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Frau von Tournemond rauschte majestätisch über den Bahnsteig, mit ihrem Affen auf dem Arme.

Siebzehntes Kapitel.
Erfüllte und getäuschte Hoffnungen.

Ein Schifflein stößt vom Ufer –
Zu froher Fahrt: Glück auf!
Es ist der Wind ihm günstig,
Bald ist am Ziel sein Lauf.

Doch ach! statt grüner Fluren
Trifft es auf dürren Sand.
Wann kommst du, armes Schifflein,
An einen schönern Strand? –

Nantes!« rief der Schaffner in die Wagenthür hinein. Frau von Tournemond erwachte aus ihrem Schlummer und ging daran, ihre Tiere und Gepäckstücke zusammen zu suchen. »Amaryllis, meine Liebe, geh in dein Körbchen, wir sind am Ziel. Jenny, machen Sie den Hundekorb fest zu, Manitu bleibt bei mir. Haben Sie alle Reisetaschen? Die blaue, die rote, die gestickte, die von Juchtenleder? Die Schirme, die Decken? Knöpfen Sie mir meinen Mantel zu, und helfen Sie mir beim Aussteigen.«

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Magdalene sprang heraus und bot der alten Dame die Hand, was ihr einen dankbaren Blick der vielgeprüften Jenny einbrachte. Diese blieb im Wagen und reichte ihrer Gebieterin die zahllosen Gepäckstücke heraus, welche das Coupé anfüllten.

»Gut, wir haben alles,« sagte Frau von Tournemond, »nun fort! Jenny, nehmen Sie das Körbchen mit Amaryllis und den Hundekorb, die Taschen, die Schirme, die Decken, und nun gehen Sie schnell und besorgen Sie einen Wagen und das Gepäck. Nehmen Sie sich in acht, Sie lassen ja alles fallen – wie kann man so ungeschickt sein! Mein liebes Kind, dürfte ich Sie bitten – Sie sehen, wir sind wie Schiffbrüchige oder Abgebrannte, die alles retten, was sie irgend tragen können und wohl noch etwas darüber –, wollen Sie nicht die Freundlichkeit haben, uns bei diesem unserem Rettungswerk behilflich zu sein?«

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Magdalene hatte das Ende dieser Rede nicht abgewartet, um Jenny einen Teil ihrer Bürde abzunehmen. Diese lief nun schleunigst davon, und Frau von Tournemond rauschte majestätisch über den Bahnsteig, mit ihrem Affen auf dem Arme und ihrer langen Schleppe hinter sich. Plötzlich rief sie: »O, mein Gott, ich habe Jenny nicht gesagt, daß sie einen geheizten Wagen nehmen soll! Mein liebes Kind, seien Sie so freundlich, Manitu eine Sekunde lang zu behüten, ich bin gleich wieder da.«

Sie legte den Affen dem erschrockenen Mädchen in den Arm und entfernte sich. Magdalene blieb in der unbehaglichsten Stimmung zurück; sie sah sich die Menge an, die hier hin- und herströmte: lauter fremde Gesichter, welche ihr neugierige Blicke zuwarfen, wie sie dastand, so jung und ganz allein, mit einem Affen und zahlreichem Gepäck beladen. Sie dachte an frühere, glückliche Zeiten, wo sie oft mit ihrem Vater diesen Bahnhof betreten hatte, um irgend eine Vergnügungsreise zu machen – und Thränen füllten ihre Augen, war denn niemand da, um sie abzuholen und sich ihrer anzunehmen?

Da kam Jenny eilig zurück, sie bat wegen der langen Verzögerung um Entschuldigung; es hätte so viel Zeit gekostet, bis sie die gnädige Frau glücklich im Wagen untergebracht habe. Sie bot ihr an, das Gepäck und einen Wagen zu besorgen, da sie von niemand erwartet zu werden schiene.

»Vielleicht finde ich draußen jemand,« erwiderte Magdalene, »ich wagte nicht fortzugehen, ehe Sie kämen.«

»Dann kommen Sie schnell, Fräulein, denn ich darf die gnädige Frau nicht so lange warten lassen; sie läßt sich Ihnen bestens empfehlen.«

Magdalene hatte sich nicht getäuscht: auf dem Bürgersteig vor dem Bahnhof ging ein alter Herr, sehr groß und mager, mit ungeduldigen Schritten auf und nieder, wobei er die Thür des Gebäudes nicht aus den Augen ließ. Sie hatte ihn nur einmal gesehen, aber sie erkannte ihn sofort und ging mit einem Lächeln auf ihn zu. Er war seiner Sache weniger sicher, denn sie war inzwischen aus einem halben Kinde ein junges Mädchen geworden, und erst, als sie ihn mit seinem Namen anredete, wurde es ihm klar, daß er wirklich Magdalene Garay vor sich habe.

Er begrüßte sie ehrerbietig und fragte mit seiner heisern Stimme: »Wie befinden Sie sich, mein Fräulein Cousine?«

»Ich danke, es geht mir gut, lieber Onkel. Sind Sie um meinetwillen hergekommen?«

Hauptmann Bauqueur errötete fast vor Vergnügen über diese verwandtschaftliche Anrede. »Gewiß«, versetzte er, »verfügen Sie ganz über mich, liebe Cousine. Wollen Sie mir Ihren Gepäckschein anvertrauen? Doch zuerst muß ich der gnädigen Frau meinen verbindlichsten Dank für die gütige Begleitung sagen …«

»Bitte, bitte,« sagte Jenny abwehrend, »ich werde es der gnädigen Frau bestellen; ich bin froh, daß ich die junge Dame nicht allein lassen darf. Empfehle mich den Herrschaften.«

Der Hauptmann stand ganz starr. »Was«, rief er, »sie ist nicht die Dame selbst? Ist das eine Art, eine junge Dame der Kammerjungfer zu überlassen, wenn man die Ehre hat, sie begleiten zu dürfen? Was giebt es für Menschen in dieser Welt! Doch nun kommen Sie; ich habe zwei Zimmer in einem kleinen Gasthause gemietet; es ist nicht weit von hier und ganz nahe bei der Präfektur, wo morgen das Examen abgehalten wird. Wir speisen zusammen, dann schlafen Sie sich gründlich aus. Morgen führe ich Sie hin; Herren dürfen zwar nicht in den Saal, aber ich warte draußen auf Sie. Wenn Sie alles glücklich hinter sich haben, wird Ihnen der Notar über Ihre Angelegenheiten Bericht erstatten.«

Magdalene drückte ihrem wackeren Verwandten in herzlicher Dankbarkeit die Hand und stieg mit ihm in den Wagen, den er bereit gehalten hatte. Sie war nicht mehr traurig, denn sie fühlte sich unter sicherem Schutz; in glücklicher Stimmung richtete sie sich in dem kleinen Zimmer des Gasthofes ein, aß mit gutem Appetit und schlief, trotz des Geräusches der großen Stadt, von dem ihr Ohr lange entwöhnt gewesen, so fest und schön, daß sie am nächsten Morgen mit frischem Geist erwachte und das schriftliche Examen ihr gar nicht schwer erschien. Sie dachte dankbar an Lorenz, der sie so gut vorbereitet hatte.

Onkel und Nichte saßen am nächsten Tage bei einem fröhlichen kleinen Mahl zusammen. »Sie sind also sicher, meine liebe Kleine, daß Sie Ihr Examen gut bestehen werden?« fragte der Hauptmann. »Das ist sehr brav und freut mich aufrichtig. Aber Sie müssen tüchtig essen: nehmen Sie etwas von diesem Hühnerbraten und trinken Sie ein Glas Wein dazu, das wird Ihnen Kräfte für den letzten Prüfungstag geben, und nachher hoffe ich, werden Sie meinen Arm nehmen und einen kleinen Spaziergang machen; Sie haben von acht Uhr früh bis zu Mittag still gesessen – es ist ja viel zu viel für solch ein zartes Wesen!«

Magdalene lächelte gerührt über seine Fürsorge; es kam ihr vor, als wäre ihr Vater und ein Teil ihres früheren Lebens wiedergekehrt. Alles erschien ihr heiter und anziehend: die belebten Straßen der Stadt, die Denkmäler, die Menschen, selbst der große Saal der Präfektur, wo sie unter den Augen von drei ernsthaften, steifen Herren schwierige Exempel gerechnet und einen Geschichtsaufsatz gemacht hatte, bis zu ihrem Stübchen im Hotel und dem einfachen Tische, an dem sie speisten. Noch ein Tag, dann war das Examen zu Ende, aber sie hatte bisher schon so viele Lobsprüche empfangen, daß sie über den Ausgang ohne Sorge war. Sie mußte oft an Lorenz denken, dem sie so viel verdankte; er war wohl ebenso gut wie Hauptmann Bauqueur, der ausdrücklich von Trentemoult herübergekommen war, um sie zu beschützen, und der so liebevoll für sie sorgte, als ob er keine andere Lebensaufgabe hätte. Wenn sie morgens aus ihrem Zimmer trat, war er schon da und führte sie an den Frühstückstisch; dann begleitete er sie bis an die Thür des Prüfungssaales, erwartete sie wieder, wenn sie fertig war, und ging mit ihr spazieren – kurz, er hatte keinen andern Gedanken als den, ihr die Zeit so angenehm wie möglich zu machen. Am letzten Tag erschien er etwas melancholisch, Magdalene konnte sich nicht erklären, warum; aber er dachte daran, daß dieses reizende Zusammenleben bald enden müsse, und er hätte es so gern noch eine lange Weile fortgesetzt. Freilich würde seine Börse dies nicht länger ausgehalten haben; hatte er doch manchen Monat sparen müssen, um diese drei Tage im Gasthause bezahlen zu können.

Als am Schluß der letzten Sitzung der Vorsitzende der Prüfungskommission verkündete, daß Fräulein Magdalene Garay ihr Examen »mit Auszeichnung« bestanden habe, ließ sich an der Thür des Saales ein brummender Ton hören, den Magdalene sehr gut kannte. Sie wandte schnell den Kopf dorthin und sah den Hauptmann, der zwar außerhalb stehen geblieben war, seinen Kopf aber weit vorstreckte und sein beifälliges Gebrumm in den Saal hineinschickte. Sie nickten sich lächelnd zu, und als sie entlassen war, führte er sie im Triumph davon, indem er wiederholt versicherte, daß dies sehr brav sei und ihn aufrichtig freue.

»Wissen Sie, Cousinchen, wo wir heute speisen werden?« fragte er das junge Mädchen.

»Nein, lieber Onkel, aber da es erst fünf Uhr ist, so werden Sie vielleicht die Güte haben, mich zu Herrn Daussier zu bringen, der mir nach bestandenem Examen seine Vorschläge machen wollte.«

»Bei ihm werden wir zu Mittag essen, er hat uns dringend dazu eingeladen, denn er hat wichtige Dinge mit Ihnen zu reden.«

»Das ist schön,« sagte Magdalene mit strahlendem Gesicht. »Ich möchte aber zuerst nach dem Gasthause gehen, um meinen Anzug zu ordnen und Ihnen, lieber Onkel, Ihre Krawatte in eine neue Schleife zu binden.« Der Hauptmann war ordentlich stolz bei dieser Aussicht.

Als es sechs Uhr schlug, betraten beide die Wohnung des Notars, wo sie mit einem wahren Sturm von schönen Reden empfangen wurden; Magdalene war fast betäubt von der Flut von Glückwünschen und Schmeicheleien, mit denen man sie überschüttete. Man hätte nie ein so glänzendes Examen erlebt, hieß es; welch eine seltene Begabung gehöre dazu, sich in der Abgeschiedenheit eines bretonischen Dorfes so vorzubereiten, um alle Welt in Erstaunen zu setzen. Und wie wäre Magdalene in einem Jahre gewachsen; sie sähe so frisch aus wie eine junge Rose, die Landluft wäre ihr erstaunlich vorteilhaft gewesen. Es dauerte eine ganze Weile, bis das junge Mädchen die nötige Ruhe und Muße fand, sich die redenden Personen anzusehen.

Da war zuerst Herr Daussier, der sie mit einer amtlichen Würde beglückwünschte; dann seine Frau, die mit den leichten Formen einer Dame von Welt hauptsächlich die äußeren Vorzüge hervorhob, und endlich eine magere, sehr verblühte Dame, die Magdalene zuerst nicht erkannte. Sie hatte zwar eine schwache Erinnerung an ihre Person, doch stimmte diese gar nicht mit den zärtlichen Ausdrücken und dem liebevollen Lächeln überein, womit die Dame sie anredete; die Schmeichelworte: mein Liebling, mein Engel, ließen sie ganz im Dunkeln, erst die Benennung: meine liebe kleine Cousine machte ihr die Sache klar: es war Frau Reichmann, die sie so überaus liebenswürdig begrüßte.

Magdalene zog bei dieser Entdeckung ihre Hand zurück und richtete sich höher auf, um sich den Liebkosungen dieser Verwandten zu entziehen, welche ein Jahr vorher sich von einer ganz andern Seite gezeigt hatte; aber jene schien es nicht zu bemerken, und da sich eben die Thüren des Speisezimmers öffneten, so kam es zu keiner Aussprache. Auch hält es nicht schwer, in der Seele eines sechzehnjährigen Mädchens einen ungünstigen Eindruck zu verwischen; Frau Reichmann zeigte sich so herzlich und entgegenkommend, daß Magdalene am Ende dachte, sie hätte sie zu hart beurteilt, und sich dem Einfluß ihrer Liebenswürdigkeit nicht entzog.

Nach dem Essen bat der Notar das junge Mädchen, ihm in sein Arbeitszimmer zu folgen. Er bot ihr einen Stuhl an, räusperte sich und sagte, indem er einen Haufen Papiere auf den Tisch legte:

»Mein liebes Fräulein, ich habe den glücklichen Ausgang Ihres Examens abgewartet, um mit Ihnen über Ihre Verhältnisse zu sprechen. Vor allem war es nötig, Ihnen einen Vormund zu geben.«

»Und wer ist dieser?« fragte sie.

»Hauptmann Bauqueur.«

»O, das freut mich, er ist so gut und freundlich!«

»Gewiß ist er das, aber dennoch werden Sie einsehen, daß Sie bei ihm nicht leben können; daher haben wir uns Mühe gegeben, Sie in einem andern, verwandten Hause unterzubringen.«

»Aber, Herr Notar, ich hoffte bestimmt, Sie würden mir behilflich sein, eine Stelle als Erzieherin zu finden. Ich habe mein Examen gemacht, um unabhängig zu sein und für mich selbst sorgen zu können.«

»Gewiß, wenn es unbedingt nötig wäre, aber so weit sind wir noch nicht, denn bei Ihrer Bildung und Ihren sonstigen Vorzügen könnte sich wohl in einigen Jahren eine passende Partie für Sie finden. Auch muß ich bemerken, daß eine junge Dame mit sechzehn Jahren noch nicht so viel Vertrauen einflößt, um ihr die Erziehung von Kindern zu übertragen.«

Magdalene sah ihre stolzen Luftschlösser kläglich zusammenfallen. »Aber, Herr Notar, was hilft mir denn das Zeugnis, das ich eben erlangt habe? O, ich bitte Sie, helfen Sie mir eine Stelle als jüngste Lehrerin finden; wenigstens werde ich dabei meinen Unterhalt erwerben.«

»Beruhigen Sie sich, mein liebes Fräulein, Sie wissen nicht, was Sie verlangen. Eine Unterlehrerin in einem Institut muß von sechs Uhr morgens bis neun Uhr abends auf den Beinen sein, in einem großen Schlafsaal schlafen und auf jeden freien Augenblick verzichten und mit alledem erwirbt sie nicht mehr als 300 Franken im Jahr. Nein, eine solche Stelle dürfen Sie nicht annehmen.«

»Aber was soll denn aus mir werden?« rief das junge Mädchen in halber Verzweiflung.

»Wir haben im Familienrat einen Beschluß gefaßt: Frau Reichmann, die Sie bei mir getroffen haben, will Sie sogleich zu sich nehmen.«

»O, mein Herr, ich habe voriges Jahr ihre Ansicht darüber gehört,« sagte Magdalene, der bei dieser grausamen Erinnerung die Thränen in die Augen traten.

»Im vorigen Jahr, mein Fräulein, mag sie Ihnen etwas hart erschienen sein, aber ihre sehr beschränkten Verhältnisse erlaubten ihr nicht, auf die Stimme ihres Herzens zu hören. Seitdem hat sie eine kleine Erbschaft gemacht, und es ist ihr ein angenehmes Gefühl, Ihnen eine Heimat anbieten zu können. Dort werden Sie Verwandte finden, die Ihnen mit Liebe entgegenkommen, bei denen Sie zur gewohnten Lebensweise zurückkehren. Sie werden Gelegenheit haben, Ihre jüngeren Cousinen zu unterrichten, und doch werden Sie auf völlig gleichem Fuß mit der Familie stehen, was entschieden seine Vorzüge hat.«

Magdalene konnte nicht antworten, sie ließ den Kopf tief sinken, um ihre Thränen zu verbergen.

»Seien Sie nicht so unglücklich, liebes Kind,« sagte Herr Daussier, den ihre bittere Täuschung wirklich rührte, »ich versichere Sie, Sie werden sich dort wohler fühlen, als in einer Lehrerinnenstelle. Denken Sie nur, Sie werden dort wie eine Tochter betrachtet werden, mit ihren Cousinen Gesellschaften besuchen und die Freuden der Jugend genießen – und wenn Sie in einigen Jahren durchaus fort wollen, so läßt sich dann viel leichter eine Stelle für Sie finden als jetzt. Es ist wirklich der einzige Weg, zu dem ich Ihnen raten kann, denn das Erbe, das Ihr Vater Ihnen hinterlassen hat, ist leider gleich Null. Nach Abzug aller Kosten hat der Verkauf des Mobiliars 6000 Franken ergeben, die Zinsen können bis zu Ihrer Großjährigkeit zum Kapital geschlagen werden, denn bei Frau Reichmann werden Sie nichts bedürfen. Sie brauchen nicht zu erröten, liebes Kind, denn Sie können das leicht durch den erteilten Unterricht ausgleichen. Frau Reichmann hat die Möbel, die Ihnen persönlich gehörten, gekauft, Sie werden sie in Ancenis wiederfinden. Und nun trocknen Sie Ihre Augen und kommen Sie mit, damit wir Frau Reichmann sagen, daß Sie ihr freundliches Anerbieten gern annehmen.«

Magdalene hatte wenig Lust dazu, doch fühlte sie, daß sie den Notar nicht länger aufhalten dürfe. Sie schluckte ihre Thränen herunter und suchte sich zu fassen; Herr Daussier drang vorläufig nicht weiter in sie, und so kehrten sie zur Gesellschaft zurück, wo Frau Reichmann das junge Mädchen ebenso liebevoll empfing, wie sie sich vorher gezeigt hatte.

Magdalene überlegte im stillen die Lage, in der sie sich befand: augenscheinlich durfte sie nicht frei über sich verfügen, der Familienrat hatte ihr die Entscheidung aus der Hand genommen. Sie mußte sich freilich sagen, daß sie sich keiner Erzieherin in ihrem Alter erinnern könne, die meisten waren viel älter; vielleicht würde vor Ablauf einiger Jahre niemand ihre Dienste begehren. So hatte sie also nur die Wahl zwischen dem Reichmannschen Hause und Schloß Doué. Aber konnte sie wirklich dorthin zurückkehren? Würden die alten Tregans es dulden, daß sie dort weiter lebte, und sollte sie schließlich nur eine Bäuerin sein und bleiben? Nein, dort war kein Platz für sie, das sah sie ein. Frau Reichmann schien gut und freundlich zu sein; es zwang sie ja niemand, sich einer armen Waise anzunehmen, sie wollte es aus freien Stücken thun. Nach Ablauf einer Viertelstunde fing sie an, teilnehmender auf die Reden der Dame einzugehen, den Schilderungen von Ida, Klara, Esther und den Zwillingen aufmerksamer zuzuhören, ja, es kam ihr sogar der Gedanke, daß diese Mädchen wohl passendere Gefährtinnen für sie sein würden als die Bäuerin Anna Tregan. Frau Reichmann fühlte, daß der Wind sich nun zu drehen begann, und verdoppelte ihre Herzlichkeit.

»Wollen Sie uns nicht einmal in Ancenis besuchen, mein süßes Kind?« fragte sie. »Meine Kinder haben so viel von Ihnen gehört, daß sie sehnlich wünschen, Sie kennen zu lernen. Das Jahr auf dem Lande muß Ihnen doch lang geworden sein, und ein Mädchen wie Sie kann nicht dauernd unter Bauern bleiben, sondern muß eine Sehnsucht nach dem civilisierten Leben empfinden. Ich weiß, wie mutig Sie sind und wie tapfer Sie sich in den Kampf des Lebens stürzen wollten, aber in Ihrem Alter ist Ihr Platz doch noch im Schutz einer befreundeten Familie. In einigen Jahren vielleicht – aber in der Zeit kann sich auch manches ereignen. Nehmen Sie Ida, meine Älteste; sie könnte jetzt eine Baronin sein, denn der junge Baron F. hatte sich gegen den Vetter eines unsrer Bekannten dahin ausgesprochen, daß er wohl geneigt wäre, ernstlich an sie zu denken. Aber Ida wollte mich nicht verlassen, denn ich war leidend und konnte sie schwer entbehren. Doch was einmal geschehen ist, kann sich auch wieder ereignen. Sie dürfen nicht im mindesten fürchten, uns eine Last zu sein, mein Liebling, nein, schlagen Sie sich solche Gedanken aus dem Sinne! Ein junges Mädchen kostet nicht viel, und es giebt unzählige Gelegenheiten, sich nützlich zu machen. Die Ausbildung der Zwillinge ist noch nicht sehr weit vorgeschritten, die der anderen Mädchen zeigt noch manche Lücken – Sie könnten ihnen einige Stunden geben, mit ihnen studieren und sie dazu anregen, – zum Dank lehrt Ida Sie dann ihre Kochkünste, Esther unterweist Sie im Plätten, Klara weiht Sie in die Geheimnisse der Schneiderei ein, die Zwillinge machen Ihre Besorgungen – es wird ein immerwährender Austausch von Freundlichkeiten, ein Wetteifer in gegenseitigen Dienstleistungen sein! Ist das nicht eine hübsche Aussicht? Ich brenne ordentlich darauf, Sie heute schon mitzunehmen und meinen Kindern diese reizende Überraschung zu bereiten. Geben Sie mir Ihre Hand, nicht wahr, das ist abgemacht?«

Ja, es war abgemacht, und der abendliche Schnellzug führte Frau Reichmann und Magdalene nach Ancenis, während der Hauptmann ganz allein in das Gasthaus zurückkehrte, wo er so laute Seufzer ausstieß und so traurig umherging, daß er nicht einmal Zeit hatte, an seine Pfeife zu denken.

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