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Und nun, was jetzt?« Das war die Frage, die Max beschäftigte, als er seinen Weg wieder aufnahm, und auf die er vorderhand keine Antwort wußte. Ganz allein, verloren in der weiten Welt, ohne Familie, ohne Freunde! Dies war die traurige Lage des armen Insektleins, das vor wenigen Stunden zum ersten Kaiser der Ameisen erwählt worden war. »Was verschlägt's«, so dachte Max, »auch Napoleon der Erste mußte es erleben, nach St. Helena verbannt zu werden!«
Doch dieser geschichtliche Vergleich war ein magerer Trost für ihn. Während er den Graben, in dem die Sandwespe ihr Nest hatte, von neuem durchquerte, betrachtete er schwermütig das Haus seiner Freundin, das schon verschlossen war, und er flüsterte:
»Ach, ein jeder hat sein Haus! Ich allein finde kein Loch, wo ich die Nacht zubringen könnte!«
Bei diesem Gedankengang kam ihm eine Erinnerung, die ihn mit Trost und frohen Hoffnungen erfüllte.
»Hab' ich denn nicht doch ein Haus? Und in diesem Haus wohnt ja meine Mutter und Onkel Walter. O wenn ich das finden könnte!«
Der Gedanke war gut; jawohl! Aber kaum hatte Max mit ihm zu spielen begonnen, erhob sich auch schon schroff und steil die größte Schwierigkeit, so daß er bitter ausrief:
»Der reinste Wahnsinn! Wie könnte ich armes, kleines Ameislein, für das jeder Grashalm ein Baum, jeder Busch ein Wald, jeder Kiesel ein Felsen, jede Scholle ein Berg ist, wie könnte ich einen Ort finden, den ich nicht sehen kann, von dem ich nicht weiß, in welcher Richtung er liegt!?« – – –
So schlich er entmutigt seines Weges, wohin ihn eben seine müden Beine trugen, und kam dabei am Fuße einer großen Eiche an. »Wenn ich auf ihren Gipfel stiege«, dachte er, »wer weiß, ob ich von dort oben nicht mein Haus entdecken könnte?!«
Mutig kletterte er am Stamme empor. Nur der Gedanke an die Heimat machte ihn zu dieser Anstrengung fähig. Kurz zuvor hatte er sich sehr matt gefühlt. Kein Wunder, wenn man bedenkt, daß er seit geraumer Zeit nichts gegessen hatte.
In einiger Höhe hielt er an und schaute ringsumher: Nichts! Er stieg weiter bis ins oberste Gezweige. Ringsumher schaute er nur eine wirre Welt. Jetzt begriff er, daß es mit den Augen einer Ameise unmöglich sei, deutlich in die Ferne zu sehen.
Aus der traurigen Stimmung, in die ihn diese Erfahrung versetzte, wurde er durch ein eigenartiges Geräusch aufgestört. Es kam ganz aus der Nähe, es mußte auf demselben Blatt sein, auf dem er stand. Er schaute sich um und erkannte, daß er sich neben einer Eichengalle befand, einer von jenen rötlichen Kugeln, die man häufig auf Eichenblättern sieht, und mit denen er früher oft gespielt hatte.
Max krabbelte auf diese Galle hinauf und war nicht wenig erstaunt, als er merkte, daß das Geräusch aus dem Innern der Kugel drang. Als ob ein feiner Bohrer durch hartes Holz seinen Weg suchte, so knirschte und raschelte es da drinnen. Max lief rings um die Kugel und untersuchte sie aufs genaueste. Da er auf der Oberfläche nicht die geringste Öffnung fand, fragte er sich, welches Geheimnis wohl im Innern eingeschlossen sein könnte. Plötzlich hörte er hinter sich ein feines Stimmchen, das piepste etwas müde:
»Endlich bin ich so weit!«
Max drehte sich flugs um. Ein winziges Köpfchen guckte aus einem Löchlein der Galle heraus, drehte sich hin und her und betrachtete alles ringsum mit lebhafter Neugier.
»Ei, wie schön ist die Welt!« sagte das Stimmchen, bebend vor Vergnügen.
»Sei mir gegrüßt!« rief Max, »und komme doch ganz hervor!«
Aus dem Löchlein schoben sich zwei kleine Beinchen, die sich am Rande anklammerten, dann folgte sogleich das ganze Tierlein. Es war kaum ein paar Millimeter lang, schwarz, mit fadenförmigen, nicht geknickten Fühlern und mit zwei allerfeinsten, durchsichtigen Flügelchen ausgestattet.
»Oho«, rief Max, »eine kleine Fliege!«
»Entschuldige«, erwiderte das kleine Geschöpfchen, »ich bin keine Fliege, ich bin eine Gallwespe; die Gelehrten nennen mich Cynips gemmae.«
»Eine Gallwespe?«
»Ganz richtig, ich gehöre zur Ordnung der Immen oder Hautflügler.«
»Dann bist du eine weitläufige Verwandte von mir. Als mein Büschen wirst du mir wohl erklären, wie du es fertig brachtest, in diese Kugel einzudringen?«
»Eindringen? Ich bin nicht eingedrungen, du willst wohl sagen: herauszuschlüpfen.«
Max betrachtete sie verwundert. »Das ist mir neu! Kann einer aus einer Kugel herausschlüpfen, ohne erst hineingekommen zu sein?«
»So höre! Bei uns Gallwespen ist folgender Brauch: Unsere Mutter – ich kann dir das sagen, weil ich es selber durch meine natürliche Veranlagung weiß – legt das Ei auf ein Eichenblatt, indem sie es mit dem Legestachel ansticht. Aus diesem Legestachel tritt zugleich das Ei heraus. Der Stich verursacht auf dem Blatt eine Wunde, und die Wunde läßt das Blatt anschwellen, so daß sich eine kleine Kugel bildet. Diese wächst durch den Saft der Pflanze. Inzwischen entwickelt sich aus dem darinliegenden Ei die Larve. Diese findet in der Kugel ihre Nahrung und ihr Häuschen. Hier bleiben wir ein Jährchen ungestört und essen, verwandeln uns zur Puppe und werden danach ein vollkommenes Insekt. Jetzt müssen wir von innen heraus die Kugel durchbohren, langsam, langsam, bis sich eine Straße bildet, auf der wir endlich herauskommen, wie ich es gemacht habe. – Aber du kannst mir's glauben, da heißt es kräftig drauflosnagen!«
»Ist es wohl so hart, dein Kugelhäuschen?«
»Geh mal herein und überzeuge dich selbst davon!«
Max schlüpfte zum Türchen hinein, das die Gallwespe gebohrt hatte, und nun konnte er sich einen genauen Begriff von der Arbeit machen, die seine neue Freundin fertig gebracht hatte. Im Innern der holzartigen Galle war eine Art Kammer, die aus einem noch viel festeren Stoffe als die äußere Kugel bestand. Die Wand dieser Kammer war so hart wie ein Kirschkern.
»Und du«, rief Max erstaunt, »du hast so harte Mauern durchbrechen können? Da gratuliere ich!«
»Ich danke dir. Wenn du wüßtest, wie froh ich jetzt bin! Verstehst du das? Da drinnen eingesperrt sein ist kein Vergnügen; doch man weiß, eines Tages wird man herauskommen, die Flügel ausspannen und in freier Luft leben.«
»Ah!« atmete sie tief auf, »nun ist die große Stunde, die ersehnte Belohnung für die lange Gefangenschaft gekommen!«
»Du Glückliche!« seufzte Max traurig. »Wenn ich doch auch Flügel hätte!«
Sein Wunsch brachte ihn auf einen Gedanken, der wie ein Hoffnungsstrahl in sein düsteres Dasein leuchtete. Dringlich wandte er sich zur jungen Gallwespe und sprach:
»Höre, liebe Freundin, ich hätte eine große Bitte … wirst du so freundlich sein? … Du bist zwar kaum geboren … nun wohl: mit einer guten Handlung kannst du dein Leben beginnen. Ich verspreche dir, daß ich es dir nie vergessen werde! Willst du?«
»Du plauderst zuviel; bitte, laß mich hören, um was es sich handelt.«
»Richtig! Es handelt sich darum, daß ich ein menschliches Wohnhaus mit einem Weinstock an der Wand finden möchte. Auf einem Rundflug könntest du es vielleicht erspähen.«
»Aber Lieber, wie soll ich denn ein Menschenhaus erkennen? Ich bin doch eben erst auf die Welt gekommen!«
Diese Bemerkung war richtig, und Max kostete es Anstrengung genug, um dem jungen Insekt zu beschreiben, wie sein Haus aussähe. Endlich schien die Gallwespe begriffen zu haben, und er brauchte ihr nur noch zu sagen:
»Du kannst mit deinen Flügeln nach allen Richtungen herumstreifen; dann kehrst du zu mir zurück, mir zu sagen, ob es dir gelungen ist, mein Haus zu entdecken, das ich so gern sehen möchte. Willst du mir diesen großen Gefallen erweisen?«
»Ich will es versuchen! Es gelüstet mich sowieso, meine Flügel zu erproben« – – – und eins – zwei – drei – – – erhob sich das junge Gallwespchen vom Sitze und flog in die schöne Welt hinein.
Kaiser Butziwackel aber rief ihm noch zu:
»Wenn du es fertigbringst, schwöre ich dir ewige Freundschaft!«