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3. Wer sein Leben als Ameise beginnt, erfährt Süßes und Bitteres.

Wie lange blieb Max in Ohnmacht? Er konnte es nicht ermessen; aber wahrscheinlich währte der Zustand im Vergleich zu den großen Veränderungen, die mit ihm vorgingen, nicht lange.

Als er zu sich kam, hatte er ein merkwürdiges Gefühl. Hatte ihn jemand für einen Garnwickel gehalten und Fäden über ihn gewunden? Er spürte es doch, er saß oder lag inmitten eines Fadenknäuels, aus dem herauszuschlüpfen er sich tapfer abmühte. Niemals hätte er das Kunststück fertiggebracht, wäre ihm nicht glücklicherweise jemand zu Hilfe gekommen, der sorgsam die Wirrnis der Fäden weitete und ihm Luft machte. Endlich konnte er den Kopf herausstrecken, gottlob folgten die befreiten Arme, und

»Nur Mut«, hörte er jetzt eine Stimme ihm zureden.

Mit einem letzten, gewaltigen Ruck gelang es ihm schließlich, den ganzen Körper frei zu bekommen, und zugleich fühlte er, wie man ihn zärtlich liebkoste und wunderlich beleckte.

»Na«, meinte er überrascht, »was soll das?«

»Ich wasche dich sauber, Kindchen.«

»Wie, mit der Zunge? Bin ich ein Kätzchen geworden? Darf ich bitten: wo bin ich, wer sind Sie, und was ist mit mir geschehen?«

Das hilfreiche Wesen antwortete:

»Still, Kleines! Wie bist du doch so neugierig! Jetzt, wo du eben erst aus deinem Gespinst geschlüpft bist, kannst du noch nichts verstehen. Gedulde dich, bald wird dir alles klar werden, du kleiner Naseweis.«

Naseweis hatte sie gesagt. Er war also schon erkannt und hütete sich, jetzt noch mehr wissen zu wollen. Aber bei der gütigen Ruhe, mit der er von allen Seiten gestriegelt wurde, erwachte sein Denken; seine Gedanken ordneten sich, und er wollte sich selbst Rechenschaft geben von seinem neuen Zustande. Gottlob, die letzten Wundererlebnisse hatten seinem Gedächtnis nicht weiter geschadet. Zunächst aber gab es leider, leider keinen Zweifel. Er befand sich in der ägyptischen Finsternis, von der er in der Schule einst gehört hatte, oder was ganz entsetzlich wäre, er war blind! Wie konnte er aber dann wissen, wo er sich jetzt aufhielt? Jawohl, Blinde haben ja solch feines Gefühl für den Raum, in dem sie sich befinden. Und er, er war in einem unterirdischen Zimmer, er wußte es, ohne herumzutasten. Ringsum beobachtete er mit feinstem Sinn ein emsiges Arbeiten von vielen geschäftigen Wesen, ohne solche zu sehen. Hatte er einen neuen Sinn bekommen? Er beantwortete sich jetzt von selbst die vorhin gestellten Fragen. Er war eine Ameise; das Wesen, das vor ihm stand, war auch eine Ameise, und sie beide befanden sich in einem Ameisenhaus. Soviel begriff er einstweilen, so wunderbar es auch war. Verworrene Bilder aus der letzten Vergangenheit tauchten in seinem Gedächtnis auf wie ein halbvergessener Traum. War nicht ein merkwürdiger, alter Herr dagewesen mit einem langen, grünen Rock und rotem Schnupftuch, mit Brille und Tabaksdose, der unversehens in dem Augenblick auf ihn zugetreten war, als er sich gewünscht hatte, eine Ameise zu sein, ohne Prüfungsnot und Bücherqual? Moritz, Therese? Wo werden sie sein? Zu Hause bei Vater und Mutter?

Dieser Gedanke bewegte Max schmerzlich, allein er beruhigte sich nach und nach. Es war nun einmal nichts zu ändern. Weil er nicht lernen wollte, hatte er sich das gewünscht, was er jetzt war. Onkel Walter sagte stets: »Ein Mann muß die Folgen seines Handelns auf sich nehmen.« In der Schule hatte er ein Sprichwort gelernt: »Wie man sich bettet, so liegt man.« Mit vernünftiger Überlegung schloß er seine Betrachtung:

»Ich bin jetzt eine Ameise, und es geht mir nicht schlecht. Aber Max bin ich doch auch noch. Wenn es nicht so wäre, kämen mir diese Fragen und Gedanken gar nicht in den Sinn. Folglich bin ich jedenfalls etwas viel Besseres als diese Insekten um mich, und ich werde immer tun können, was mir gefällt und was ich will.«

Die pflegliche Ameise, die noch vor ihm verweilte und ihn auf den noch schwachen Füßen gehalten hatte, befragte jetzt Max:

»Liebes Püppchen, du wirst wohl Hunger haben?«

»Nicht wenig«, erwiderte Max erfreut, der längst schon Appetit verspürte.

»Da, nimm«, sprach die Ameise und streifte ihm eine vorzügliche Süßspeise in den Mund. Mit gespitzten Lippen kostend und leckend wollte Max wissen:

»Ach, was ist das Gutes?«

»Blattlaushonig, junges Ameislein. Schmeckt er?«

»Ausgezeichnet! Ich habe nie Besseres gegessen.«

Erwartungsvoll öffnete er noch einmal den Mund, um ein zweites Honigschlückchen zu bekommen. Dabei machte er eine neue Beobachtung.

Wie war doch nur sein Mund geworden? Sonderbar, ganz anders als sein Menschenmund! Er besaß zwei große, starke Unterkiefer, die man Mandibeln nennt. Ihre inneren Ränder waren gezackt wie eine Säge, und sie schlossen sich zusammen wie eine Zange. Doch dienten sie nicht zum Essen. Er spürte die Speise zuerst auf dem unteren Teil des Oberkiefers, der über den Unterkieferzangen lag und eine Art Lippe bildete. Auf dieser fühlte er, wie wir es mit der Zunge machen, den süßen Geschmack des Honigs, den er so behaglich einschlürfte.

Durch die feine Speise gekräftigt, fragte er sehr bescheiden, um nicht wieder Naseweis genannt zu werden, seine liebevolle Pflegemutter:

»Verzeihen Sie meine Neugierde! – Was für gute Sachen werde ich mit meinen großen, starken Kieferzangen kauen, da ich sie zum Honigessen nicht gebrauchte?«

»Gute Sachen? liebes Kind, gar keine; denn zum Kauen dienen deine kräftigen Zangen durchaus nicht.«

»Wie, was? Nicht? Ja, wofür sind sie dann da?« fragte Max enttäuscht.

»Wir gebrauchen sie als Waffe zu unserer Verteidigung und hauptsächlich zum Arbeiten.«

»– – – Zum Ar– – – Arbei – ten?«

Vor Schreck fiel Max platt auf den Rücken und wäre liegen geblieben, wenn ihm nicht seine Pflegemama wieder auf die Beine geholfen hätte.

»Ja, zum Arbeiten«, wiederholte deutlich die Ameise, »du wirst es gewiß recht bald lernen und üben.«

Max sperrte seinen sonderbaren Mund mit den eingesägten Kieferzangen vor schmerzlicher Überraschung weit auf, während die Pflegerin ihn von neuem fleißig beleckte. Über diese Art von Reinlichkeitspflege wurde er wieder lustig. Er schüttelte und drehte sich vor Lachen und rief:

»Hören Sie doch auf, das kitzelt ja unbändig.«

Da mußte die Ameise selber lachen und erklärte ihm:

»Ich glätte jetzt deine Fühler, sie sind der empfindlichste Teil deines Körpers.«

»Fühler? Hm, hm, Fühler habe ich?«

»Fühler nennen wir die feinen Stengelchen, die du oben auf deinem Kopfe trägst; greife nur mit deinen Beinchen danach, dann kannst du sie deutlich betasten«; zugleich half sie ihm diese Bewegung ausführen.

Er fuhr sich mit den Vorderbeinchen, die wahrhaftig so geschickt wie Arme und Hände waren, über den Kopf, befühlte und betastete sich und behauptete: »Solche Dinger nennt man Hörner

Wie gerne hätte er sich in einem Spiegel besehen, aber wo wäre ein solcher zu finden gewesen?

»Nenne sie, wie du willst«, sagte freundlich die Ameise, »aber Hörner sind es sicher nicht, denn sie sind aus zartestem Stoff beschaffen, was man von Hörnern nicht behaupten kann. Wehe uns, hätten wir keine Fühler! Durch ihren Gebrauch finden wir unsere oft schwierigen Wege, vermeiden Hindernisse und geben uns gegenseitig damit Zeichen.«

»Herrje, das ist viel auf einmal!«

»Aber lange nicht alles. In den äußersten Enden der Fühler sitzt unser Geruchsinn.«

»An der Spitze der Fühlhörner ist also die Nase?«

Die Ameise lächelte über seine ungewohnte Art zu fragen und fügte der Belehrung hinzu, daß in den Fühlern nicht nur der Geruch, sondern auch das Gehör seinen Sitz habe.

Nun, die Vorstellung, so lange Ohren zu haben, war etwas demütigend, und Max wollte schon ein bißchen beleidigt tun. Aber davon merkte die Sprecherin nichts und belehrte weiter:

»Ohne Fühler könnten wir im Finstern uns nie zurechtfinden.«

Max wurde es nach diesen Worten verständlich, wie er trotz der Dunkelheit verschiedenes ganz gut wahrnehmen konnte. Das geschah eben durch den wunderbar feinen und vielfältigen Sinn in den Fühlern. Beruhigt war er aber trotzdem nicht, und er äußerte tief besorgt:

»Wie traurig ist es trotzdem, keine Augen zu besitzen!«

Jetzt mußte die Ameise herzlich lachen. Dabei streichelte sie den Kleinen und liebkoste ihn.

Max, der immer ein wohlerzogener Junge gewesen war, erinnerte sich endlich, daß er für alle erwiesene Liebesmühe noch mit keinem Sterbenswörtchen gedankt habe. So begann er etwas verlegen:

»Liebe Frau Ameise, wie heißen Sie eigentlich?«

»Man nennt mich in meiner Familie Fuska. Gelehrte Leute aus meinem Stamme wissen, daß der Name lateinisch ist und soviel bedeutet wie ›die Dunkle‹.«

»Verzeihen Sie, Frau Fuska, ich dachte noch nicht daran ›Danke schön‹ zu sagen für Ihre große Güte, mit der Sie mich aus dem abscheulichen Garnwickel befreit, und für die vielen Belehrungen, die Sie mir erteilt haben.«

»Kind, was fällt dir ein, ich habe nur meine Pflicht erfüllt.«

»– Pflicht? – Wieso?« –

»Ja, ich tat, was du den Ameisen, die nach dir geboren werden, auch tun wirst.«

»Nun, das verstehe ich nicht; ich sollte auch …?«

»Wie könntest du jetzt schon etwas von bürgerlichen Pflichten verstehen! – Wenn du später dem Unterricht beiwohnst, wirst du das Nötige schon darüber erfahren.«

Bei dem Worte Unterricht machte Max mit seinen sämtlichen sechs Beinen einen Sprung nach rückwärts und wäre vor Schrecken fast ohnmächtig geworden.

Was! er war ausgerechnet eine Ameise geworden, um dem Lernen zu entgehen, und nun hörte er hier vom Unterricht reden? Das war ein unerhörter Reinfall! Zitternd vor Schrecken stammelte Max:

»Ich habe nicht gut verstanden. Was sagten Sie, liebe Frau Fuska?«

»Morgen ist die erste Unterrichtsstunde für die Neugeborenen. Man lernt dort alles, was eine rechte Ameise wissen und kennen muß, um ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden.«

Versteinert stand der gute Max:

»Wissen« … »Kennen« hatte sie gesagt. Also lernen! – Auch bei den Ameisen!

Hatte sie das gemeint? Vor Entrüstung bebend stieß er die Frage hervor:

»Gibt es bei den Ameisen vielleicht auch eine Sprachlehre, eine lateinische Grammatik?«

Diese Frage verstand und beachtete Fuska gar nicht, sie wendete sich vielmehr an vorübereilende Genossinnen, um mit ihnen Zeichen auszutauschen.

Max aber war es, als ob ihm ein Brocken im Halse steckte und ihn würgte; er war den Tränen nahe.

Da er aber ein verständiger Bursche war, sah er ein, wie unnütz das Weinen sei, besonders wenn man doch keine Augen hat. Er kletterte tief betrübt und niedergeschlagen auf das leere Fadenknäulchen, aus dem er vor kurzem mühsam und neugierig herausgekrochen war, setzte sich rittlings darauf und trommelte unmutig mit seinen Vorderbeinchen an die hohlen Wände, daß es widerhallte.

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