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Die Roten hielten jetzt Kriegsrat. Jene Ameise, die, wie es Max schien, Generalsrang bei den Roten besaß, ließ sich neuerdings hören:
»Wir haben den Krieg gewonnen«, so sagte sie, »der Feind ist niedergerungen, und wir haben von seinem Reich Besitz genommen. Es ist unnötig, seine Eier, Larven und Puppen in unsern Bezirk zu bringen. Wir sind hier die Herren und werden unsere Macht in diesem Reich ausüben durch eine Besatzungstruppe, die hier bleibt. Im Kampfe hat jeder von euch auf seinem Posten seine Pflicht getan. Darum gelten die Rechte des Sieges für alle in gleicher Weise. Die Ameisen, die sich hier aus Eiern, Larven und Puppen entwickeln und der Rasse des besiegten Volkes angehören, sollen Sklaven unseres Reiches sein, zum Nutzen aller ohne Ausnahme.«
Während die Roten den Worten ihres Generals lauten Beifall zollten, konnte Max nicht umhin, sein eigenes Vorgehen mit dem des Räuberhauptmanns zu vergleichen. Zum ersten Male bedrückte ihn zentnerschwer die ungeheure Last seiner Verantwortung. Entgegen den Ratschlägen seiner vielerfahrenen Kameraden, der eigenen Ehrsucht zuliebe, hatte er den Feind herausgefordert. Vom blutigen Kriege hatte er den Vorteil gezogen, Kaiser zu werden. Er war allein die Ursache des Zusammenbruches, er allein hatte das namenlose Unglück über dieses gute, bescheidene und fleißige Volk gebracht, welches nichts anderes begehrte, als in Frieden zu arbeiten und zu leben. Rauh wurde er aus seinen herzbeklemmenden Betrachtungen aufgeschreckt durch des siegreichen Generals Stimme: »Kriegsgefangene vor das Haus! Hinrichtungen werden im Freien vollzogen! Dies erspart uns die Mühe, die Leichen der Verurteilten wegzubringen.«
Könnten einer Ameise die Haare zu Berge stehen und könnte schwarze Haut erblassen, Max wäre kreideweiß geworden, und er hätte am ganzen Körper eine Gänsehaut bekommen – wäre er noch ein Kind gewesen.
Zwei Soldaten führten ihn hinaus, und hier konnte er den feindlichen General beim Tageslicht betrachten.
Es war eine Ameise mit kräftigem Körperbau und wohlgeformten Gliedern. Auf seinem Gesichte lag ein so wildverwegener Ausdruck, daß eine ehrliche Ameise zu Tode erschrocken wäre, hätte sie ihm im Mondschein begegnet.
»Wie schade«, sagte Max, dem beim Tageslicht der Mut wieder wuchs, »hätten wir Schutzleute und Gendarmen, dies wäre der erste Galgenvogel, den ich einsperren ließe!«
Der Rote General verstand ihn nicht. Er wandte sich an seine Schergen und befahl:
»Beginnt die Hinrichtungen mit dem Ältesten.«
Max wandte sich um und sah den Professor, der in Sinnen vertieft zwischen seinen Wächtern stand. Als dieser den Befehl des Roten vernahm, erhob er seinen geistvollen Kopf mit Ernst und Würde und sprach:
»Ehe ich sterbe, wende ich mich noch einmal an alle Ameisen der Welt, von welchem Stamme sie auch sein mögen. Alle frage ich: wielange noch soll die unvernünftige Feindschaft herrschen zwischen Völkern, die die Natur zu Brüdern schuf? Gibt es nicht genug gemeinsame Feinde zu bekämpfen unter Insekten der fremden Ordnungen und vor allem unter den Vögeln? – Durch den inneren Ausbau unserer Staaten ragt ihr über alle andern Insekten hervor. Ihr seid ihnen an Geist überlegen, eure Arbeitsfreudigkeit steht einzig da in der Welt. Vereinigt eure Staaten zum großen Völkerbunde! Ihr Ameisen der ganzen Welt, vereinigt euch! Dies ist der letzte Wunsch eines Sterbenden, der lange genug gelebt hat und der euch nun für immer verläßt. Ich nenne euch alle zum Abschied Brüder und Schwestern, und dieser Name soll euch bedeuten: Friede und Verzeihung!«
Max war erschüttert von den aus tiefster Seele gesprochenen Worten dieses ehrwürdigen Ameisengreises, dieses wahrhaften Volksfreundes. Wer weiß, ob nicht auch unter den Roten etliche waren, die von der tiefernsten Rede ergriffen und überzeugt wurden?
Aber hatte vielleicht er sich überzeugen lassen damals, als man ihm Vernunft und Einsicht predigte? Wenn uns jemand auf künftige Gefahren und düstere Möglichkeiten aufmerksam macht, die ein eitles Streben nach vermeintlich großen Dingen in sich schließen, spricht er zu tauben Ohren, und blind rennt der Tor seinen nichtigen Wünschen nach. Kommt dann das große Unglück als Folge seiner Handlungen, dann, ja leider erst dann dämmert ihm die Wahrheit, und er gibt dem weisen Ratgeber recht.
Glaubt ihr also, daß die Roten, die die Schlacht gewonnen hatten und im Siegestaumel ihrer Erfolge waren, den Reden des Professors Gehör schenkten?
Der General gab ein Zeichen, und der erste Kopf, der fiel, war dieses unersetzbare Haupt, abgebissen von den Kieferzangen eines rohen Henkers. In gleicher Weise erging es allen Kriegsgefangenen. Wie entsetzlich, wie schauderhaft aber war für Max der Augenblick, als er unter den Verurteilten seine liebe Pflegemutter erkannte.
»Fuska!« schrie er auf in wütendem Schmerze.
»Gib dich zufrieden meinetwegen«, sprach die Gute; »was wirklich wehe tut, ist der Gedanke, daß unsere Kinder in Sklaverei geraten.«
Max konnte sich nicht mehr länger halten, er sprang vor und rief:
»Nein, nein, schont meine Fuska! Ich selbst, ich bin allein schuld an allem, ich ganz allein! Ich schwöre euch, sie wollte keinen Krieg, ich aber war böse und ungehorsam und wollte ihren Rat nicht hören …«
Weiter kam er nicht. Einige Rote hielten den Erregten fest, und der Kopf der braven Fuska fiel. Max, beinahe wahnsinnig vor Schmerz und gequält von Gewissensbissen, schrie:
»Tötet mich, tötet mich!«
»Halt!« rief da jemand. Alle drehten sich, um zu sehen, wer da komme. Eine Rote Ameise hinkte staubbedeckt heran auf fünf Beinen; das sechste fehlte ihr.