, und der Heldenspieler schob vorsichtig, wie eine Wiege mit einem schlafenden Säugling, einen auf Räder gestellten Teetisch herein.

Sie sprang auf und bediente ihren Gast stehend, mit geschickten Händen und gewandten Bewegungen. Das blausilberne Teekleid, an das sich nach unten zartblaue Strümpfe und silberne Schuhe anschlossen, paßte vortrefflich zu dem blitzenden Teesilber und den emailblauen Tassen.

»Zucker oder Zitrone?« fragte sie den vor ihr Sitzenden in dem ungefähren Ton, in dem man einen etwas unaufmerksamen Schüler etwas fragt.

»Ungesüßt und mit Zitrone, wenn ich bitten darf!« erwiderte er ohne Verlegenheit. Selbst diese unbedeutende Bemerkung machte sie lachen: »Genau wie Ihr Freund, der Teekoster!« rief sie: »Sie haben denselben Geschmack!«

»Der Teekoster?« fragte Doktor Höfer, die Tasse übernehmend: »Wer ist das?«

Die Baronin schlug, sich in ihrer ganzen Länge emporrichtend, die freigewordenen Hände zusammen:

»Sie wissen nicht, daß Ihr Freund Weidenau in ganz Wien der Teekoster heißt? Ja, woher kommen Sie?«

»Aus Wolhynien!« gab er einfach zurück. Sie lachte neuerlich, diesmal aber in einer Art kindlicher Beschämung, und sagte ungezwungen:

»Ich bin eine Gans!«

Höfer bat sie belustigt, ihm die Bedeutung des Spitznamens, der ihm ganz unverständlich war, zu erklären.

Sie zögerte einen Augenblick, dann sagte sie mit Entschiedenheit:

»Na, ich denk' mir halt, er heißt so, weil er so viel zu hübschen Frauen Tee trinken geht. Aber bestimmt weiß ich das natürlich nicht!« fügte sie, die Augen schließend, schalkhaft hinzu.

Wieder lächelte Höfer, diesmal auch über seinen Freund. »Also darum«, sagte er, »haben Sie ihm diesen Spitznamen verliehen!«

»Nicht ich«, beteuerte sie, mit einem ernsten Gesicht. Ausgelassen fügte sie hinzu:

»Ausnahmsweise!«

Tatsächlich hatte die Baronin Lodersdorf, wie Höfer alsbald aus ihrem eigenen Munde erfuhr, eine stadtbekannte Vorliebe für witzige Spitz- und Übernamen. Alles und jedes führte bei ihr einen solchen: ihr kleines Zimmer hieß »die Mausefalle«, der theatralische Kammerdiener »der Heldenspieler«, Exzellenz Hittmanneck »die gestrickte Mumie«, das hellblaue Teekleid mit den Silberborten »der Jungfernsarg«. Auch hatte sie eine »Tante Simili«, die Maximiliane hieß und außerdem gern falschen Schmuck trug, einen Onkel »Goldbergwerk«, weil er einen Mund voll goldener Zähne hatte, und einen »Onkel Blutdruck«. Doktor Höfer mußte sich an diese zweideutige Terminologie erst gewöhnen, die soeben unter seinen Augen eine Ergänzung erfuhr, als sie, dem Diener klingelnd, diesem befahl, das »Tabernakel« zu entzünden und das »Weihrauchfaß« hinauszutragen. Dieses war die Karbidlampe, jener eine opferstockartige dicke Wachskerze, die in einem solennen Barockleuchter neben dem Klavier stand und, von dem Heldenspieler feierlich entflammt, alsbald das angenehmste Licht in dem wohlbeheizten kleinen Raum verbreitete.

»Sie wünschen eine juristische Auskunft von mir?« begann, nachdem der Diener zum zweiten Male abgegangen war, Doktor Höfer, sich räuspernd.

»Ja«, sagte sie, »aber das kommt erst später! Jetzt müssen Sie mir vor allem erzählen, wie es Ihnen ergangen ist seit der Schlacht im Rathauspark.« Und sie stellte allerhand Fragen, zuweilen auch, ohne die Antwort abzuwarten: ob er immer noch in dem Hotel mit dem »morgenroten« Titel wohne, ob er auch tanzen gehe, wie alle Herrn in diesem Winter, und plötzlich, ohne rechten Übergang, ob er auch Staatsanwalt gewesen sei, sie stelle sich ihn immer nur als Staatsanwalt vor. »Ja«, erwiderte Doktor Höfer, das wäre er wohl auch gewesen, eine Zeitlang, vor dem Kriege; aber zuletzt hätte er in Czernowitz einen Ehesenat geleitet; der Hofrat, der die Zuteilung der Prozeßakten verfügte, hätte ihn für einen Spezialisten auf diesem Gebiet erklärt.

»Sie wissen, daß ich geschieden bin!« sagte die Baronin, die aufmerksam zugehört hatte, und ihr schönes, klares Gesicht wurde plötzlich ernst.

»Ich bin es auch«, sagte Doktor Höfer. »Wahrscheinlich bin ich deshalb Spezialist geworden. – Unvereinbarkeit der Charaktere«, fügte er hinzu, um seine Frau zu decken, obwohl es diesen Scheidungsgrund im Gesetz eigentlich gar nicht gab.

»Das war wohl auch bei uns der Fall«, versetzte die Baronin, und ihre lichten Brauen rückten einen Augenblick lang etwas näher zusammen. »Aber dann sind andere, gewichtigere Gründe dazugekommen, und so hab' ich mich entschlossen, reinen Tisch zu machen. Ich hab' meine drei Buben zusammengepackt und bin hierher übergesiedelt. Wenigstens bin ich frei und kann machen, was ich will.«

Doktor Höfer nahm diese lebenslustige Erklärung mit richterlichem Ernst entgegen: »Nach dem neuen Ehegesetz der Republik werden Sie sogar wieder heiraten können«, belehrte er sie.

Sie schien dazu vorläufig wenig Lust zu haben, nach einer halbunterdrückten Gebärde zu schließen. Dann sagte sie, die Beine kreuzend und eine Zigarette anzündend:

»Übrigens, alles was wahr ist: Das neue Gesetz erscheint mir sehr vernünftig und notwendig. Schad', daß es von den Sozialisten eingebracht ist!«

»Aber wenn es doch vernünftig und notwendig ist!«

Wieder flog es wie ein leichter Schatten über ihre noch mädchenglatte Stirn. Sie hob und schüttelte den von dunkelblondem Haar umrahmten, im Verhältnis zu ihrer Größe kleinen Kopf und sagte ablehnend:

»Sie haben den armen Kaiser aus Schönbrunn vertrieben, und jetzt wollen sie ihn auch noch aus dem Land treiben. Was hat er getan? Er hat den Frieden wollen.«

Sie, das waren die bösen Sozialisten, die an allem schuld waren. Und sie schloß:

»Ich weiß, wie ich zu wählen habe!«

»Sie werden wählen, Frau Baronin?« verwunderte sich, mit einem Blick auf das unernste Teekleid, der Gast.

»Selbstverständlich!« erklärte sie: »Ich werde zur Urne schreiten. Ich, die Bürgerin Lodersdorf! Wollen Sie mithalten, Bürger Höfer? Wir sind schon eine ganze kleine Gesellschaft. Rendezvous elf Uhr vormittags beim Borromäusbrunnen. Halten Sie mit!«

Eine längere Pause entstand, schließlich sagte der Richter, in seinem Tee rührend:

»Ich habe vielleicht nicht dieselben politischen Ansichten wie die anderen Teilnehmer Ihrer Gesellschaft!«

Sie schaute ihn klug und offen an, mit ihren starkblickenden heiteren Augen unter der schöngebogenen, frauenhaften Stirn: »Glauben Sie nicht, Herr Doktor, daß unsere Ansichten oft nur eine Folge unserer Erfahrungen sind?«

»Möglich«, sagte er bedächtig: »Wahrscheinlich! Ich bin jedenfalls zu alt, um die meinigen von heut auf morgen zu ändern.«

»Wie alt sind Sie denn eigentlich schon?« und sie schaute aufmerksam, als hätte er erst jetzt begonnen, sie zu interessieren, in sein im Sitzen etwas vorgebeugtes, langzügiges Gesicht, das ein Zug bitteren Stolzes zeichnete.

»Dreiundvierzig, Frau Baronin!«

»Da bin ich älter als Sie – als Frau nämlich! Ich werd' im Frühjahr vierunddreißig. Mein Ältester ist vierzehn.«

Er nahm diese offenherzige Mitteilung lächelnd, mit einer leichten Verbeugung, zur Kenntnis und unterließ es, ein naheliegendes Kompliment daran zu knüpfen. Sie schien ihn zu erraten; denn sie sagte nach einer kleinen Pause:

»Nett, daß Sie jetzt nichts gesagt haben!«

Dann, die Stellung ändernd, setzte sie in einem anderen, ernsteren Tone fort:

»Aber wenn Sie wirklich so gut sein wollen, mir Ihren juristischen Rat zu geben –«

Und sie explizierte sich, klar und deutlich, ohne frauenhafte Unsicherheit oder Beiläufigkeit.

Die Sache war die, daß ihre drei Buben einen Alimentationsanspruch an ihren Vater, den von ihr geschiedenen Baron Lodersdorf, hatten, der durch eine Hypothek auf das ganze Gut des Barons oder durch Abtretung eines Teils sichergestellt werden sollte. Da aber das Gut jenseits der zu gewärtigenden polnischen Grenze lag, ergaben sich zwei Gefahren: im Falle der Abtretung die Gefahr der Sozialisierung des polnischen Latifundienbesitzes, im Falle der hypothekarischen Einverleibung die noch größere einer zunehmenden Entwertung der Geldeinheit. Ob man hier nicht vorbeugen könne durch Eintragung der Hypothek in einer wertbeständigen Valuta, etwa in Schweizer Franken? fragte die Baronin.

Was diese Frage betraf, so konnte Höfer sie ohne weiteres mit Nein beantworten: bezüglich der in Polen, wie allenthalben, bestehenden Sozialisierungsbestrebungen versprach er sich bei dem ihm befreundeten Landesgerichtsrat Gromann in Lemberg, in dessen Obhut er auch seinen Talar gelassen hatte, des näheren zu erkundigen und der Baronin darüber zu berichten. Das, schien es, war, was sie wünschte, denn sie sagte lebhaft: »Ja, bitte, berichten Sie mir möglichst bald darüber!« Und gewohnt, allem eine heitere Wendung zu geben, setzte sie, auf die neben dem Klavier schwelende Kirchenkerze deutend, hinzu: »Aber lassen Sie sich nicht zu lange Zeit! Sie sehen, es ist nicht mehr viel von meiner Kerze übrig. Und hie und da kommt ja doch noch jemand zu mir auf Besuch!«


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