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Max war recht froh, der guten Holzwespe seine Dankesschuld abgestattet zu haben. Er hatte dabei Geistesgegenwart gezeigt und war jetzt stolz und zufrieden mit sich selber. Aber Menschenfüße flößten ihm wenig Zutrauen ein, und da man im Hause nach und nach verschiedene Schritte hörte, verkroch er sich vor Angst, zertreten zu werden. Lieber kletterte er eine Wand hinauf, als noch länger einer solchen Gefahr ausgesetzt zu sein.
»Nein«, dachte er, »wenn der Mensch, dieses Untier, wüßte, welche wunderbaren Formen und Lebenskräfte in uns kleinen Wesen verborgen sind, wäre er beim Gehen gewiß vorsichtiger, um uns nicht zu zerdrücken.«
Im anstoßenden Zimmer ließen sich jetzt Stimmen vernehmen. Um besser sehen zu können, stieg Max an der Wand empor auf den Kleiderrechen. Hier nahm er auf dem Rand eines großen Filzhutes Platz und sagte leise und fröhlich vor sich hin:
»Von hier aus beherrsche ich das ganze Zimmer. Gleich werden sie alle zum Frühstück erscheinen, ich werde sie sehen und hören, was meine Lieben sprechen!« Gleich darauf trat sein Onkel Walter ein. Wie bewegt betrachtete ihn Max, aber seine Bewegung kehrte sich in Schrecken, als er ihn sagen hörte:
»Franziska, den Hut abbürsten, ich will in die Stadt gehen!«
Max erschauderte. Der Hut wurde abgenommen; die Krempe erzitterte unter seinen Füßen. Bei jedem Bürstenstrich erwartete er, mitsamt dem Staub weiß Gott wohin geschleudert zu werden. Ach, vielleicht wäre es so besser gewesen! Glücklicherweise aber nehmen es Zimmermädchen meistens nicht besonders genau mit dem Ausbürsten der Kleider ihrer Herrschaft. Franziska fand den Hut halb gebürstet sauber genug.
So war Max wieder einmal gerettet; allein er lebte jetzt von der Gnade eines Hutes, und dieser wieder war abhängig von Onkel Walter. Ging dieser spazieren, so mußte Max unbedingt mit ihm ausgehen.
»Einerlei«, dachte er ohne weitere Sorge. »Zwingt er mich jetzt zum Spaziergang, so muß er mich auch wieder heimtragen.« Leichtfüßig und leichtherzig spazierte er inzwischen den Hutrand entlang.
Leider aber machte Max die Rechnung ohne seinen Lateinprofessor. Dieser Spielverderber mußte ihm jetzt sogar noch sein Ameisenleben verpfuschen!
Nicht weit entfernt vom Landhaus wurde Max durch einen Schwung vom Hutrand unsanft im Bogen zur Erde geschleudert. Onkel Walter hatte vor dem Lateinprofessor, der des Weges kam, in größter Hochachtung seinen Hut tief gezogen. Er konnte ja nicht ahnen, daß er dabei seinem lieben Neffen einen solchen Schabernack spielte.
Max erholte sich leichter von seinem Fall als von dem Schrecken über sein Mißgeschick und rief zornbebend aus:
»Dieser greuliche Professor! Wenn ich meine Holzwespe treffe, sage ich ihr, sie möge ihm ein Loch in seinen Kopf bohren.«
Unser Held war ganz außer sich, sonst hätte er so etwas Böses keinesfalls gesagt. Man muß aber gerecht sein, diesmal hatte er wirklich großes Unglück.
Nach harten Mühen, gefährlichen Abenteuern, nach so vielen überstandenen Gefahren war er endlich in seinem Hause angelangt. Nun sah er sich durch einen unglücklichen Zufall vom schwer erreichten Ziel weiter als je entfernt. Er lag mit den Beinen in der Luft auf dem Erdboden eines unbekannten Ortes; allem nach wird es ihm unmöglich sein, sich zurechtzufinden. Da vernahm er eine Stimme in der Nähe:
»Noch nie in meinem Leben habe ich ein Insekt ohne Flügel so kühne Purzelbäume schlagen sehen! Wäre einer aus uns von solcher Höhe abgestürzt, mit den Beinen nach oben, der hätte nicht so leicht wieder krabbeln können!«
Das waren sonderbare Geschöpfe, die mit solchen Bemerkungen das Unglück unseres Freundes besprachen. Max konnte ein lautes Oho! der Verwunderung nicht unterdrücken, als er ihrer ansichtig wurde. Es waren Ameisen, ganz sicher, aber so merkwürdige, wie Max sich solche nicht im Traume vorgestellt hätte. Ganz gelb, mit mächtigem Hinterleib und schauderhaft dickem Bauch.
»Woher kommt ihr, dickbäuchige Schwestern?« rief Max sie an.
»Weither wie du«, sagte eine lachend. »Du kommst aus schwindelnder Höhe, wir aus weiter Ferne.«
»Ei, woher denn?«
»Aus Mexiko.«
Max glaubte, die Ameisen wollten ihn zum besten haben, und schon wollte er entsprechend erwidern, als eine sagte:
»Schwestern, macht weiter; es ist Zeit zur Heimkehr, die Sonne kommt!«
Die fremden Ameisen trotteten ihres Weges. Langsam schleppten sie sich mit ihren dicken, gelben Bäuchen vorwärts, und unser Freund folgte ihnen ohne Bedenken, er hätte gar nicht anders gekonnt; erstens wollte er zu gern Näheres über sie erfahren, und dann wußte er im Augenblick nichts Besseres anzufangen. Langsam erkletterte er mit den Gelben eine Anhöhe, auf deren Gipfel sich ein kleiner, sandiger Erdhaufen erhob, wahrscheinlich ihr Nest. Und richtig standen am Eingange des Sandhügels drei Ameisen Wache, doch waren diese schlank und ohne jenen unförmigen Bauch.
Die Wachen begrüßten die Ankommenden mit freundlichem Zuruf:
»Willkommen, Schwestern! Wie seid ihr schwerbeladen!«
Sogleich bemerkten sie auch Max, der heimlich hinter ihnen herschlich, und riefen ihn scharf an:
»Wer ist der Fremde? Woher kommt er? Ausweis zeigen!«
Max trat sofort offen vor, grüßte militärisch die drei Schildwachen und sagte würdig:
»Ich bitte euch, erkennt mich als zu euch gehörig an, ohne euch an meiner schwarzen Farbe zu stoßen. Gestattet meine Anwesenheit in eurem Hause, in Anbetracht dessen, daß ich keine feindlichen Absichten hege.«
Diese feine Rede, namentlich die Wendung »in Anbetracht dessen«, machte großen Eindruck auf die Schildwachen, und in gemildertem Tone erwiderten sie:
»Was hast du dann für Absichten?«
»Vernehmt also«, nahm Max seine Rede sprachgewandt wieder auf, »ich bin so, wie ihr mich seht, eine arme Ameise, die ihres Landes verbannt ist infolge eines traurigen Krieges. Ich bin allein, und ihr habt nichts zu befürchten. Mein einziger Wunsch ist zu wissen, wer ihr seid, woher ihr kommt, und welche Gebräuche ihr übt, daß ich sie nach ihrem Werte schätzen lerne.«
Diese schmeichelhafte Rede verfehlte ihren Eindruck nicht. Die Wachen zogen sich zu einer kurzen Beratung zurück, in der beschlossen wurde, dem Fremdling zwar die Erlaubnis zum Eintritt und zu einer Besichtigung zu geben, doch ihm vorsichtshalber eine einheimische Ameise zur Begleitung beizugesellen. So stieg Max in den trichterförmigen Eingang des Sandhügels hinab, der in der Mitte des Baues gelegen war. Von der weiten Öffnung führte die Trichterröhre senkrecht zum ersten Stockwerk des Baues. Max sagte seiner Führerin viel Schönes über die kunstvollen Anlagen des geräumigen Hauses, dessen Herstellung von großer Mühe und Sorgfalt zeugte; denn die bröselige Erde erschwerte das Ausheben von Höhlen und Gängen, weil sie gar zu leicht nachrutschte. Durch einen senkrecht geführten Schacht ging es zum unteren Stockwerk, das aus zehn großen Kammern bestand, deren Wände nicht mehr so schön glatt waren wie oben. Max hatte aber kaum mehr ein Auge für so etwas Nebensächliches, denn in diesen nur schwach beleuchteten Zimmern befand er sich vor einem derartig befremdenden Schauspiel, daß er unwillkürlich ausrief:
»Ja – träume ich denn?«
»Träumen?« meinte verwundert die Führerin. »Unsere vollen Honigtöpfe sind gottlob keine Träume!«
Festgeklammert an der Wand jedes Raumes saßen da oder hingen vielmehr etliche dreißig Ameisen. Ihr ungeheurer Bauch glänzte durchscheinend gelb wie ein dicker Öltropfen.
»Volle Honigtöpfe?« stammelte erstaunt Max, der die Augen nicht davon abwenden konnte.
»Freilich, deine große Verwunderung verrät deine Unkenntnis! Ihr andern Ameisen habt eben keine Ahnung von der gediegenen Einrichtung unseres Ernährungsamtes und unserer wirtschaftlichen Umsicht. Wir sind mexikanische Ameisen«, sagte sie ein wenig hochmütig, »und befinden uns nur zufällig in diesem Lande. Weißt du, in einem jener Ungeheuer, in denen die Menschen über die großen Wasser fahren« – sie meinte natürlich Ozeandampfer und Kauffahrteischiffe – »wurden einmal bei uns in Mexiko Pflanzen verladen, in deren erdigen Wurzeln einige Insekten unbeachtet mit hierher reisten. Unter diesen war auch eine Mutter unseres Stammes, und diese begründete unser heute lebendes Volk und errichtete mit ihm dies Haus.«
»O!« rief Max, »kamen die fremden Ameisen vielleicht mit der mexikanischen Eiche an, die in einem Garten hierzulande steht?«
»Ganz richtig; mit einer wellblätterigen Eiche.«
Vor zwei Jahren hatte tatsächlich Onkel Walter eine solche Eiche geschickt bekommen und im Garten der Eltern gepflanzt. Welche Hoffnungen erwachten bei dieser Feststellung! Er war sicher nicht allzu weit entfernt von seinem Hause, in das zurückzugelangen sein heißes Sehnen war.
»Die wellblätterige Eiche«, fuhr die Führerin wie zur Bestätigung der hoffnungsfrohen Vermutung fort, »liefert uns unser tägliches Brot. Aus ihren Gallen, die ihr eine Gallwespe beibringt, sammeln die Ameisen, denen du nächtlicherweile begegnet bist, einen köstlichen Saft. So mächtig füllen sie sich davon an, daß sie den unförmig dicken Bauch bekommen und nur mühsam wieder heimziehen können. Hier angekommen, steigen sie an den Wänden empor, wo dann andere Kameraden sie bis zur äußersten Möglichkeit weiter füttern. So werden sie bis zum Rand gefüllte Töpfe.«
»Und bleiben sie immer so hängen?« fragte Max mitleidig.
»Versteht sich. Sie können sich nicht mehr rühren und haben auch weiter nichts zu tun, als die Nahrung für die Arbeiter aufzubewahren. Sie melden sich übrigens freiwillig zu ihrem Dienst, zu dem man eben berufen sein muß; ja, ja, schwer ist er schon!«
Max war in der Seele tief bewegt. Es gab also Ameisen, die Honigbehälter werden! Honig, nicht zum Selberessen, nein! Voll Entsagung stellen sie ihren eigenen Körper zur Verfügung; zum Wohle der Brüder sind sie lebende Vorratskammern.
Vielesserei ist also bei diesen Tieren wahrhaftig etwas anderes als bei den Menschen, die sich so zahlreich in garstiger Weise den Magen überfüllen.
Während er so dachte, konnte er selbst sehen, wie die gelben Ameisen, denen er begegnet war, sich anschickten, die bereits hängenden Genossen vollzustopfen. Sie päppelten ihnen einen Teil der gesammelten Nahrung ein und sagten dazu, sich einander lustig zublinzelnd:
»Heute dir, morgen mir!«
»Willst du ein wenig von unserem Honig versuchen?« fragte die Führerin.
Das brauchte man Max nicht zweimal fragen. Mit Vergnügen ließ er sich von einer Ameise, die sich noch bewegen konnte, den süßen Saft einflößen. Wie schleckig er war! Ein wenig säuerlich von der darin enthaltenen Ameisensäure, aber dafür desto schmackhafter.
»Welche Wunder vollbringt die Schöpfung! Nun sah ich sogar lebendige Honigtöpfe.« So dachte Max, als er den Rückweg antrat. Er bedankte sich aufs herzlichste bei den drei Schildwachen und allen, die er kennengelernt hatte. Eben, als er sich verabschieden wollte, gellte der Schreckensruf von allen Seilen:
»Der Wendehals!«
Im selben Augenblick fühlte sich Max am Genick erfaßt, und mit drei Unglücksgenossen von Mexikanern wurde er durch die Lüfte getragen.