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Das Entkommen aus Opar

Werper war entsetzt. Konnte diese Kreatur wirklich jener würdevoller Engländer sein, der ihn so liebenswürdig in seinem üppigen afrikanischen Heim bewirtet hatte? Sollte wirklich dieses wilde Tier mit leuchtenden Augen und blutigem Aussehen ein Mensch sein? War es möglich, daß der eben gehörte Siegesschrei aus einer Menschenkehle kam?

Mit einem verdutzten Ausdruck besah sich Tarzan den Mann und das Weib, aber er verriet nicht die kleinste Spur von Wiedererkennen. Ihm war es gerade, als wenn er eben eine neue Spielart von Geschöpfen entdeckt hätte und sich im Innern darüber wunderte.

La musterte die Züge des Affenmenschen und machte in langsamem Erstaunen große Augen.

Tarzan! rief sie und fuhr dann in der Sprache der Riesenaffen, welche durch das dauernde Zusammenleben mit den Menschenaffen die Mundart der Oparier geworden war, fort. Tarzan, du bist zu mir zurückgekommen! La hat die Gebote ihrer Religion mißachtet und immer auf Tarzan, ihren Tarzan, gewartet. Sie hat keinen Gatten genommen, denn in der ganzen Welt gibt es nur einen, den La zum Gatten wünscht. Und nun bist du wiedergekommen! O Tarzan! Sage nur, daß du um meinetwillen zurückkommst!

Werper lauschte auf das unverständliche Kauderwelsch und sah von La zu Tarzan. Verstand der letztere diese merkwürdige Sprache? Zu des Belgiers Überraschung antwortete der Engländer ihr augenscheinlich in der gleichen Mundart.

Tarzan! wiederholte er sinnend. Tarzan? Der Name klingt mir vertraut.

Dein Name ist es. Du bist Tarzan! schrie La.

Ich bin Tarzan? Der Affenmensch zuckte die Achseln. Nun schön; es ist ein guter Name – ich weiß keinen anderen, so will ich ihn eben behalten. Aber dich kenne ich nicht. Ich kam nicht deinetwegen hierher. Warum ich hierherkam, weiß ich selbst nicht. Ich weiß auch nicht, woher ich kam. Kannst du es mir sagen?

La schüttelte das Haupt. Das habe ich nie gewußt, erwiderte sie.

Tarzan wendete sich an Werper und stellte ihm die gleiche Frage, aber auch in der Sprache der großen Affen. Werper schüttelte den Kopf.

Ich kann diese Sprache nicht verstehen, sagte er auf Französisch.

Ohne Anstrengung und ohne es selbst zu merken, daß er einen Wechsel vornahm, wiederholte Tarzan seine Frage auf Französisch. Mit einem Male wurde sich Werper über den vollen Umfang von Tarzans Verletzung klar. Der Mann hatte das Gedächtnis verloren und konnte sich nicht mehr an die Vergangenheit erinnern. Der Belgier wollte ihn schon darüber aufklären, als ihm blitzartig der Gedanke kam, wenn er Tarzan – wenigstens eine Zeitlang – über seine Identität im Dunkel ließ, konnte er vielleicht des Affenmenschen Unfall zu seinem Vorteil ausnützen. Ich kann Ihnen nicht sagen, woher Sie kommen, sagte er. Aber das kann ich Ihnen versichern, wenn wir nicht bald aus diesem schauerlichen Platz herauskommen, dann werden wir beide auf diesem blutigen Altar getötet. Das Weib hier wollte mir eben das Messer in das Herz stoßen, als der Löwe die höllische Feier unterbrach. Kommen Sie schnell, lassen Sie uns aus diesem verfluchten Tempel einen Ausgang suchen, ehe sie sich von ihrem Schreck erholen und wieder zusammenkommen.

Tarzan wendete sich wieder an La.

Warum wolltest du diesen Mann töten? Bist du hungrig? Die Hohepriesterin stieß einen Schrei des Ekels aus. Wollte er euch töten? fragte Tarzan wieder.

Das Weib schüttelte den Kopf.

Warum wolltest du ihn denn dann töten? Tarzan suchte der Sache auf den Grund zu kommen.

La hob den schlanken Arm und deutete auf die Sonne: Wir wollten seine Seele dem Feuergott opfern.

Tarzan sah verständnislos drein. Er war wieder ein Affe, und Affen verstehen nichts von Seelen und Feuergöttern.

Haben Sie den Wunsch, zu sterben? fragte er Werper. Der Belgier versicherte ihm mit Tränen, daß er keine Lust dazu hätte.

Nun gut, dann sollen Sie es auch nicht, sagte Tarzan. Kommen Sie! Wir gehen. Dieses Weibchen wollte Sie töten und mich für sich selbst behalten. Aber hier ist kein Platz für einen Mangani. Unter diesen Steinmauern würde ich bald sterben.

Wir gehen jetzt, erklärte er La.

Das Weib sprang auf den Affenmenschen zu und nahm seine Hände in die seinen.

Verlasse mich nicht! schrie sie. Bleibe und du sollst der Hohepriester sein. La liebt dich. Ganz Opar soll dir gehören. Sklaven sollen dich bedienen. Bleibe, Affentarzan, und lasse Liebe deinen Lohn sein.

Der Affenmensch schob das kniende Weib beiseite.

Tarzan begehrt dich nicht, sagte er, trat zu Werper, zerschnitt seine Fesseln und winkte ihm, zu folgen.

Mit verzerrtem Gesicht, keuchend vor Wut, sprang La auf.

Du mußt bleiben, kreischte sie. La will dich haben, und wenn sie dich nicht lebend bekommen kann, will sie dich tot besitzen. Sie erhob ihr Gesicht zum Himmel und stieß den schauerlichen Schrei aus, welchen Werper einmal und Tarzan schon öfter gehört hatte. Alsbald kam als Antwort darauf ein Gewirr von Stimmen aus den umgebenden Räumen und Gängen. Herbei, schützende Priester! Die Ungläubigen haben das Allerheiligste entweiht. Herbei! Jaget Angst in ihr Herz, verteidigt La und ihren Altar, wascht den Tempel mit dem Blute der Schänder rein!

Tarzan verstand das alles, wenn auch nicht Werper. Der erstere sah, daß der Belgier unbewaffnet war. Mit einem schnellen Schritt an Las Seite faßte er sie in seine starken Arme und hatte sie rasch entwaffnet, obgleich sie sich wie ein wildgewordener Dämon wehrte. Das lange Opfermesser reichte er Werper.

Sie werden das brauchen, sagte er, während bereits aus jeder Tür eine Schar der mißgestalteten Männer von Opar in den Tempel strömte.

Sie waren mit Keulen und Messern bewaffnet und fühlten sich durch fanatische Wut und Tollheit ermutigt. Werper war voller Schrecken, aber Tarzan besah den Haufen voller Verachtung und ging langsam auf den Ausgang zu, durch welchen er den Tempel verlassen wollte. Ein plumper Priester vertrat ihm den Weg. Tarzan schwang seinen schweren Speer wie eine Keule, und der Bursche fiel zu Boden.

Wieder und wieder sauste die Waffe nieder, während sich Tarzan langsam seinen Weg nach dem Gange bahnte. Werper drängte sich dicht hinter ihn und warf angstvolle Blicke rückwärts nach dem schreienden, vor Wut tanzenden Haufen, der sie im Rücken bedrohte. Er hielt das Opfermesser für jeden bereit, der sich in seinen Bereich wagen würde, aber es kam keiner. Er wunderte sich eine Zeitlang, warum sie so mutig mit dem riesigen Affenmenschen kämpften, während sie sich an ihn, den viel Schwächeren, nicht heranwagten. Und er wäre doch schon ihrem ersten Angriff erlegen. Aber Tarzan hatte bereits über die Leichen der sämtlichen im Wege gewesenen Priester hinweg den Ausgang erkämpft, ehe Werper den Grund seiner Unverletzlichkeit erkannte. Die Priester scheuten das Opfermesser. Gerne wollten sie dem Tode ins Angesicht sehen und ihn in der Verteidigung ihrer Hohepriesterin und ihres Altars sogar willkommen heißen, aber augenscheinlich war Tod und Tod zweierlei. Irgendein merkwürdiger Aberglaube war mit der polierten Klinge verknüpft, so daß kein Oparier sich einem Tode durch sie aussetzen wollte, während sie sich doch kampfesfroh dem schrecklichen Affenmenschen entgegenwarfen.

Werper teilte dem anderen seine Entdeckung mit, sobald sie aus dem Tempel heraus waren. Der Affenmensch lachte und ließ Werper, die juwelengeschmückte Waffe schwingend, vorausgehen. Wie Spreu vor dem Wind stoben die Oparier nach allen Seiten auseinander, Tarzan und der Belgier fanden den Weg durch Gänge und Räume des alten Tempels offen.

Als sie durch den Raum mit den sieben massiv goldenen Säulen kamen, riß der Belgier die Augen auf. Mit schlecht verhaltener Habsucht besah er die uralten, goldenen Tafeln an den Wänden fast aller Räume und vieler Gänge, während dem Affenmenschen all dieser Reichtum nichts zu sagen schien.

Auf dem weiteren Wege kamen sie auf die breite Straße zwischen den ehrwürdigen Mauerresten der Ruinen von Opar und der inneren Stadtumwallung. Große Affen schnatterten auf sie herab und bedrohten sie, aber Tarzan antwortete ihnen in ihrer Art und gab Spott mit Spott, Schimpf mit Schimpf und Drohung mit Drohung zurück.

Werper sah, wie ein haariger Affenbulle sich von einer gebrochenen Säule herabschwang und mit gesträubtem Haar steifbeinig auf den nackten Riesen losging. Er zeigte die gelben Fänge und rollte drohend ein wütendes Schnarren und Bellen über seine dicken Hängelippen.

Der Belgier sah sich nach seinem Gefährten um und erblickte mit Schaudern, wie sich der Mensch bückte, bis die geschlossenen Fäuste gleich denen des Affen auf dem Boden ruhten. Dann umkreiste Tarzan steifbeinig genau wie der Affe den bogenschlagenden Affen. Aus der Menschenkehle kamen dieselben tierischen Bell- und Knurrlaute wie aus dem Affenmaul. Mit geschlossenen Augen hätte Werper keinen Unterschied zwischen beiden machen können; es war die gegenseitige Herausforderung zweier Affen.

Aber diesmal kam es nicht zum Kampf. Die Sache endete wie die Mehrzahl der Dschungelbegegnungen – der eine der Prahlhänse verliert die Nerven und interessiert sich plötzlich lebhaft für ein fliegendes Blatt, einen Käfer oder für die Tierchen auf seinem behaarten Leibe.

In diesem Falle zog sich der Menschenaffe in steifer Würde zurück, um eine unglückliche Raupe zu untersuchen, welche er schleunigst verzehrte. Für einige Zeit schien Tarzan Lust zu haben, den Gegenstand weiter zu erörtern. Er spazierte wild einher, warf sich in die Brust, brüllte und ging näher an den Bullen heran. Aber schließlich überredete ihn Werper mit vieler Mühe den Affen in Ruhe zu lassen und den Weg aus der alten Stadt der Sonnenanbeter fortzusetzen.

Soweit Werper beurteilen konnte, hatte Tarzan keine Ahnung mehr, wer er war und woher er kam. Er trollte ziellos auf der Suche nach Nahrung umher, die er unter kleinen Steinen oder im Schatten von Sträuchern fand.

Dem Belgier grauste es vor der Mahlzeit seines Gefährten. Käfer, Kriechtiere und Raupen wurden mit Vergnügen verspeist. Tarzan war in der Tat wieder ein Affe geworden.

Endlich gelang es Werper, seinen Genossen nach den fernen Hügeln am Nordrand des Tales zu führen, und zu zweien machten sie sich nach der Greystoke-Farm auf.

Welcher Grund den Belgier bestimmte, das Opfer seiner Verräterei und Habsucht nach seinem früheren Heim zu führen, läßt sich nicht erraten. Möglicherweise dachte er, daß ohne Tarzan kein Lösegeld für Tarzans Weib gezahlt werden könne.

Sie nächtigten in dem Tale jenseits der Hügel und saßen vor einem kleinen Feuer, an dem ein wildes Schwein röstete, das Tarzans Pfeil erlegt hatte. Dieser hockte ganz in Grübeln verloren. Anscheinend suchte er in einem fort einen Gedanken zu erhaschen, der ihm immer wieder entschlüpfte.

Zuletzt öffnete er die Ledertasche an seiner Seite und schüttete sich eine Anzahl glitzernder Edelsteine in die hohle Hand. Das Licht des Feuers rief darauf eine Unzahl leuchtender Strahlen hervor, und als die Augen des Belgiers sie erblickten, zeigte sein entzückter Gesichtsausdruck, daß nunmehr für ihn ein greifbarer Grund bestand, die Gesellschaft des Affenmenschen zu teilen.


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