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Bedenkliche Erkundigung

Während Mira und Christoph einander solcherart immer näherrückten, weilten die Baronin Lodersdorf und Doktor Höfer in weiter Entfernung von einander auf dem Land, und Baron Weidenau, seines freundschaftlichen Umgangs beraubt, gab sich, sei es aus Verzweiflung, sei es aus anderen Gründen, immer mehr einer Lebensweise hin, die die gute Wabi mit einem fast ununterbrochenen, kirchenglockenähnlichen Kopfschütteln begleiten mußte.

Es ereignete sich nämlich in diesen letzten, schlechtgelaunten Monaten des zu Ende gehenden dritten und beginnenden vierten Jahres der Republik immer häufiger, daß der ehemalige Teekoster in den der Frau Österreicher abgemieteten Räumlichkeiten des ehrbaren Biedermeierhauses Besuche empfing – Besuche, die man beim besten Willen nicht anders denn als Damenbesuche bezeichnen konnte. Ja, es kamen, gewöhnlich um die Teezeit, die er in einer merkwürdigen Umkehrung früherer Verhältnisse jetzt fast regelmäßig zu Hause verbrachte, Damen zu ihm auf Besuch oder, wie er sich der Frau Österreicher gegenüber etwas verlegen ausdrückte, in die Ordination, und noch dazu was für Damen: Damen mit gefärbten Bubiköpfen, Damen, die so stark parfümiert waren, daß man hinter ihnen die Fenster aufreißen mußte, um nicht in Ohnmacht zu fallen, Damen mit erweiterten Pupillen, Damen in sündhaft schönen Pelzen, Damen mit Nachtlokalallüren, Damen, die keinen Namen nannten, aber im eigenen Automobil vorfuhren, das sie warten ließen, und wenn sie fortgingen, der Wabi ein großes Trinkgeld in tschechoslowakischer, ja sogar in amerikanischer Dollarwährung zurückließen … Was der Baron mit diesen Damen, die oft über eine Stunde lang bei ihm verblieben, machte, war der Wabi rätselhaft; aber sie ahnte Böses, als sie einmal, gegen das ausdrückliche Verbot, in das glücklicherweise unversperrte Zimmer des Freiherrn eintrat und diesen dicht bei der auf dem Diwan ausgestreckten Schönen sah.

Am selben Abend, als sie ihm das Nachtessen auftrug, sagte der Baron zu dem alten Hausmöbel, das in den Dienst bei seiner Mutter eingetreten war, als er noch ein Kind war:

»Machen Sie kein so beleidigtes Gesicht, Wabi. Das, was Sie heut zu sehen bekommen haben, war einfach eine ›Übertragung‹. So nennt man das nämlich in der Psychoanalyse. Und bei einer solchen ›Übertragung‹ kommt's eben vor, vielmehr es ist sogar notwendig, daß sich zwischen dem Behandelnden und der Behandelten eine Beziehung entwickelt, die so ausschaut wie eine andere Beziehung … Verstehen Sie? Der große Professor Freud erwähnt sogar einmal in seinem Buch, daß ihm eine Patientin während der Behandlung plötzlich die Arme um den Hals geschlungen hat! Aber das war natürlich nur ein Kurerfolg! Verstehen Sie?«

Die gute Wabi verstand mitnichten; ihr einfältiges Gemüt konnte nicht begreifen, wie dabei etwas Gutes herauskommen könne, wenn auf dem Sofa des gnädigen Herrn immer andere Weibsbilder lagen und ihm unter Umständen sogar die Arme um den Hals schlangen. Zwar fand sie sich mit diesen neuen Tatsachen nach Weidenaus Erklärung so weit ab, daß sie ihm nicht geradezu den Dienst aufsagte, was zu tun sie eigentlich schon halb entschlossen gewesen war. Aber geheuer dünkte ihr die Sache nicht, und das eine war jedenfalls sicher, daß der gnädige Herr durch diese magnetischen Experimente, oder wie immer man es nennen mochte, in eine höchst fragwürdige Gesellschaft geriet. Es war auch schon über sechs Monate her, genau so lang, wie die schöne Frau Baronin Lodersdorf auf dem Lande war, daß ihn die Frau Fürstin Albertine nicht mehr eingeladen hatte!

Weidenau schien sich dies weniger zu Herzen zu nehmen als seine ehrgeizige Haushälterin. Er gab sich, in Abwesenheit der einzigen Frau, die ihn noch interessierte, sogar mit einer Art Wollust seinem neuen Berufe hin, der darin bestand, daß er plötzlich reich gewordene oder sonst depravierte müßige Frauen von ihren »eingeklemmten Affekten« befreite, während er selbst, nach wie vor, mit der ihn quälenden seelischen Einklemmung nicht fertig zu werden vermochte.

 

Was dem schwer mit seinem Lebensdämon ringenden Manne nebst anderen, mehr oder weniger begründeten Hypochondrien in der letzten Zeit zu schaffen machte, war der Umstand, daß die Baronin Lodersdorf einen Tag, nachdem Doktor Höfer aus Gloggnitz zurückgekehrt war, wieder in Wien eintraf. Weidenau konnte das beim besten Willen für keinen Zufall halten. Wenn es aber kein Zufall war, was war es?

Zunächst ging für den analytischen Verstand des Barons eins klar aus diesem Zusammentreffen hervor: daß die beiden in ununterbrochener Verbindung miteinander gestanden hatten, wofür übrigens auch der Umstand sprach, daß die Baronin, wie Weidenau unter der Hand erfuhr, im Verlauf des Sommers einige Tage nachweisbar auf dem Semmering verbracht hatte. Der Semmering gehörte zum Amtssprengel des Bezirksgerichts Gloggnitz, man konnte ganz gut, wenn man dort stationiert war, über einen Tag hinauffahren oder aber, etwa an einem Samstag, die Sache so einrichten, daß man oben über die Nacht blieb. Und besonders diese zweite Möglichkeit, die die angenehmsten und unangenehmsten Nebenvorstellungen im Bewußtsein des Analysators weckte – »Was fällt Ihnen dazu ein?« war die ständige Frage, die er selbst immer an seine Patienten richtete –, beschäftigte ihn nachdrücklich. Er hätte für sein Leben gern Näheres darüber erfahren.

In dieser Absicht, aber auch, um den Freund wiederzusehen, suchte Weidenau Höfer in seinem kleinen Hotel auf, das neu hergerichtet und vergrößert, diesmal einen besseren Eindruck auf ihn machte. Er traf ihn nicht zu Hause und hinterließ einen Zettel, auf dem er ihn zu einer Schachpartie einlud. Während er in dieser Absicht ein paar Worte auf dem Tisch des Pförtners niederschrieb, wurde dieser ans Telefon gerufen. »Nein«, hörte Weidenau ihn sagen, »der Herr Doktor Höfer ist nicht zu Hause«; und ohne daß er einen anderen Anhaltspunkt dafür gehabt hätte, bildete der Baron sich ein, daß es die Baronin Lodersdorf gewesen war, die angerufen hatte. Um dies allenfalls festzustellen, klingelte er selbst gleich darauf bei der Baronin an; erleichtert erfuhr er, daß sie gar nicht zu Hause wäre. Aber im nächsten Augenblick ging ihm durch den Kopf, daß sie ja vielleicht auch von anderswo telefoniert haben könnte, was um so schlimmer gewesen wäre. Hatte doch auch Lora Plank ihn, Weidenau, meistens von ihrem Friseur oder Schneider aus angerufen.

So büßte Weidenau für seine alten Sünden; und dabei machte er immer neue, ergänzende Erfahrungen.

Einer seiner Lieblingsaussprüche war, daß man, was in einem Verhältnis seitens des anderen Teils eigentlich gemeint gewesen wäre, immer erst an der Person des Nachfolgers erkenne. »Beim Nachfolger kommt es heraus!« pflegte er zu sagen, und wie um diesen Satz zu erhärten, fügte es sich, daß er eines Tages in einer und derselben Stunde zweien seiner ehemaligen Freundinnen in der Ringstraßenallee begegnete.

Die erste war Lora, die sich bei dem klaren Winterwetter in Begleitung des Grafen Trau in dem neueröffneten Kaisergarten, jetzt Garten der Republik, erging. Die beiden machten dem Baron nicht den Eindruck, als ob sie Gesellschaft suchten, weshalb er mit einem vielleicht etwas übertrieben respektvollen Gruß an seiner alten Freundin vorüber wollte; allein sie nickte so lebhaft und lächelte so stehenbleiberisch, daß er schließlich doch abschwenkte, um ihr die Hand zu küssen; auch erkundigte er sich artig nach dem Befinden seines Nachfolgers. Der Graf Trau nahm die Frage ernst und verbreitete sich weitläufig über seine Zustände, während Weidenau, ohne ihm zuzuhören, Lora betrachtete, die, wie fast alle Frauen seiner Bekanntschaft, jünger aussah als vor fünf Jahren. Sie war sehr schick gekleidet, in einen modischen Affenpelz, und überstark parfümiert, aber mit einem anderen Parfüm als vor fünf Jahren; im übrigen war sie ganz unverändert. Ihr hübsches lügenhaftes Gesicht, von dem man freilich zwischen dem aufwärts sich sträubenden Pelzkragen und dem tief in die Stirn gedrückten braunroten Haarschopf kaum eine Handbreit zu sehen bekam, war einladend jung geblieben und strahlte vor Genugtuung. Offenbar sehr stolz auf ihren Begleiter, der unter Leuten, die die Republik haßten, noch immer für einen Politiker galt, wenn auch nicht für einen ernstzunehmenden, brachte sie die Gefühle, die sie beseelten, zum Ausdruck, indem sie, auf Trau deutend, mit einem listigen Lächeln zu Weidenau sagte: »Der Graf kommt von Prangins!« Dann aber, während »Trau-Schau-Wem« eine seiner verschlagen-diskreten Gebärden machte, wechselte sie, augenscheinlich, um einen so hervorragenden Politiker nicht zu verfrühten Äußerungen zu verleiten, rasch das Thema und begann Weidenau allerliebste Vorwürfe zu machen, weil er sich so selten bei ihr sehen lasse. »Sie sind mir untreu geworden!« schalt sie, und obwohl das wahr war, klang es aus ihrem Munde wie eine pikante Lüge. Denn sie blinzelte dabei zu Trau hinüber, der so tat, als ob er nicht verstünde, aber recht wohl verstand. Weidenau fühlte sich diesem Doppelspiel entwachsen. Nichtsdestoweniger, als Lora, ihm zum Abschied mehr den Handschuh als die Hand reichend, die kurze Wiederbegegnung mit den Worten abschloß: »Sagen Sie sich doch nächstens wieder einmal zum Tee bei mir an, Baron Erni!«, versprach er es ihr gutwillig. Nur im Weitergehen fühlte er sich in seinem Selbstgefühl ein wenig erschüttert. Gab er sich doch keiner Täuschung hin über das, was Soulalamp mit dieser sogenannten Einladung eigentlich bezweckte. Sie war mit Trau-Schau-Wem sehr gut und wollte zeigen, daß auch noch »jemand anderer« zu ihr zum Tee kam. Dazu ließ sich der ci-devant Teekoster bestens verwenden; wie man ja auch, dachte Weidenau, die Reste eines alten Pelzmantels noch immer zur Garnierung eines neuen Hauskleides verwenden kann. Und er nahm sich vor, diesen, wie ihm schien, treffenden Vergleich nächstens bei der Baronin Lodersdorf zum besten zu geben, die darüber lachen würde.

Eine halbe Stunde später, auf dem Rückweg, traf er, dicht vor dem Hotel Bristol, mit Daria zusammen, die, in Gesellschaft eines hochaufgeschossenen jungen Mannes von etwas baufälliger Haltung, eben aus der Drehtüre des Hotels trat. Sie grüßte mit ihrem langsam aufblühenden schimmernden Zigeunerlächeln, blieb stehen, sprach ein paar Worte zu ihrem Begleiter, der schülerhaft nickte, und führte ihn dann, wie ein Kind, an der Hand über den Fahrweg herüber, um ihn mit dem ihr in der Allee entgegenkommenden Weidenau bekannt zu machen. »Mein Mann, der Generaldirektor!« sagte sie, von einem Fuß auf der anderen tretend und indem sie mit einer Mischung von kluger Ironie und mütterlichem Stolz auf den höchstens Vierundzwanzigjährigen deutete, der seinerseits mit der Geringschätzung der Jugend auf Weidenau herabsah. Der Baron drückte ihm die Hand und fragte dann, ohne bei Darias Verheiratung zu verweilen, auf französisch, weil er wußte, daß sie diese Sprache bevorzugte: seit wann sie wieder in Wien wäre. Aber Daria antwortete auf deutsch, mit der Begründung, daß ihr Gatte nicht Französisch spreche; und nachdem sie dem Generaldirektor dieserhalb einen kleinen gouvernantenhaften Verweis erteilt hatte – »il est assez paresseux, savez-vous!« –, gab sie bereitwillig Auskunft: Sie wären erst tags zuvor eingetroffen, aus Lemberg, wo ihr Mann ein großes Geschäft leite. »Übrigens«, fügte sie hinzu, »hätte ich Sie, Baron, heute nachmittag angerufen!« Der Teekoster verbeugte sich geschmeichelt, aber, wie sich herausstellte, auch diesmal wieder ohne triftigen Grund, denn Daria fuhr schonungslos fort: »Ich wollte mich nämlich bei Ihnen nach der Adresse Ihres Freundes Doktor Höfer erkundigen. Ist er noch in Gloggnitz oder wieder in Wien? Ein guter Bekannter, Rat Gromann, hat mir ein Paket für ihn mitgegeben, das er der Post nicht anvertrauen wollte. Es ist sein Talar.«

Weidenau machte sich erbötig, Höfer zu verständigen, gab aber Daria für alle Fälle auch seine eigene Telefonnummer, die sich verändert hatte. Daria wiederholte sie auf französisch. Dann wandte sie sich an ihren Mann und bat ihn, die Nummer in seinem Notizbuch zu vermerken. Allein es stellte sich heraus, daß der Generaldirektor keinen Bleistift bei sich hatte, weshalb ihm der Baron seinen eigenen leihen mußte. Es war Darias Geschenk, das sie ihm jetzt völlig gedankenlos aus der Hand nahm, indem sie gleichzeitig ihrem Gatten wegen seiner Nachlässigkeit einen halb humoristischen Verweis erteilte: »Un homme sérieux doit avoir son crayon. Où l'as tu donc laissé?« fragte sie gutmütig aufgebracht und, zu Weidenau gewendet: »Il est si oublieux, savez vous!« Dann entfernte sie sich, und noch im Weitergehen hörte sie Weidenau mit ihrer etwas gutturalen Stimme liebevoll zanken: »Tenez vous droit …« Ob er auch so viel Strindberg und Ibsen lesen muß wie ich? dachte der Teekoster, den beiden nachblickend.

Nachher, auf dem Heimweg, machte er die Nutzanwendung auf seine Theorie vom Nachfolger: Daria hatte einen Mann gesucht, den sie erziehen konnte, und Lora ein Adelsprädikat für ihren jardin secret. Die eine war eine Gouvernante, die andere ein Snob.

Aber »die dritte – ach! die dritte!« – was hatte sie von ihm gewollt? Und was wollte er von ihr? Was konnte, was durfte er noch von ihr wollen?

 

Die Schachpartie kam zustande, und wieder einmal war es dem Weibersüchtigen gegönnt, sich in einem längeren Beisammensein an Höfers männlichem Bariton zu erbauen.

Die erste Partie verlor der Baron. Er machte einen schweren Leichtsinnsfehler im Anfang, der sich später trotz aller Geschicklichkeit rächte – sein gewöhnliches Schicksal.

Bei der zweiten Partie, die sich günstig anließ, stellte er einen Turm ein, bloß weil Höfer, während er über einen Zug nachdachte, einen kleinen silbernen Taschenblei hervorzog, den Weidenau noch nie bei ihm gesehen hatte. Von wem hatte er ihn? fragte sich der Freiherr und vergaß, den Turm zu decken.

Überhaupt fragte sich der vielerfahrene Mann seit einiger Zeit wiederholt, ob er sich nicht über etwas den Kopf zerbreche, was hinter seinem Rücken längst entschieden war. Doktor Höfer wurde in jedem Augenblick bei, mit und neben der Baronin Lodersdorf gesehen. Man erblickte die beiden nicht anders als einstmals Weidenau und Lora, wie sie zusammen aus einem Museum herauskamen oder aus dem Stadtpark – wenn auch nicht bei Nacht; man traf Höfer bei der Baronin, wenn sie Gesellschaft hatte, aber auch, wenn sie allein war. Man bemerkte sie in der Oper, in Konzerten. Er las ihre Bücher, sie spielte aus seinen Noten, und wenn sie ihre Arien sang, begleitete er sie am Klavier. Was fehlte noch? fragte sich der Teekoster bekümmert. Und wodurch unterscheidet sich diese Beziehung von anderen, die sich nach außen hin durch nichts von ihr unterscheiden? Und doch –! … Aber während Weidenau sich an diese Gedankengänge verlor, war er bereits zum zweiten Male matt.

Beim dritten Gang beschloß er, sich zusammenzunehmen. Er stellte seine Figuren mannhaft auf und fragte dazwischen den in gleicher Weise beschäftigten Freund mit einer Unauffälligkeit, die zum psychoanalytischen Handwerk gehört:

»War's nicht eigentlich sehr fad in Gloggnitz? Oder bist du manchmal auf den Semmering gefahren?«

»Ein einziges Mal!« erwiderte Höfer. »Für ein paar Tage!«

»Ah! Wirklich? – Wann denn?« Und die Königin fand zitternd auf ihren Platz.

Dann, während Weidenau, die Hand vor den Augen, eine neue, besonders hinterhältige Eröffnung versuchte, die sizilianische, gab Doktor Höfer, ganz nach der Schnur den Mittelbauer aufziehend, ohne Rückhalt Auskunft: Eine Feilbietung wäre mit einem Kellnerstreik auf dem Semmering zusammengetroffen, dessen gerichtliche Schlichtung auch Erhebungen an Ort und Stelle erforderten, und, um beides in einem abzumachen, wäre er damals gleich drei Tage oben geblieben. Einer dieser drei Tage wäre ein Sonntag gewesen, den er zu einem Ausflug benützt hätte.

Weidenau hörte mit Interesse zu. Er spielte tückisch auf sizilianisch weiter und fragte nach dem nächsten Zug:

»Der Kellnerstreik – war das nicht im August?«

»Nein, im Juni«, antwortete gleichmütig Doktor Höfer. »Übrigens ist da der Semmering am schönsten. Die hellgrünen Spitzen im Fichtenwald, weißt du, und dann die wunderbare Einsamkeit …«

Diesmal spielte Weidenau bedeutend besser und brachte es auf Remis. Er bot dem Freunde eine Meisterpartie an, der aber lehnte ab. Er fühle sich ermüdet, und außerdem wolle er auf dem Rückweg auch noch den Talar abholen; gar zu spät könne er die ihm fremde Dame nicht gut im Hotel aufsuchen.

Aufstehend blickte er auf die Uhr und fügte hinzu:

»Würdest du es glauben, daß ich mich nach meinem Talar geradezu sehne

»Das find' ich sehr begreiflich«, sagte Weidenau artig, »aber wie hast du eigentlich in Gloggnitz judiziert? Ohne Talar –?«

»Im Außerstreitigen braucht man keinen. Und bei einer etwaigen Vertretung hat mir der betreffende Kollege den seinen geliehen. Talar ist Talar.«

»Dann wundert's mich nur, daß du so besonderen Wert darauf legst, den deinen zurückzubekommen.«

»Ja, es ist merkwürdig«, erwiderte Höfer, nachdenklich das Zimmer durchschreitend. »Aber es ist wie eine Art Aberglauben … Ich habe in der letzten Zeit das Gefühl, daß ich direkt in meinen alten Talar zurückschlüpfen muß, um mir über manches in meinem Leben klar zu werden – das heißt, um damit in irgendeiner Form fertig zu werden. Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll …«

»Das ist gar nicht mehr notwendig«, sagte der geübte Psychoanalytiker, seinen Freund zur Gangtüre hinausbegleitend. »Ich kann mir's schon ganz gut vorstellen. Es ist eine Art Symbol …« Und indem er die kühle Hand des Richters in seine wärmeren Hände nahm:

»Apropos! Siehst du die Baronin Lodersdorf manchmal?«

»Hin und wieder«, antwortete Doktor Höfer, ohne nachzudenken. »Hast du sie denn nicht gesehen?«

»Nein, leider noch nicht.«

»Sie hat jetzt ihren dritten Buben auch in Kalksburg.«

»Ah! Da ist sie ja ganz allein in Wien.«

»Augenblicklich. Zu Weihnachten kommt aber ihre Mutter.«

Eine Pause entstand, dann sagte der Baron:

»Du weißt jedenfalls, daß der Baron Lodersdorf wieder geheiratet hat!«

»Was du nicht sagst! Ich habe keine Ahnung!«

Und um Näheres über diese Heirat zu erfahren, kehrte Doktor Höfer, den Hut in der Hand, noch einmal, zur Verwunderung der guten Wabi, in das Zimmer des Barons zurück.

Weidenau erzählte vergnügt die Geschichte der zweiten Ehe des Barons Lodersdorf, die dazu geschaffen schien, von ihm beim Tee erzählt zu werden.

»Also stell' dir vor, der gute Lodersdorf – du weißt, daß er vor zwei Jahren nach Amerika gegangen ist lernt drüben in der neuen Welt eine bildschöne, reiche junge Amerikanerin kennen, Tochter eines sogenannten Ölkönigs. Österreichische Barone machen im Vaterland der Demokratie noch immer einen gewissen Eindruck, ein eleganter Bursch ist er von jeher, der Lodersdorf, sieht famos aus noch immer, – also kurz und gut, die schöne Amerikanerin fängt Feuer, sie verlobt sich mit ihm, und er fährt nach Europa herüber, um sich nach dem reformierten Ehegesetz der Republik die sogenannte Dispens zum Abschluß einer zweiten Ehe zu verschaffen. Er erhält die Dispens und tritt, dieses Schriftstück in der Tasche, die Rückreise nach Amerika an, von der zärtlichen Braut sozusagen am Landungssteg erwartet. Indessen, während der Rückfahrt, lernt er eine andere junge Amerikanerin kennen, gleichfalls bildschön und die Tochter eines Ölkönigs, wie Nummer eins. Der Lodersdorf verdreht ihr den Kopf, aber sie stellt Bedingungen, die zu erfüllen er glücklicherweise in der Lage ist. Hat er doch den Permeß bei sich, und da er nicht auf Namen lautet, sondern mehr wie ein Inhaberpapier ausgestellt ist, kann er ihn ebensogut für die Ölkönigin Nummer zwei verwenden. Mit einem Wort: er verlobt sich mit ihr am vorletzten Tag der Überfahrt, und da sie drüben ankommen, erfährt die Ölkönigin A von der Ölkönigin B, was es Neues gibt. Sie führt einen Prozeß, verliert ihn, und der Lustspielvorhang senkt sich über einem glücklich verbundenen Paar. ›Öl und Adel oder: Die Sever-Ehe‹ schlag ich als Titel vor.«

Aber Doktor Höfer blieb ganz ernst bei den leichtsinnigen Ausführungen seines Freundes: »Merkwürdig« sagte er, »daß mir die Baronin nichts davon gesagt hat.« Dann raffte er sich auf und verabschiedete sich endgültig von Weidenau mit den Worten:

»Jetzt hol' ich mir aber wirklich meinen Talar!«

 

Weidenau ließ nicht locker; und, um noch mehr zu erkunden, machte er, ein paar Tage später, der Baronin Lodersdorf einen Besuch, was ihm keine besondere Überwindung kostete. »Wenn Damen kommen sollten – ich ordinier' heut nicht!« sagte er fröhlich, bevor er wegging, zu seiner guten Wabi, deren Klatschrosengesicht über dieser Mitteilung vor Freude glänzte.

Bei der Baronin übergab er zunächst dem Heldenspieler die Erinnerungen des Fürsten Krapotkin, für die Tinett Lodersdorf vor einem halben Jahr im Gespräch Interesse bekundet hatte, und bat ihn, ihr das Buch aufs Nachtkästchen zu legen. Sie sollte, wenn sie ihr Schlafzimmer betrat, sehen, daß er sich daran erinnert hatte. Doch wünschte er ihren Dank zu vermeiden; vielmehr, er wünschte sich ihn telefonisch. Auch er war ein Politiker, wenn auch nicht wie der Graf Trau.

Dann, als er angemeldet eintrat, fand er die Mausefalle besetzt. Mira saß der Baronin gegenüber an einem zum Fenster gerückten Tisch, der mit Gerätschaften bedeckt war; sie unterwies die ältere Freundin eben in der Kunst, aus Glasstaubpapier Myrtenzweige und Diademe zu biegen, und die Baronin, mit einer großen Wirtschaftsschürze angetan, lernte mit glühenden Wangen. Sie schien augenblicklich für nichts anderes Interesse zu haben.

Weidenau setzte sich zwischen die beiden Damen auf den lehnenlosen Klaviersessel, der für hoffnungslose Verehrer bestimmt war, und wartete, bis Mira fortgehen würde. Aber während sie damals in gleicher Lage vor Doktor Höfer die Flucht ergriffen hatte und nicht zu halten gewesen war, schien sie diesmal keine besondere Eile zu haben, ihre Freundin allein zu lassen. Sie fühlte sich augenscheinlich ganz wohl in der Gesellschaft des Teekosters, den sie, als er wegschaute, mit gespitztem Mund aus dem Augenwinkel, ein Lächeln unterdrückend, von der Seite betrachtete.

Der Baron sah, unterm Reden, seine Freundin an. Er fand sie schön, wohlaussehend und lustig, wie immer. Vielleicht war sie über den Sommer etwas schlanker geworden und ihre Haltung noch gestraffter, noch sprungbereiter.

Wie alt ist sie jetzt? fragte er sich selbst: Fünfunddreißig, sechsunddreißig? Sie nähert sich jedenfalls immer mehr dem auch für andere gefährlichen Alter.

Laut sagte er:

»Also Sie machen jetzt Diademe, verehrte Freundin?«

»Und Myrtenzweige, Baron Erni. Ganz besonders Myrtenzweige!« Sie wechselte einen lachenden Blick mit Mira, die der Myrtenzweig offenbar näher anging, und fuhr dann, die Schere schwingend, heiter fort:

»Was soll ich sonst machen, eine alleinstehende Dame? Eine alleinstehende Dame muß sich doch beschäftigen!« Und sie blickte ihn mit ihren funkelnden Achataugen zwischen den spitzwinklig auseinanderklaffenden Scherengliedern munter an.

»Sie wissen doch, daß ich eine alleinstehende Dame geworden bin, Bürger Weidenau?«

»Ich weiß, Bürgerin Lodersdorf!« Und er dachte dabei an die Einschulung ihres Jüngsten, aber auch an die Wiederverheiratung des Barons, die sie nicht unglücklicher zu machen schien als die Scheidung.

Aber schon wechselte sie das Thema:

»Und Sie? Warum waren Sie denn diesen Sommer nicht in Groslowitz? Ich besuch' Sie eigens, und Sie sind nicht zu Hause.«

»Sie haben mich besucht? Aber nein, Baronin Tinett! – Meine Frau hat mir nichts geschrieben!«

»Man kann nicht jede Kleinigkeit erwähnen. Übrigens war ›Nur-ein-Viertelstündchen‹ sehr beschäftigt mit ihren Schulangelegenheiten. Nebenbei bemerkt, der junge sozialdemokratische Lehrer gefällt mir ganz gut. Ein netter Kerl und küßt sogar die Hand. Solche Sozialdemokraten hab' ich gern.«

So ging es weiter, immer in der gleichen Tonart. Zum Schluß, als Mira die Gerätschaften zusammenräumte, mußte Weidenau auch noch die fertige Ware probieren. Man drückte ihm vor dem Spiegel das Diadem auf die rosige Glatze und hielt den Myrtenzweig über seine Stirn, von dem die Baronin Lodersdorf übermütig behauptete, daß er ihn noch besser kleide.

Schließlich blieben sie dann doch allein. Weidenau rückte vor, in den von Mira geräumten Lehnsessel, und die Baronin kam auf die unbeantwortete Frage zurück, warum er diesen Sommer Groslowitz zum ersten Male gänzlich ferngeblieben wäre.

Weidenau führte als Grund mit einiger Beklemmung die psychoanalytische Praxis an; er erzählte ihr, daß ihn ein Mitglied der Psychoanalytischen Gesellschaft auf diese Idee gebracht hätte; der ihm befreundete Herr, ein vormaliger Advokat, hätte sich genötigt gesehen, nach Zürich zu übersiedeln, und bei dieser Gelegenheit ihm, Weidenau, einen Teil seiner Klientel überlassen. Und da er das Glück gehabt hätte, als »wilder Psychoanalytiker« einige Erfolge zu erzielen, so hätten, wie das schon so geht, die Damen ihn eine der anderen empfohlen, so daß er eigentlich schon mehr zu tun habe, als ihm lieb wäre … »Ich wollte nicht, daß Sie es von anderen erfahren«, schloß er seinen Bericht.

Aber die Baronin dachte, wie sich herausstellte, ganz vernünftig über seinen neuen Nebenerwerb. »Ich find', er paßt famos zu einem Teekoster«, sagte sie.

»Zu einem – was?«

»O weh, jetzt ist mir Ihr Spitzname herausgerutscht!« rief sie, sich auf den Mund schlagend. »Sehen Sie, das kommt heraus bei der Psychoanalyse! Man erfährt die interessantesten Dinge über sich selbst!«

Weidenau ließ sich in guter Haltung seinen Spitznamen von ihr erklären. Dabei wurde ihm eigen zumute. Aber er beherrschte sich und sagte ablenkend:

»Und da waren Sie also im Sommer in Groslowitz!«

»Ja, im Juli! Und im August war ich eine Woche lang auf dem Semmering«, teilte sie gewissenhaft mit, als wüßte sie, was ihm am Herzen lag.

»Das hab' ich gehört … Aber was ich nicht gewußt habe«, setzte er unbetont fort, »ist, daß der Semmering zum Gloggnitzer Gerichtssprengel gehört!«

»Natürlich. Wohin sonst soll er gehören?«

Und scherzend fiel sie aus:

»Man merkt, daß Sie bei der politischen Behörde waren!«

»O bitte!« verteidigte sich Weidenau. »Ein Teil vom Semmering gehört jedenfalls zu Mürzzuschlag …«

»Dort hält doch kein Mensch sich auf!«

»O doch, auf Schlittenpartien zum Beispiel …«

Sie sah an ihm vorbei, als hätte er etwas Unangebrachtes gesagt. In seiner Verlegenheit tastete er zum Ausgangspunkt des Gesprächs zurück.

»Muß ein eher fader Ort sein!«

»Der Semmering?« fragte sie unschuldig.

»Nein. Gloggnitz! Natürlich!«

»Es ist nicht so arg«, versicherte die Baronin, sich an seinem erschrockenen Gesichtsausdruck grausam weidend; und erst nach einer kleinen Pause, nachdem sie sich eine Zigarette angebrannt hatte, fuhr sie fort:

»Ich bin einmal, auf einem Ausflug, im Automobil durchgefahren. Ein hübscher Marktflecken und ein sehr nettes Bezirksgericht …« Und sie schloß, große Rauchwolken ausblasend, die ihr schönes, klares Gesicht halb verhüllten:

»Allerdings sind wir nur eine halbe Stunde geblieben!«

Gottlob, sie hat »wir« gesagt, dachte der eifersüchtige Durchforscher ihrer sommerlichen Vergangenheit später auf dem Nachhauseweg.

Dann, am nächsten Vormittag, erwartete er sehnsüchtig ihren Anruf.

Er erfolgte und erfolgte auch nicht. Denn es wurde zwar angerufen, aber es war nicht sie selbst, sondern der Heldenspieler, der ganz förmlich bestellte:

»Die Frau Baronin lassen dem Herrn Baron für den Kraputkin vielmals danken.«


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