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Nach allen Wechselfällen des Schicksals führte unser entthronter Kaiser jetzt ein ruhiges Dasein in der Verbannung. Er war zufrieden mit seiner einfachen Wohnung und lebte in Eintracht mit seinem Adjutanten. Die einzig drückende Sorge blieb nur die Beschaffung der Lebensmittel; doch auch hier fand sich eine Lösung. An den Wurzeln der Eiche stand ein Rosenstock. Auf seinen grünen Zweigen lebte eine zahlreiche Herde von Blattläusen, die sich willig melken ließen. Nun bestand für die beiden Ameisen keine Gefahr mehr, dem Hungertode zu verfallen.
Oft dachte Max über seine Erlebnisse im Ameisendasein nach. Er verglich seinen Aufstieg zum General und Kaiser mit dem Geschick Napoleons I. und nannte seine Wohnung im Stamme des Eichbaumes St. Helena. Lebte nicht auch Butziwackel I., der Ameisenkaiser, fern von seinem Volke einsam in der Verbannung? Auf seinen häufigen Spaziergängen hatte er überdies Gelegenheit, mit einigen Bienen bekannt zu werden, die ihm zufällig begegneten und von denen ihm schon die Holzwespe erzählt hatte. Auch von dieser erhielt er öfter Besuch, und er unterhielt sich gerne mit ihr auf dem Eichenstamme. Sodann schloß er sich freundschaftlich an einige Erdbienen an, geschickte Bergleute, die im Sandboden ihre Gänge gruben. Sehr nette Bekannte hatte er an den Wollbienen, und mit einigen Blattschneiderbienen hatte er sogar geschäftliche Beziehungen angeknüpft.
Diese bauen ihr Nest in Baumlöcher und fertigen hier fingerhutförmige, aneinandergereihte Zellen, welche sie aus den Blättern des Rosenstrauches und der Weißbuche und den Blüten des wilden Mohns kunstvoll zusammensetzen. Sie verstehen es, die Blätter so geschickt mit ihren Kieferzangen auszuschneiden, als ob sie mit einer Schere arbeiteten. Weil sie ihr Nest so hübsch auslegen, nennt man die Tierchen auch Tapezierbienen. Eine Art lernte er davon kennen, die grub ihr Nest in die Erde. Es bestand aus einer einzigen Zelle und war mit lauter Blumenblättern ausgefüttert und belegt. Den erweiterten Bekanntenkreis benützte Max, mit Hilfe dieser Freunde sein St. Helena nach und nach besser auszustatten. Von den Blattschneiderbienen hatte er sich eines seiner Zimmer mit Rosenblättern belegen lassen. Wie russisches Leder sahen diese Tapeten aus, nachdem die Blätter ausgetrocknet waren. Sein Schlafzimmer ließ er sich von einer andern Tapezierbiene mit wohlriechenden Blumenblättern belegen und bei den Wollbienen hatte er sich ein weiches Bett bestellt. Darin träumte er von seiner großen Vergangenheit.
Zu seiner Ehre aber muß man sagen, daß er über aller Bequemlichkeit das Notwendige nicht vergaß. Er fertigte selbst eine Haustüre, damit kein Unbefugter und keine gefährlichen Gäste eindringen könnten. Es gelang ihm mit unerhörter Anstrengung und mit Hilfe seines Adjutanten, einen harten Gurkenkern an den Eichenstamm und bis hinauf zu seinem Haus zu schleppen. Diesen brachte er auf eine geistvolle Weise als Drehtüre am Hauseingang an. War die Türe offen, so stand der Kern mit seiner Breitseite halb außen, halb innen am Eingang, der diesen somit in zwei Hälften schied, eine als Eingang für den Kaiser, die andere für Lieferanten und die Dienerschaft. Was fehlte jetzt noch zu einem standesgemäßen Herrschaftshaus? Wollte man die Türe schließen, so drehte man einfach den Kern nach links oder rechts, und beide Eingänge waren dann zugleich abgeschlossen. Diese Art des Verschlusses wurde von allen seinen befreundeten Insekten unendlich bewundert, und die Holzwespe verbreitete überall Maxens Ruf als eines unerreichten Künstlers.
Als sie dies ihm einmal selbst sagte, erwiderte Max, der gerade Arm in Arm mit ihr spazieren ging:
»Ich weiß es wohl!«
Die allgemeine Anerkennung hatte aber wieder alle schlummernden Gedanken an Ehre und Ruhm aufgerüttelt. So erzählte er seiner vertrauten Freundin von seinen Kriegstaten im Ameisenreich und sprach ihr von seinen Plänen, die darauf hinausgingen, eine gesellschaftliche Neuordnung bei den Insekten durchzuführen, die dem Geiste der Zeit besser entspräche. Die Holzwespe trug in einem starken Körper einen kleinen Geist und war deshalb sofort besiegt von des Kaisers warmer Beredsamkeit, die einem Volksredner alle Ehre gemacht hätte. Entzückt rief sie daher am Schlusse seiner Ausführung aus:
»O, einem Kopfe wie dem deinen muß das alles zum Wohle der Völker sicher gelingen!«
»Ich erwähle dich«, sagte Max erkenntlich für dies Lob, »von heute an zur Herzogin von St. Helena.«
In der folgenden Zeit saßen der Kaiser Butziwackel I., die Herzogin von St. Helena und der Graf aller Hautflügler nur noch zusammen, um Luftschlösser zu bauen. Alle Tage wurden diese größer, und sämtliche Beratungen endeten gewöhnlich mit rauschendem Beifall für die Pläne unseres Volksfreundes.
Und noch etwas! – Aber soll ich es sagen? Seit Max die Holzwespe wieder gefunden hatte, war er öfter daran, sie um Auskunft über die Lage seines Landhauses zu fragen, was um so näher lag, als die Holzwespe dort geboren war und genügend starke Flügel hatte, um es aufzusuchen. Aber wie merkwürdig! – Er fragte sie nie! Wißt ihr, warum?
Kaiser Butziwackel I. fühlte sich behaglich in seiner Verbannung, es fehlte ihm nicht am täglichen Brot, sein Adjutant bediente ihn vortrefflich, seine Freunde alle bewunderten ihn. Über diesem guten Leben hatte Max die Heimat vergessen!
Wie sollte das weitergehen? Kaiser Butziwackel war auf dem besten Wege, im Insektenreiche ein unnützer, gedankenloser Faulenzer zu werden. Eines Morgens saß er rittlings auf dem Gurkenkern, seinem Schloßportal, schaute vergnüglich in die weite Welt und ließ sich von den warmen Sonnenstrahlen bescheinen. Da kam plötzlich ein scharfer Windstoß, rüttelte und schüttelte die Eiche, daß sie in allen Fasern ächzte und ihre Äste krachend durcheinanderschlug. Die Haustüre fiel aus ihrem Gefüge und stürzte mitsamt dem Kaiser kopfüber in die Tiefe. Wäre Max auf einen harten Stein gefallen, so hätte er sterben müssen. Glücklicherweise aber wuchs unter dem Baume weiches Moos. Max hatte schon im Stürzen vor Schrecken die Besinnung verloren. So lag er jetzt im tiefen Schlaf der Ohnmacht im grünen Moos eingebettet.
Da trat mit leisen Schritten aus den Büschen das alte Männlein mit dem langschleppenden Rock und der großen Brille. Das blieb lächelnd vor Max stehen, griff nach der Riesendose in den tiefen Rocktaschen, nahm behäbig eine Prise, nieste und sprach:
»Fauler Bub'! – Ameislein
Hast einmal müssen sein!
Sahest im fremden Land,
Was dir ganz unbekannt:
Arbeit mit Müh' und Fleiß
Leisten in ihrer Weis'
Alle die Tierlein klein. –
Faulenzer willst du sein?
Jetzt ist der Zauber aus;
Gehe als Kind nach Haus.
Sollst wie die Bienen
Schaffen und dienen.
Such' in der Arbeit Ruhm
König- und Kaisertum!
Mit hohem Streben
Beherrsche dein Leben!«
Max schlug die Augen auf. War er denn keine Ameise mehr? Sein altes, zerschlissenes Höschen hatte er wieder an, und das Wackelfähnlein baumelte heraus wie zuvor. Rasch stopfte er es ins Verborgene.
Wie er, die Augen reibend, um sich schaute, fand er sich bei dem bemoosten Stein in der Grotte, wo das Brünnlein plätscherte wie immer und wo er müde und faul gesessen hatte, ehe er das Ameisenei geworden war.
Von dem Männlein im grünen Rock war nichts zu sehen, aber es roch nach Tabak, und Max meinte doch eben seine Stimme gehört zu haben. So deutlich klang sie noch in seinen Ohren, daß er die Verse genau wiederholen konnte. Hatte er denn hier träumend gelegen? War er tatsächlich im Ameisenland gewesen?
So rasch er nur konnte, rannte er dem Hause zu, wo er eben Mutter, Vater, Onkel Walter, Moritz und Therese bei Tische sitzend fand.
Mit Küssen und Umarmungen drängte er sich stürmisch in ihre Mitte, freudig von allen begrüßt und befragt:
»Warst du gerne bei dem wunderlichen Onkel Christian und seinen Insektensammlungen?«
»Ach, Mutterchen, ich war doch selber im Ameisenland, und bei den Hummeln habe ich übernachtet. Denkt euch, einmal bin ich auf einem Wasserläufer über den großen See geritten und beinahe hätte mich der Ameisenlöwe gefressen!«
»Ha, ha«, lachte Onkel Walter; »Max fabuliert von Onkels Ungeziefer, das er der Wissenschaft zu Ehren züchtet.«
Bei dem geringschätzigen Wort Ungeziefer gab es Max einen Ruck. Unwillkürlich schaute er um sich, ob keine Ameise oder Biene in Hörweite sei. »Nun«, fuhr Onkel Walter fort, »bald soll sich's zeigen, ob der gute Alte, wie er uns versprach, aus dir kleinem Faulpelz einen guten Lateiner hervorgezaubert hat.«
»Onkel«, fiel Max in lebhafter Erinnerung ein, »wegen des Lateinprofessors bin ich von deinem Hutrand heruntergepurzelt.«
Nein, wie da alle über ihn lachten, und die Mutter wehrte ihnen nicht einmal. Sie sagte sogar:
»Geschichten erfinden und erzählen, liebes Kind, sollst du erst nach deiner bestandenen Prüfung. Von morgen ab wird tüchtig gelernt und nicht fabuliert, ehe du fertig bist!«
Betroffen schwieg Max. Ach, niemand schien ihm zu glauben! So setzte er sich zu seinen Büchern, und siehe, in kurzer Zeit bestand er seine Prüfung mit Note 1 und einem Stern.
Wenn er dann an den Winterabenden viel aus dem wunderbaren Leben der Insekten erzählte, hörten alle mit Bewunderung zu und staunten über die Anschaulichkeit, mit welcher er zu berichten wußte.
Wie oft sagte dann Onkel Walter:
»Unser Butziwackel hat das Zeug zu einem berühmten Naturforscher in sich! Onkel Christian hat ihn wahrhaftig angesteckt, der alte Zauberonkel.«
Der Kleine schwieg dazu.
Nie hat er jemand gesagt, daß er einstmals Ameisenkaiser gewesen war und einen Flügeladjutanten sein eigen nannte; auch trug er es Franziska nicht nach, daß sie ihn für einen Floh gehalten hatte. Mir aber hat Onkel Christian alles verraten, und nur deshalb war es mir möglich, euch, liebe Kinder, diese seltsame Geschichte zu erzählen.
Was mag nur aus Großzang, dem Grafen aller Hautflügler, geworden sein? – Und aus der Holzwespe, der Herzogin von St. Helena?
Nun, diese legte fleißig Eier und sorgte für nichts anderes als für ihre Nachkommen. Freilich Großzang litt schrecklich unter dem plötzlichen Verschwinden seines kaiserlichen Herrn. Erst verzweifelte er schier, dann allmählich tröstete er sich an den vollen Vorratskammern, die er nun allein ausessen konnte. Er aß im Schmerze auch alles sauber auf, was im Hause war. Hierauf begab er sich wieder auf Reisen, und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.