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Die zwei auswandernden Ameisen kamen am Fuße des Baumes an, der in seinem hohlen Innern das Bienenvolk beherbergte, als die Sonne im höchsten Mittagsglanze stand. Das von ihren Strahlen liebkoste Land leuchtete vor Freude und Behagen im goldenen Lichte.
Max sah noch einmal empor zur Höhe, um dem gastlichen Bienenstock einen letzten Gruß zuzuwerfen, da bemerkte er, daß um ihn und Großzang ein dichter Regen von geflügelten Insekten herniederging, wobei ein kläglicher Chor von Seufzern ertönte:
»O weh, o weh! Hilfe! Ich sterbe – ich sterbe.«
Am Fuß der Eiche war der Boden bedeckt von dickleibigen Bienen mit wahren Glotzaugen.
»Aha, ich merke was!« murmelte Max. »Das sind die armen Männchen!«
Es waren in der Tat die Drohnen. Die Hochzeit mußte beendet sein. Die Arbeitsbienen durchbohrten mit ihrem furchtbaren Speer die wehrlosen Männchen und warfen sie aus der Stadt hinaus; denn sie wollten darin nur die geschickten und fleißigen Arbeiterinnen behalten.
»Gewissenlose Unterdrücker der Wehrlosen!« rief Max empört aus und wendete sich zornig ab.
Wir wollen die Sache mit Ruhe erwägen. – Dieses wilde Gemetzel ist zur Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung der Bienen nötig. Die Männchen, die den Namen Drohnen haben, stellten jetzt nichts weiter vor als eine Anzahl von Herumstehern, Nichtstuern, Schmarotzern, die von den Mühen anderer leben wollen.
Die Arbeiterinnen sind weise genug, die unnützen Faulenzer aus ihrem Staate zu verjagen, wo jeder von der Arbeit lebt.
Dieses Erlebnis war allerdings nicht geeignet, in den beiden Ameisen frohe Gedanken zu erwecken; sie verfolgten ihren Weg mit niedergeschlagenen Augen, schwermütig, ohne Ziel, ohne Hoffnung, in eine unsichere, dunkle Zukunft hinein. Max glaubte nicht mehr an eine Möglichkeit, heimzukehren; er dachte sich verurteilt, das Leben eines unsteten, ewig herumirrenden Insektes zu führen; er wagte nicht mehr zu hoffen, daß es ihm in diesem Leben je beschieden sei, als Herrscher eines großen Reiches seine ehrgeizigen Träume zu verwirklichen.
Großzang war bescheidener; er erinnerte sich mit Wehmut an die drei täglichen Mahlzeiten, von denen eine süßer geschmeckt hatte als die andere. Nun waren die schönen Tage vorüber! Von jetzt ab heißt es wieder gegen den Appetit ankämpfen, Großzangs wildesten und unüberwindbarsten Feind. So wanderten die beiden geraume Zeit, als sie über sich in den Zweigen eines weitästigen Baumes lautes Gesumme hörten.
Sie blieben stehen und lauschten.
An dem äußersten Zweige eines der untersten Äste hing eine Riesentraube von Bienen. Eine klammerte mit den Vorderbeinen fest an der andern, und aus dieser lebenden Traube drangen tausend Stimmen, die deutlich die Worte summten:
»Jetzt hängen wir lange genug hier. Wir müssen einen Ort finden, wo wir uns einrichten, aber in der Nähe! Die Königin hat den Leib voll Eier und kann nicht mehr weit fliegen. Schnell, dorthin! Nein, lieber dahin! …«
Max brach in einen hellen Freudenschrei aus, denn mitten aus dem Gesumme hatte er seine Freundin Süßchen herausgehört. Zu gleicher Zeit rief er auch schon Großzang warnend zu:
»Obacht! Hier ist der Fuß eines großen Tieres.«
In Wirklichkeit war es eines Mannes Fuß. Aber die kleinen Insekten machen keinen wesentlichen Unterschied zwischen einem Menschenfuß und dem eines Ochsen; sie wissen nur, daß beide mit der nämlichen Gedankenlosigkeit stets bereit sind, sie zu zertreten. Max konnte sich gerade noch retten und sah vor sich einen Mann mit einer Drahtmaske über dem Gesicht. In den Händen hielt er, die Öffnung nach oben gerichtet, einen glockenförmigen Strohkorb und näherte diesen vorsichtig dem Zweig, von dem die Bienentraube herabhing. Max hatte kaum Zeit zu rufen:
»Süßchen, gib acht, er fängt dich!«
Da hatte der Mann dem Zweig schon einen heftigen Stoß gegeben, so daß die ganze aneinanderhängende Bienenschar in den Korb fiel. Geschwind deckte der Mann den Korb mit einem Brettchen zu und ging mit dem Bienenvolke freudig grinsend fort. Kurz entschlossen sagte Max zu Großzang: »Rasch! Mir nach!« und kletterte auf den Stiefel des Mannes, dann stieg er weiter empor und rastete erst auf dem Rande des Stiefelrohres.
»Bist du da, Adjutant?« fragte Max besorgt.
»Zu Befehl! Aber wozu diese Kletterpartie?«
»Aus zwei Gründen, lieber Adjutant! Erstens sparen wir uns die Mühe, zu Fuß wandern, und zweitens lassen wir uns sicher und bequem an den Ort tragen, wo unsere Freunde ihre neue Stadt bauen werden.«
»Wohin trägt sie denn dieser Mensch?«
»Ich vermute, in einen Bienenkasten, den Menschen gebaut haben, um den Honig ernten zu können.«
»Spitzbuben!« schrie Großzang, der die Sache vom Ameisenstandpunkt aus betrachtete. »Schämen diese großen, dicken Menschen sich denn nicht, von der Arbeit winzig kleiner Geschöpfe zu leben? Solche Schmarotzer sollte es nicht geben!«
Max schwieg betroffen. Auch war die Reise zu unbequem zum Plaudern. So oft der Fuß, auf dem sie saßen, auf die Erde stapfte, gab es beiden einen solchen Ruck, daß sie sich kaum im Gleichgewicht halten konnten, um nicht herunterzupurzeln.
»Wir müssen einen sicherern Platz suchen«, entschied Max. »Hier ist scheint's dritter Klasse; wir wollen sehen, ob es uns nicht gelingt, in ein Abteil erster Klasse zu gelangen.«
Gefolgt von Großzang hielt er sich an den Hosen des Mannes fest, überschritt sodann kühn wie ein Seiltänzer ihren unteren Saum, kletterte außen empor bis zur Jacke und stieg an dieser hoch, bis er den Rockkragen erreicht hatte.
»Hier sitzt man gut«, rief er. »Es ist zwar ein bißchen schmierig; für erste Klasse dürfte es sauberer sein. Der Mann, der diesen Kragen trägt, hält nicht viel auf Reinlichkeit!«
Er hatte kaum diese Betrachtung angestellt, als er ganz nahe über sich, mitten in einem Walde von roten Haaren, ein graues Tier sah, das neugierig auf die beiden Ameisen herunterschaute.
»Heda!« bemerkte es mit bissigem Ausdruck, »was wollt ihr hier oben? Das ist mein Feld. Wißt ihr, wer ich bin?«
»Um Gottes willen, sag' es lieber nicht!« sprach Max mit Ekel; »es ist zwar das erste Mal, daß ich dich sehe, allein ich erkenne dich nach dem Orte, wo du wohnst!«
»Oje! du brauchst dich nicht so zu zieren«, sagte die Sprecherin, streckte ihren Leib aus dem zerrauften roten Wald heraus und klammerte sich dabei mit scharfen Krallen am Ende eines Haares an; »ich gehöre zu einer Insektenart, die geradesoviel gilt wie die deine!«
»Sag's nochmal, so will ich es glauben«, spöttelte Max.
»Jawohl! Was bildest du dir ein? Ich bin eine brave Laus, und in meiner Ordnung gibt es berühmte Gesangskünstler, die Zikaden, kühne Seefahrer, die auf dem Wasser gehen können, wie der Wasserläufer, berühmte Maler, die das Geheimnis einer herrlichen Farbenbereitung besitzen, die Kochenille; auch schimmernde Sterne gibt es bei uns, die Licht verbreiten – die Laternenträger!«
»Kann sein«, erwiderte Max unwirsch; »ich kann mir denken, wie diese guten Leute sich schämen, mit dir verwandt zu sein!«
»Oho! Ihr Ameisen schämt euch aber nicht, soviel ich weiß, meine Verwandten, die Blattläuse, auszusaugen, die ihrerseits den Pflanzen den gleichen Dienst erweisen wie wir den Menschen.«
»Saubere Dienste!« höhnte Max.
»Sauber oder nicht! Ich sage dir nur, wenn du noch weiter da heraufspazierst, rufe ich meine sämtlichen Kinder herbei, dann kannst du etwas erleben.«
»Ha, ha, Kinder hast du auch?«
»Das wollte ich meinen«, sagte das graue Weiblein stolz; »ich kann fünfzig Eier legen in einem Tage.«
»Glückauf! Möchten sie alle fünfzig noch jung geknickt werden.«
Max wandte sich gern ab, lief vom Kragen eilfertig über die linke Schulter des Mannes herab und versteckte sich tief in einer Ärmelfalte, nur um das greuliche Tier nicht länger zu sehen.
»Eine merkwürdige Sache«, bemerkte Großzang, der Max auf Schritt und Tritt nachlief; »dieser Mensch raubt den Bienen ihren Honig, und das Insekt da droben saugt dem Menschen das Blut aus.«
»Na, an Steuern und Abgaben kommt keiner vorbei«, schloß Max die für Großzang merkwürdig kluge Beobachtung. »Aber es muß einer schon ein arg schmutziger Kerl sein, wenn er den Läusen freiwillig einen Blutzoll entrichtet!«