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Hier: tiefer Friede auf den stillen Auen,
Ein fleißig Völkchen mit zufriednem Sinn,
Dort: schrilles Angstgeschrei und banges Grauen,
Es tobt das Meer und reißt sein Opfer hin.
Ein klarer Novemberhimmel spannte sich über dem südlichen Teil der Bretagne aus; die Landstraße, welche die Städtchen Questembert und Muzillac verbindet und sich anmutig zwischen Feldern und Wiesen, durch Thal und Hügel hinschlängelt, glitzerte in den bleichen Strahlen der aufgehenden Sonne, als wäre sie mit Diamantenstaub beschüttet; die Hecken, welche sie zu beiden Seiten begrenzen, die Bäume, die von Zeit zu Zeit ihre formlosen Kronen daraus emporstrecken, die Grashalme am Wege: alles war mit weißem, schimmerndem Rohrreif überzogen. Der Horizont war noch von bläulichem Morgennebel umschleiert und schien sich in endlose Fernen zu verlieren; die kahlen Äste, denen der Herbststurm die letzten Blätter geraubt hatte, die kleinen Vögelchen, die mit kläglichem Gezwitscher umherhüpften, um ihr mageres Frühstück zu suchen, die großen Raben, die auf der öden, weißen Landstraße noch größer und schwärzer erschienen – alles zusammen gab der Landschaft ein Gepräge der Einsamkeit und Verlassenheit. Kein Arbeiter ließ sich blicken, denn die letzten Feldfrüchte waren eingebracht, und die Saat hatte noch nicht begonnen; keine menschliche Wohnung war zu sehen, man hätte glauben können, die Gegend sei gänzlich menschenleer.
Jetzt erschallte auf dem hartgefrorenen Boden der feste Tritt eines Fußgängers; die Raben flogen kreischend davon, die keckeren Sperlinge begnügten sich, den Weg zu räumen und sich auf die Hecken oder die Steinhaufen am Wege zu flüchten. Der Wanderer trug mit Stroh gefütterte Holzschuhe und einen Anzug von Leinwand, wie im hohen Sommer, er schien sich wenig um den kühlen Morgen zu bekümmern. Seine langen Haare fielen bis auf die weiße Jacke herab, und ein großer, schwarzer Filzhut, den Regen und Sonnenschein so oft gewaschen, gebleicht und aus der Form gebracht hatten, daß er kaum noch seinen Namen verdiente, beschattete ein runzelvolles Antlitz, in dem ein paar dunkelblaue Augen glänzten, während in dem zahnlosen Munde eine kurze, durch langen Gebrauch geschwärzte Pfeife steckte.
Der Mann trug einen langen Sack auf der Schulter, denn er war ein Bettler und begann mit dem neuen Tage seine Wanderung durch die Bauernhöfe des Landes. Er hatte keineswegs das kümmerliche, gedrückte Aussehen seiner städtischen Kameraden; auf dem Lande Die freundlichen Leserinnen wollen beachten, daß die Bretagne der Schauplatz unserer Erzählung ist. kann ein Bettler immer auf freundliche Aufnahme rechnen, weil das, was er bringt, wohl die Gabe aufwiegt, die er empfängt: er ist der Bote, welcher die Neuigkeiten von einem Ort zum andern trägt, er lauscht die Rezepte aus, die er hier und da gelernt hat, er singt ein neues Lied oder eine Legende, und so ist er überall gern gesehen.
Der Bettler blieb stehen, legte die Hand über die Augen und blickte scharf um sich. Ein leichter Rauch, der in der Ferne aufstieg, zeigte ihm seinen Weg; er verließ die Landstraße, öffnete ein Pförtchen, welches einen Fußpfad zwischen zwei Hecken verschloß, und schritt rüstig weiter, bis aus dem dichten Nebel die Umrisse zweier Türmchen auftauchten und zugleich das monotone Geräusch der Wäscheschlägel an sein Ohr drang – Zeichen, daß Schloß Doué nahe sei.
Schloß Doué war trotz seines stolzen Namens nur ein einfaches Bauernhaus; es war lange her, seit dort edle Ritter gewohnt hatten, und selbst die ältesten Leute konnten sich der Zeit nicht mehr erinnern, wo hier eine Burg gestanden. Die stattlichen Gebäude waren eingestürzt, ihre Trümmer hatten die Schloßgräben ausgefüllt; Zeit und Menschenhände hatten gemeinsame Sache gemacht und das alte Mauerwerk so weit zerstört, daß nur ein Flügel und zwei Taubenschläge übrig geblieben waren, in denen die Nachtvögel ihr Wesen trieben. Endlich war ein obdachloser Bauer gekommen, hatte gefunden, daß die Ruinen noch einen leidlichen Schlupfwinkel für einen armen Teufel darböten, der sonst kein Dach und Fach sein eigen nannte; er hatte die Dornen ausgerodet, den Boden umgebrochen, die Steine abgetragen. Seine Kinder hatten sein Werk fortgeführt, und nach drei oder vier Generationen war Schloß Doué ein blühender Bauernhof geworden. Die alten Steine hatten sich zu Ställen und Schuppen zusammengefügt; die sorgfältig bestellten Felder bedeckten sich mit dem Blütenschnee des Buchweizens und den goldigen Ähren des reifen Getreides, und zahmes Geflügel pickte die Körner auf, wo ehemals nur Eulen und Seeadler gehaust hatten. Nur aus alter Gewohnheit und aus Achtung vor den beiden Türmchen sagte man immer noch: das Schloß, und da nahe am Hof ein Teich, der Doué, lag, in welchem in diesem wasserarmen Landstrich alle Frauen der Umgegend ihre Wäsche wuschen, so nannte man danach den ganzen Bauernhof: Schloß Doué.
In dem Augenblick, wo der Bettler vor der gewölbten Thür ankam, über der eine alte, halb verloschene Jahreszahl in Stein gehauen war, trat eine Frau heraus.
»Gott segne Euch, Katharina!« sagte er.
»Habt Dank, Jean Kerlo! Wie lange habt Ihr Euch nicht bei uns sehen lassen! Kommt herein und laßt es Euch schmecken; ich habe eben die Klöße vom Feuer genommen.«
Die Frau, die den Alten so freundlich empfing, mochte etwa vierzig Jahre alt sein; sie war klein und behende, hatte lebhafte schwarze Augen und braunes Haar, das nur in zwei schmalen Streifen unter der Haube sichtbar wurde. Sie ließ Kerlo eintreten; er begrüßte die Hausgenossen mit dem üblichen Segenswunsch und setzte sich an das Ende des langen Tisches, der von Alter schwarz und vom langen Gebrauch blank geworden war, während Katharina eine große Schüssel mit dampfenden Klößen vor ihn hinsetzte. Alle warteten ruhig, bis er seinen Hunger gestillt hatte, ehe sie eine Frage an ihn richteten.
Am Tische saßen drei Personen von sehr verschiedenem Alter, ein Kind, ein kräftiger Mann und ein Greis. Der, welchen Katharina mit einem Gemisch von Zärtlichkeit und Ehrerbietung anredete, war Michel Tregan, ihr Ehegatte; er hatte eine stattliche Figur, und sein gebräuntes Gesicht, in dem die sanften, blauen Augen fast schüchtern um sich blickten, trug den Stempel der größten Gutmütigkeit. Er war der eigentliche Herr des Hauses, denn sein Vater, der alte Jakob, hatte ihm die Wirtschaft übergeben müssen, nachdem ihn das Unglück getroffen, vom Pferde zu stürzen und lange hilflos am Boden liegen zu bleiben. Seitdem blieb ihm die eine Seite gelähmt; er konnte nicht mehr arbeiten und brachte seine Tage damit zu, seine Pfeife zu rauchen, gute Ratschläge zu erteilen und seine Umgebung fortwährend zu schelten, denn er war überzeugt, daß jeder seine Sache schlecht mache. Er sah mürrisch und eigensinnig aus, und man brauchte ihn nur anzusehen, um zu wissen, daß auf Schloß Doué kein ununterbrochener Friede herrschen könne.
Am äußersten Ende der Bank saß ein Knabe von acht bis zehn Jahren, dessen Schönheit einen Maler entzückt haben würde; das reine Profil, die großen, in feuchtem Glanze schimmernden Augen, die goldblonden Locken, die den Kopf wie einen Heiligenschein umflossen, gaben ihm das Aussehen eines Engels. Aber die schönen Augen hatten einen irren Ausdruck, der Mund sprach nur wenige, unzusammenhängende Worte: dem reizenden Körper fehlte die vernünftige Seele. Ludwig, das jüngste Kind von Michel und Katharina Tregan, war, wie man in der Bretagne sagt, »einfältig«, aber seine Einfalt war die eines reinen Herzens und erinnerte unwillkürlich an das Wort der Heiligen Schrift, welches die Geistlicharmen und Einfältigen selig preist. Auch fühlte er sich nicht unglücklich; er durfte frei umherstreifen, denn niemand that ihm etwas zu Leide, jeder liebte ihn, und wenn sein Großvater zuweilen in bittere Klagen über den unfähigen Enkel ausbrach, so kümmerte das den Knaben wenig, denn er verstand kaum etwas davon.
In der Küche befanden sich noch zwei Frauen, welche am Herde beschäftigt waren, die eine das Feuer zu schüren, die andere die Buchweizenkuchen zu backen. Das gebeugte Mütterchen mit einem Gesicht voll Runzeln, wie eine verschrumpfte Reinette, war Monika, die Frau des alten Jakob, das schlanke, junge Mädchen, das sich seiner frischen Schönheit wohl bewußt schien, war Anna, ihre Enkelin.
Der Bettler war mit seiner Mahlzeit fertig. »Woher kommt Ihr heute früh, Kerlo?« fragte der alte Tregan.
»Ich komme aus Vannes und gehe nach Lauzac; Jean Pormichet verheiratet seine Tochter; da giebt es ein großes Fest, gut zu essen und reichliche Almosen. Ich habe einen ganzen Sack voll Lieder und Neuigkeiten, denn ich mag nicht mit leeren Händen in ein Haus kommen, wo man arme Leute freundlich empfängt.«
Anna brachte dem Bettler einen dampfenden Kuchen.
»Vielen Dank, mein hübsches Kind!« sagte Kerlo. »Schön Ännchen blüht wie eine Pfingstrose, ganz wie ihre Mutter vor fünfundzwanzig Jahren. Erinnert Ihr Euch noch, Michel?«
Michel lachte und nickte seiner Frau herzlich zu.
»Ich hoffe doch, Ihr verspart Euch Eure Neuigkeiten nicht alle bis zur Hochzeit, Vater Kerlo,« sagte Anna schmeichelnd.
»Seht doch, wie neugierig die hübsche Kleine ist! Nein, nein, Ihr sollt sie hören – gebt mir eine Prise Tabak zum Lohn, oder laßt mich auch nur in Euer frisches Gesicht sehen. Also erstens: in Lorient ist eine Fregatte vom Stapel gelaufen – solch einen Segler hat die Welt noch nicht gesehen. Zweitens: der Schneider, der für alle Bursche im Lande den Freiwerber machte, bekam den Einfall, selbst zu freien, und hat sich an die schöne Lena, die reichste Erbin des Dorfes gemacht.«
Alle lachten laut; die Anmaßung des Schneiders war offenbar kolossal.
»Ihr könnt euch denken, wie das Mädchen ihn abgetrumpft hat! – Ich weiß auch Trauriges zu erzählen,« fuhr Kerlo fort, »es hat ein großes Unglück auf der See gegeben; wartet, ich kann euch das Nähere vorlesen.«
Er zog ein zerknittertes Zeitungsblatt aus der Tasche, suchte lange nach dem richtigen Artikel und fing endlich zu lesen an, indem er mit dem Finger die Reihen verfolgte und oft anhielt, um schwierige Worte herauszubuchstabieren.
»In der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch wurde das Postschiff, welches die Passagiere zwischen Lorient und Saint-Nazaire befördert, von einem amerikanischen Dampfboot überfahren. Es sank sofort, während der Dampfer sich schleunigst entfernte, ohne den Unglücklichen, die mit den Wellen kämpften, die geringste Hilfe zu leisten.«
»Ha, die Schurken!« rief Michel und schlug heftig mit der Faust auf den Tisch, »und die wollen Christen sein!« Ludwig schrak zusammen und sah ihn fragend an, versank aber gleich wieder in seine teilnahmlose Ruhe.
»Ist denn niemand gerettet?« fragte Katharina.
»Ja hört nur weiter: Die Brigg, le Sauvage, welche sich in der Nähe befand, hörte den Notschrei der Ertrinkenden und begab sich sofort auf die Unglücksstelle. Es gelang der Mannschaft, siebenundzwanzig Personen zu retten, während mindestens dreißig weitere ihren Tod fanden. Ein fünfzehnjähriges Mädchen, Fräulein Garay, wurde ohnmächtig aus dem Wasser gezogen, ihre erstarrten Hände waren fest um eine Planke geklammert.«
»Fräulein Garay – heißt sie wirklich Garay?« rief Katharina lebhaft und griff nach dem Arm des Bettlers.
»Ja wohl, seht selbst, hier steht der Name.«
»Ach, ich kann nicht lesen! Arme, kleine Magdalene! – ist sie auch sicher nicht ertrunken?«
»Nein, sicher nicht, hier steht's ja gedruckt. Hört nur: Sobald sie zu sich kam, rief sie nach ihrem Vater, aber leider sollte dieser ihrem Ruf nie wieder antworten! Die Verzweiflung der Unglücklichen, als sie inne wurde, daß sie eine Waise sei, war herzzerreißend, und sie hätte sich wieder ins Meer gestürzt, wenn der Kapitän sie nicht mit Gewalt zurückgehalten hätte. Herr Garay, Direktor eines unserer größten Bankinstitute, wird in Nantes, wo er seit mehreren Jahren wohnte, aufrichtig betrauert werden.«
»Meine arme kleine Magdalene!« seufzte Katharina, die Hände ringend. »Ach, mir blutet das Herz, wenn ich an sie denke. Ihre Mutter ist so lange tot, sie hat keine anderen Verwandten – o gewiß hat sie niemand, an dessen Herzen sie ihren Jammer ausweinen kann! Guter Gott, was soll aus ihr werden!«
Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und hörte nicht mehr auf die weitere Beschreibung, die Kerlo vorlas. Plötzlich erhob sie sich mit dem Ausdruck eines festen Entschlusses, setzte ihre Holzpantoffeln in einen Winkel und zog ein paar derbe Lederschuhe an; dann nahm sie eine kleine Büchse aus dem Schrank, schüttete ihren Inhalt, der aus verschiedenen Geldstücken bestand, auf den Tisch, und nachdem sie die Hälfte in ihre Tasche gesteckt hatte, ergriff sie ihren Mantel und schickte sich an, das Haus zu verlassen.
»Wohin, Katharina?« fragte ihr Schwiegervater.
»Mein armes Pflegetöchterchen, das ich selbst genährt habe, ist einsam und unglücklich und hat vielleicht niemand, der es tröstet! Ich muß zu ihr – gewiß sehnt sie sich nach ihrer alten Amme. Komm, Michel, bringe mich bis zum Omnibus; er muß gleich vorüberfahren und bringt mich noch zur Zeit nach Questembert, um den Zug nach Nantes zu benutzen. Armer kleiner Liebling, wie jammerst du mich!«
»Wirst du das erlauben, Michel?« fragte Jakob ärgerlich. »So viel Geld ausgeben – um nichts!«
»Es ist mein eigenes Geld,« versetzte Katharina, »ich habe es mir mit der Spindel erworben und kann es nach meinem Gefallen verwenden.«
»Magdalene Garays Vater hat auch nicht nach der Ausgabe gefragt, als er uns aus der Not half,« sagte Michel sanft, »und wenn Katharinas Herz an dieser Reise hängt – –«
Er konnte nicht vollenden, denn seine Frau zog ihn mit sich fort, sie fürchtete, den Omnibus zu verfehlen.
»Zu meiner Zeit,« brummte Jakob, »hatten die Männer zu befehlen und die Weiber zu gehorchen, und die Welt befand sich besser dabei, als heutzutage.«
Seine Frau nickte beistimmend, die hübsche Anna aber wendete sich mit einem Lächeln um, in dem deutlich geschrieben stand: »Wenn ich einmal einen Mann nehme, so soll er meinem Vater und nicht meinem Großvater gleichen.«